Staatszerfall

Failed State Irak

von Karl Grobe

Als Haider al-Abadi im September 2014 endlich eine Regierung gebildet hatte, war nichts gewonnen in Bagdad. Seit der April-Wahl war ein halbes Jahr vergangen. Abadis Vorgänger, Nuri al-Maliki, hatte sich übermäßig lange ans Amt des irakischen Ministerpräsidenten geklammert. Die Trümmer aufzuräumen, die seine Amtsführung verursacht hatte, kam ihm anscheinend nicht in den Sinn. Es kamen vielmehr weitere dazu.

Drei Monate nach der Wahl eroberte der „Islamische Staat in Irak und Syrien“ (IS) die drittgrößte Stadt des Landes – Mossul – und die Erdölfelder ringsum. Kurz darauf hatte der IS die Stadt Falluja unter Kontrolle, nur ein paar zivile Autostunden nordwestlich der Hauptstadt; und gleichzeitig konnte die Maliki-Regierung die Provinz Anbar auf die Verlustliste setzen (siehe FF 4/014).

Alter Wein in alten Schläuchen
Von Abadis Kabinett ist grundlegender Wandel nicht zu erwarten. Die – ursächlich auf die erste Phase der US-Besatzung zurückgehende, unter Maliki vertiefte – konfessionelle Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten ist kaum überbrückbar. Sogar Maliki, der sich den Rang als Lieblingsfeind des sunnitischen Establishments redlich verdient hat, gehört der engeren Führung weiter an, und zwar als einer der drei Vizepräsidenten. Der sunnitische Vizepräsident Usama Nujeifi kann sich auf die Massenbasis der „Einheit-für-die-Reform-Koalition“ (Mutahidun) stützen, die stärkste der fünf nennenswerten sunnitischen Parteien, die genau 5,2% der Wähler vertritt. Der Sunnit Saleh Mutlak bleibt Vizepremier. Beide haben genau so wenig tatsächliche politische Macht wie Ijad Allawi, der dritte der Vizepräsidenten, der als säkularer Schiit gilt und in seinem früheren Leben sowohl Baath-Mitglied (bis 1976) als auch CIA-Informant und schließlich (2004) Regierungschef war. Die so formierte Obrigkeit wird die Aufgabe nicht lösen, welche die US-Besatzungsmacht ihren Vorgängern auf den Tisch gelegt hat: Demokratie, (nationale) Einheit und (wirtschaftlichen) Fortschritt zu schaffen.

Nicht nur die konfessionelle Spaltung steht dem entgegen. Seit die kurdische Regionalverwaltung vor zwei Jahren dem Erdöl-Multi Exxon Erschließungs- und Förderrechte einräumte und erst recht nach der faktischen Übernahme der Lagerstätten um Kirkuk haben sich die Beziehungen zwischen Bagdad und Irbil durchweg verschlechtert. Die kurdische Autonomie hat unübersehbare Züge von Staatlichkeit angenommen. Sichtbar ist das, seit Peshmerga in den Kampf um Kobane eingegriffen haben, bei dem es im Grunde um die Zukunft Rojavas (Westkurdistans) geht. Dort suchen kurdische, arabische und syrisch-assyrische Parteien, einen quasi-staatlichen gesellschaftlichen Organismus gemeinsam aufzubauen. Mit der PYD, die mit guten Gründen als ein Ableger der PKK angesehen wird, ist dort im äußersten Norden Syriens eine Partei zum Verbündeten gegen den IS geworden; diesem Partner zustimmen zu müssen, missfällt nicht nur der türkischen Regierung, sondern aus verwandten Gründen ebenso der US-Regierung. Selbstständiges – von Bagdad nicht mehr kontrollierbares – politisches Handeln geht direkt gegen die Interessen der konfessionell nach wie vor stur schiitischen irakischen Regierung. Selbst wenn es sich in Rojava um eine Region außerhalb der Landesgrenzen handelt: Die Peshmerga stellen eine neue Einheit her, welche die kolonialistischen Grenzen des Sykes-Picot-Abkommens von 1916 überwindet und damit die darauf beruhenden staatlichen Strukturen Iraks, Syriens und vielleicht einiger Nachbarstaaten aufhebt.

Nachbarschafts“hilfe“
Daran arbeiten, möglicherweise ohne es genau zu verstehen, die großen Petrofeudalisten Katar und Saudi-Arabien, und zwar in Konkurrenz zueinander. Ihre Finanzhilfen, teils für den IS, teils für Qaeda-Nachfolger wie die Nusra-Front, und die aktive Unterstützung durch Waffen und Militante hebelt die Grenzen von 1916 / 1922 und die daraus entstandenen Staatsformen ebenso wirksam aus – wenn nicht wirksamer – wie die Zerlegung Iraks in ein Konglomerat religions-sektiererischer Kleingebilde und Stammesgruppen. Dieser Prozess hat im letzten Herrschaftsjahrzehnt Saddam Husseins begonnen, als er sich mehr und mehr auf Stammesloyalitäten verließ. Die sozial und kulturell strukturierte irakische Gesellschaft wurde atomisiert. Doch die religiös tolerante, säkulare oder doch indifferente Zivilgesellschaft bestand bis dahin selbst unter der Diktatur mindestens in den großen Städten weiter, überwacht und verfolgt von den vielen Geheimdiensten. Differenzen, die sich bis zur terrorisierenden Aktivität des IS und der unterschiedslosen Verfolgung angeblich konfessionell motivierter „Säuberungen“ im „sunnitischen Dreieck“ aufschaukelten, sind in dieser Zuspitzung Kriegs- und Besatzungsfolgen. In den achtzig Jahren seit der Staatsgründung 1921 jedoch „war Koexistenz in Irak der Normalfall“ – Koexistenz der Bekenntnisse und Religionen –, äußerte Fanar Haddad, eine anerkannte Autorität in dieser Frage, kürzlich in einem Interview. Der Konfessionalismus sei keineswegs tief verwurzelt, eine „alte Hass-Grenze“ gebe es schlicht nicht. Folglich ist sie neu – und umso virulenter.

Wirtschaftlicher Wiederaufbau: Weitgehend Fehlanzeige
Irak ist in Folge der Kriege nicht nur wirtschaftlich vom Niveau eines einigermaßen erfolgreichen Schwellenlandes auf das eines der ärmsten Länder zurückgefallen. Die Infrastruktur leidet noch nach zehn Jahren unter den zerstörerischen Folgen dieser Kriege: 1980-88 auf Saddam Husseins Geheiß gegen Iran, 1991 nach der Annexion Kuwaits unter UN-Mandat, 2003 nach der Invasion der „Koalition der Willigen“ unter US-Verantwortung, ohne völkerrechtliche Grundlage. Diese hat übrigens dem Regime der Sanktionen vor 2003 auch weitgehend gefehlt. Die Zerstörung der Infrastruktur (Straßen, Elektrizität, Wasserversorgung, medizinische Versorgung) und das Fehlen wirklich ernsthafter, nicht von Korruption zerfressener Reparatur- und Wiederaufbaumaßnahmen hat zur Spaltung zwischen Regime und Gesellschaft sicher ebenso beigetragen wie die Konfessionalisierung der „Politik“ durch die Besatzung und ihre Vollstrecker.

Die Hindernisse, die einer Wiederherstellung der staatlichen und kulturellen Einheit Iraks als Staat mit nicht nur auf Rohöl-Export, sondern auch auf entwickelter Industrie und Wissenschaft beruhender Ordnung entgegenstehen, sind damit unvollständig umrissen. Eine zielgerichtete Aufbaupolitik kann sie eventuell beseitigen, wenigstens umgehen. Die Zerstörungen, die ethnische Säuberungen angerichtet haben, sind schwerer zu reparieren. Nach dem Sturz der eher weltlichen Baath-Diktatur war für die verschiedenen christlichen Minderheiten – assyrische, chaldäische, syrisch-orthodoxe und andere Sekten mit sehr alter Geschichte – kein Platz mehr im von der Besatzung und den konfessionell definierten Parteien definierten neuen Machtsystem. Die ethnische Säuberung setzt sich fort in der Vertreibung der Jesiden nicht durch das Bagdader, sondern durch das IS-Regime. Schwerer wiegt indes der Verlust des intellektuellen Mittelstands.

Seit der Etablierung der Baath-Diktatur vor mehr als vier Jahrzehnten haben Hunderttausende gut ausgebildeter Fachkräfte Irak verlassen, teils wegen unmittelbarer Verfolgung, teils wegen mittelbaren Drucks, immer wegen der Unmöglichkeit, eine Perspektive im Lande zu sehen. Nur wenige dieser EmigrantInnen sind zurückgekehrt.

Andere hatten sich arrangiert. Das Hussein-Regime hatte seinerseits eine weitgehend loyale neue Schicht von intellektuellen Kadern herangezogen, die in der Entwicklung des Staates zu einem Schwellenland mit hervorragendem Bildungssystem, medizinischer Versorgung, funktionierenden technischen Einrichtungen, ausgedehnten Verkehrswegen und Energienetzen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Es gehört zu den größten Fehlern der Besatzungsmacht unmittelbar nach der Invasion 2003, diese Kader pauschal als Baath-Anhänger, also Saddam-Anhänger, aus ihren Funktionen und Ämtern zu verdrängen. Sie sind bis jetzt nicht zu ersetzen. Das gilt nicht nur für das technische, wissenschaftliche und beispielsweise das medizinische Personal, sondern auch für die Verwaltung. Der Mangel an Fachkräften, die mit den Gegebenheiten vertraut waren, verschärft noch die Folgen der beiden Kriege von 1991 und 2003 und der dazwischen liegenden Sanktionen. Es ist kaum übertrieben, eine gründliche Zerstörung der irakischen Zivilisation zu diagnostizieren.

Die Wiederaufbauleistungen aus dem Jahrzehnt nach dem Sturz der Diktatur sind nicht zu übersehen. Doch die Konfessionalisierung der neuen Ordnung, die Ausblutung der technisch-wissenschaftlichen Elite und verbreitete Korruption (die es allerdings auch vor 2003 gegeben hat) erschweren die von der Besatzung hinterlassene Aufgabe: Nation building. Abgesehen von den erkennbaren territorialen Veränderungen – die verstärkte Eigenständigkeit der kurdischen Autonomieregion, die möglichen Verluste an den IS und sein „Kalifat“ – wirken auch innergesellschaftliche Kräfte in dem Territorium, das der Bagdader Zentralregierung zweifelsfrei untersteht, eher gegen die staatliche Einheit als für sie.

Der irakische Soziologe Ali al-Wardi hat vor Jahrzehnten erkannt, dass in Perioden des staatlichen Zerfalls die Bindungen der Beduinen an Clan und Stamm (in dieser Reihenfolge) erstarken – und dass die urbanisierte Bevölkerung diesem traditionellen Verhalten durchaus folgen kann. Von der Zerstörung des multikulturellen, von einer säkularisierten Zivilgesellschaft geprägten Bagdad und anderen großen Städte konnte er noch nichts wissen. Die Atomisierung der Gesellschaft unter der Baath-Herrschaft mag er erahnt haben; die Zivilgesellschaft hatte sich notwendigerweise auf zahllose „Nischen“ verteilt, einen Zusammenhang gerade gegen die Baath-Diktatur und deren geheimdienstliche Kontroll- und Unterdrückungsinstrumente nie mehr entwickeln können. Aus den „Nischen“ wurden infolge der gewollten Konfessionalisierung separierte Bezirke; Bagdad besteht derzeit nicht als einheitliche Stadt, sondern als Konglomerat teils sogar ummauerter Gettos. Die Prognosen für den Erhalt des irakischen Staates sind zurzeit äußerst ungünstig. Viel mehr deutet auf Zerfall, den Zustand des failed state.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.