Über 100.000 Menschen fordern in Rom einen sofortigen Waffenstillstand und den Beginn internationaler Friedensverhandlungen für die Ukraine

Europe for Peace

von Martin Köhler

„Unser Schrei nach Frieden ist stärker als der Lärm der Bomben, und er wird noch stärker werden, wenn er auf anderen Plätzen Europas weitergetragen wird” (Gianfranco Pagliarulo, Präsident ANPI, Associazione Nazionale Partigiani d’Italia)

Die Atmosphäre an dem Versammlungsort Piazza Repubblica an diesem römischen Herbsttag, dem 5. November 2022, ist eine des Staunens: über die Menge an Menschen, die sich der Kriegslogik von Medien und Politik entziehen. Und eine der Freude: wie erleichternd es ist, nach acht Monaten dieses Krieges endlich wieder die eigene Stimme laut und öffentlich zu vernehmen und mit vielen anderen zu teilen.

Der von über 600 Organisationen unterstützte Aufruf der Plattform „Europe for Peace” fordert einen sofortigen Waffenstillstand, um eine internationale Friedenskonferenz unter der Schirmherrschaft der UN zu ermöglichen, sowie die Ächtung aller Atomwaffen, um der Perspektive einer nuklearen Ausweitung des Ukrainekrieges wirksam entgegenzutreten (1). Unter den Redebeiträgen sind auch eine Grußbotschaft von der Gewaltfreien Bewegung der Ukraine und die Rede eines nach Litauen geflüchteten russischen Kriegsdienstverweigerers. In vielen Beiträgen wird die Nähe zu allen Opfern dieses Krieges betont, die Unterstützung des ukrainischen Volkes und der vielen ukrainischen Flüchtlinge. Oft hört man den Satz „die Antithese zum Krieg ist die Sorge”, ein Anklang an neue Formen der Solidarität, die mit der Covid-Pandemie entstanden sind. Der Erfolg der heutigen Friedensdemonstration in Rom soll – so klingt es in vielen Redebeiträgen an – zu ähnlichen Initiativen in anderen europäischen Hauptstädten ermuntern, um der Zivilgesellschaft endlich zu einer kraftvollen Stimme zur Beendigung dieses Krieges zu verhelfen: In der Tat, wir brauchen endlich ein Europe for Peace (2).

Diesem Tag vorausgegangen sind Monate der geduldigen Koalitionsarbeit vieler Akteure, die eine Breite erzeugt hat, wie sie zuletzt in den 1980er Jahren der Bewegung gegen atomare Mittelstreckenraketen und in den Nuller-Jahren des Protests gegen den Krieg im Irak zustande kam. Zentral dabei war die Verständigung der traditionellen Friedensorganisationen mit den katholischen Basisgruppen und den Gewerkschaften. Diese neue Form der Koalitionsarbeit, mit der alte Dogmen und politische Schismen überwunden wurden, hat neue Protagonist*innen geschaffen. Niemand hat hier wohl erwartet, dass das wichtigste Sprachrohr in der politischen Mobilisierung für diese Demonstration ausgerechnet die konservative katholische Tageszeitung “Avvenire” würde. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass eine gewerkschaftliche Initiative auf der kleinen sizilianischen Insel Pantelleria das Streaming der Abschlusskundgebung organisieren würde, weil die dortigen lokalen Gruppen es zeitlich nicht geschafft hätten, nach Rom zu kommen.

Diese neue Zusammenarbeit auf der Basis einer gemeinsamen inhaltlichen Plattform ist über eine lange Zeit in lokalen Aktionen getestet worden. Am 23. Juli fanden dezentrale Aktionen in über 30 Städten in Italien statt, mit zumeist spärlicher Beteiligung und entsprechend ohne öffentliche Resonanz. Das hat die Akteur*innen nicht entmutigt. Am Wochenende des 23. Oktober - der 23ste stand jeweils für den Tag des Beginns der russischen Invasion der Ukraine - waren es bereits über 30.000 Beteiligte in über 100 lokalen Initiativen. Doch es blieb ohne größere öffentliche Resonanz, auch weil vielen noch der Mut fehlte. Ich selbst war an diesem Tag auf einer Fackel-Andacht in einer Ecke des römischen Rathausplatzes Campidoglio, wo sich 300 Menschen so versammelten, als ob sie nicht von allzu vielen Passanten gesehen werden wollten.

Diese Scheu hat sich über die immer unverhaltener geäußerte Bereitschaft aller Kriegsbeteiligten, den Einsatz von Nuklearwaffen in Kauf zu nehmen, geändert. Es wird damit an einem Tabu gerührt, das die Mehrheit der Menschen - zum Glück - immer noch bewegt. Die Friedenskoalition ergänzte die Aktions-Plattform um die Ächtung und das Verbot aller Atomwaffen.

Auf der Demonstration waren parteipolitische Fahnen nicht erlaubt. Die Organisatoren beharrten erfolgreich auf ihrer Forderung, dass die Demo nicht der Ort sein dürfe, an dem nach der Wahl der Mitte-Rechts-Regierung von Giorgia Meloni nationale politische Fehden beglichen würden. In der Tat beteiligten sich die Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partito Democratico (Letta) und der 5-Sterne-Bewegung (Conte) als Privatpersonen.

Interessant jedoch, wie das politische Establishment auf die Demo reagierte. Der Vorsitzende des neuen “Terzo Polo”, Carlo Calenda, organisierte in Hast eine alternative „Friedensdemo” in Mailand, auf der er vor etwa tausend Teilnehmenden den „Frieden als den Erfolg des ukrainischen Widerstandes gegen die russischen Invasoren” definierte und der Demo in Rom Scheinheiligkeit vorwarf. In den abendlichen Tagesschauen der öffentlichen Sendeanstalten wurde daraus: zwei Friedensdemos mit einigen zig-tausend Teilnehmenden jeweils und mit verschiedenen Friedensideen, „der Krieg des Friedens auf den öffentlichen Plätzen Italiens”. 

Die beste Antwort auf diese politischen Unverschämtheiten sind ähnlich große Demonstrationen auch in anderen europäischen Hauptstädten. Daran zu arbeiten sollte nach dem Erfolg der Friedensbewegung in Italien nun einfacher geworden sein.

Anmerkungen
1 Aufruf auf Deutsch unter  https://sbilanciamoci.info/nationale-friedens-demonstration-in-rom-am-5-...
2 Siehe Mitschnitt der Redebeiträge und Eindrücke der Demonstration unter www.collettiva.it oder https://www.youtube.com/watch?v=WphX-mqT2z8&t=10s

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Rubrik

Friedensbewegung international
Martin Köhler ist Ko-Autor des Buches “I Pacifisti e l’Ucraina, Le alternative alla guerra in Europa”, erschienen im März 2022 in der Reihe “sbilibri” der italienischen NRO “Sbilanciamoci”, und aktiv in deren internationaler Friedensarbeit.