Europäische Asylpolitik nach Tampere

von Karl Kopp
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Die Europäische Union (EU) befindet sich in einer bedeutsamen Übergangsphase. Am 1. Mai 1999 trat der Amsterdamer Vertrag in Kraft. Bis zum Jahr 2004 sollen zentrale Bereiche der Asyl- und Migrationspolitik Gemeinschaftsrecht werden, bindend für alle EU-Mitgliedsstaaten. Die begrüßenswerte Tatsache, dass sich die Union auf dem Weg zu einem gemeinsamen Asylrecht befindet, beantwortet aber nicht die Frage, ob der Flüchtlingsschutz auf der Strecke bleibt.

Das Prinzip der Einstimmigkeit im Rat der EU bei den Beschlüssen zu asylpolitischen Maßnahmen und die geringen Einflussmöglichkeiten des Europaparlaments lassen befürchten, dass Mindestnormen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner verabschiedet werden.

Auch im Zeitplan der Harmonisierung liegen Gefahren für den künftigen Flüchtlingsschutz. Das Fundament eines gemeinsamen Asylrechts, nämlich eine gemeinsame Definition des Flüchtlingsbegriffs in der EU, wird erst am Ende des "Vergemeinschaftungsprozesses" gelegt. Die stark divergierenden Anerkennungspraktiken in den einzelnen Mitgliedsstaaten machen die Zufälligkeit des jeweiligen Asyllandes zu einer Art "Schutzlotterie für Flüchtlinge".

Die größte Gefahr für den Flüchtlingsschutz bleibt jedoch die fehlende Zugangsmöglichkeit zu einem Asylverfahren in der EU. Die Union schottet sich rigide ab und verlagert immer mehr die Flüchtlingsaufnahme auf die Assoziierungsstaaten, auf Transitstaaten oder gar in die Herkunftsregionen. "Heimatnahe Unterbringung" nennt dies Innenminister Schily und umschreibt damit den zentralen Politikansatz der EU-Mitgliedsstaaten: Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme.

Die Union steht am Scheideweg: Offenes Europa oder Festhalten am Konzept Abschottungsgemeinschaft.

Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Tampere ist geprägt von deutlichen Bekenntnissen zur Offenheit und Transparenz in der Europäischen Union, zu den Menschenrechten und dem Asylrecht.

In der Praxis jedoch erweist sich die Europäische Union weiterhin als Abschottungsgemeinschaft gegenüber Flüchtlingen. Sichtbarer Ausdruck sind sogenannte Aktionspläne der EU zu verschiedenen Herkunftsländern (Irak, Afghanistan, Marokko, Somalia, Sri Lanka und Albanien/Kosovo).
Diese Aktionspläne sollen Ausdruck einer künftig größeren Kohärenz der Innen- und Außenpolitik der Union sein. Im konkreten Umsetzungsteil ist allerdings der altbekannte Ansatz weiterhin prägend: Kein Wort darüber, wie ein Schutzsuchender Aufnahme in der EU findet - es geht um Fluchtverhinderung, Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme, Abschottung und die Suche nach neuen Abschiebewegen.

Der in Tampere formulierte Anspruch, eine "offene Union" zu realisieren, käme einer grundsätzlichen Neuorientierung gleich: Eine Abkehr von dem Konzept der Abschottung und Abschreckung, einen weitgehenden Abbau der Festungsanlage gegenüber Flucht- und Migrationsbewegungen.

Flüchtlingsschutz ist nicht quotierbar: Flucht und Einwanderung müssen voneinander unterschieden werden

Die Union benötigt Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten im großen Umfang. Die aktuelle Einwanderungsdebatte orientiert sich überwiegend an den jeweiligen demographischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten innerhalb der Union. Demgegenüber steht im Zentrum der Flüchtlingsrechts die Schutzgewährung für Verfolgte. Der vom Völkerrecht gebotene Schutz für Flüchtlinge kann nicht quotiert werden. Flüchtlingsschutz ist integraler Bestandteil des allgemeinen Menschenrechtsschutzes und keine beliebige Variable einer Politik der Kosten-Nutzen-Abwägung. Menschenrechte sind klar definierte und juristisch durchsetzbare Ansprüche, die dem Einzelnen ein Recht auf Leben in menschlicher Würde garantieren.

Das Asylrecht muß in einer künftigen Grundrechtecharta der EU garantiert werden

Innerhalb der EU sind der individuelle Rechtsschutz und die parlamentarische Kontrolle in einigen Bereichen nur unzureichend ausgebildet, vor allem in der dritten Säule der polizeilichen Zusammenarbeit, aber auch z.B. in der Asyl- und Migrationspolitik. Grundrechte müssen aber in allen Säulen der Gemeinschaftsverträge gültig und einklagbar sein. Die künftige Charta der Grundrechte muss durch die Aufnahme in den EU-Vertrag volle Rechtsverbindlichkeit erhalten. In ihr ist das Asylrecht zu garantieren. Die Frage, inwieweit innerhalb der EU ein rechtsstaatlich einklagbares Asylrecht existiert, ist für den Schutz von Flüchtlingen von existentieller Bedeutung.

Bei der Umsetzung des asylpolitischen Arbeitsprogramms des Amsterdamer Vertrages sind Mindestanforderungen zu realisieren, die einen effektiven Flüchtlingsschutz gewährleisten.

In Tampere haben sich die Staats- und Regierungschefs dazu bekannt, dem künftigen gemeinsamen europäischen Asylrecht die Genfer Flüchtlingskonvention "uneingeschränkt und allumfassend" zu Grunde zu legen.

Um auf dieser Grundlage ein hohes Schutzniveau zu erreichen, sind u.a. folgende Mindestanforderungen an ein künftiges gemeinsames Asylrecht zu realisieren:
 

Eine einheitliche Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention muss Ausgangs- und nicht Endpunkt einer Harmonisierungspolitik sein. Momentan wird einem großen Teil der de facto-Flüchtlinge in der EU der ihnen zustehende Flüchtlingsschutz nach der GFK vorenthalten. Die Anwendung der GFK in der Union muss allen Formen und Urhebern von Verfolgung Rechnung tragen.

Das Instrument des "vorübergehenden Schutzes" - ursprünglich für Massenfluchtsituationen gedacht - wurde in der Vergangenheit zur Umgehung der GFK missbraucht. Es hat sich künftig zu beschränken auf die Kriegs- und Notsituationen, in denen kurzfristig ein individuelles Asylprüfungsverfahren nicht möglich ist. Grundvoraussetzung ist die Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen und - für spontan Fliehende - eine Einreise in die EU ohne Visumsbeschränkungen, Drittstaatenregelungen und Abschottungsmaßnahmen an der Grenze. Den Flüchtlingen sind Rechte in Anlehnung an die GFK zu gewähren. Der Weg in ein Asylverfahren muss Flüchtlingen jederzeit offen stehen.

Eine das Dubliner Übereinkommen ersetzende Vereinbarung muss so gestaltet werden, dass die Überprüfung eines Asylantrages innerhalb der Europäischen Union tatsächlich garantiert wird. Die Europäische Union sollte die Zurückweisung von Asylsuchenden in "sichere Drittstaaten" aussetzen.

Eine Verantwortungsteilung zwischen den europäischen Staaten darf nicht durch eine bürokratische Zuweisung und Umverteilung erfolgen, sondern muss die individuellen Interessen und insbesondere familiären Belange der Schutzsuchenden berücksichtigen. Es ist sinnvoller, humanitärer und weniger aufwendig, einen Finanzausgleich auf EU-Ebene zu entwickeln, statt Flüchtlinge zu verteilen.

Ein gemeinsames europäisches Asylrecht muss die individuelle Überprüfung eines Asylbegehrens mit Rechtswegegarantie gewährleisten. Es dürfen keine Ausschlussklauseln für bestimmte Personengruppen festgelegt werden.

Internationaler Schutz umfasst nicht nur die Sicherheit, sondern auch eine menschenwürdige soziale Ausgestaltung. Sondergesetze für Asylsuchende, die stigmatisierenden und diskriminierenden Charakter haben, verstoßen gegen die Menschenwürde und müssen bei den künftigen EU-Mindestnormen explizit ausgeschlossen werden.

Der Erhalt des Grundrechts auf Asyl und die Rechtswegegarantie sind die beste Gewähr, dass die Bundesrepublik ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird.

Das Asylgrundrecht und die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie (Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz) haben die Funktion sicherzustellen, dass die von der Bundesrepublik Deutschland zu behandelnden Asylbegehren in einem effektiven, rechtsstaatlichen und fairen Verfahren geprüft werden. Dies steht einer europäischen Harmonisierung des Verfahrensrechts nicht im Wege.
 

Dringender Handlungsbedarf besteht für die Bundesrepublik bezüglich der restriktiven Auslegung der GFK und der EMRK. Die bestehende Schutzlücke ist zu schließen und damit eine Rückkehr zu internationalen Schutzstandards einzuleiten.

Die Bundesrepublik wird mit ihrem eng gefassten Flüchtlingsbegriff den völkerrechtlichen Vorgaben und Verpflichtungen nicht gerecht. Sie steht mittlerweile im Widerspruch zur Auslegung der GFK in der Mehrzahl der EU-Staaten.

Auch bei der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) isoliert sich die Bundesrepublik. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht in bewusstem Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wie beim Asylrecht wird verlangt, dass die Gefahr von funktionstüchtigen staatlichen Organen ausgeht.

Der Anspruch der EU, eine Wertegemeinschaft zu sein, die den Menschenrechten und auch der "absoluten Beachtung des Asylrechts" verplichtet ist, wird sich jedoch erst dann lösen, wenn die künftige Union die "Tyrannei des Nationalen" (Gerard Noiriel) überwindet und nicht einfach durch eine des "Supra-Nationalen" ersetzt.

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