80 Jahre Zweiter Weltkrieg

„Fallt den Kriegstreibern in die Arme!“

von Karlheinz Lipp
Hintergrund
Hintergrund

Am 4. September 1939 richtete Fritz von Unruh einen Appell an die deutschen Soldaten. Fritz von Unruh (1885-1970) wandelte sich vom Berufsmilitär und Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkrieges zum überzeugten Pazifisten. Maßgeblich trugen dazu eine Verwundung im Krieg sowie die Berliner Januarkämpfe 1919 bei.

In der Weimarer Republik zählte Unruh zu den erfolgreichen Autoren, er erhielt Literaturpreise, und seine Stücke wurden auf den Bühnen inszeniert. Der engagierte Pazifist lehnte Gewalt und Krieg ab und trat für die Aussöhnung mit Frankreich ein. Im Jahre 1926 gehörte er zu den Unterzeichnern eines internationalen Manifests gegen die allgemeine Wehrpflicht.

Bereits Ende der Weimarer Republik bekam Unruh den Hass von Rechtsradikalen deutlich zu spüren. Im Januar 1932 hielt der Pazifist im Berliner Sportpalast seine letzte öffentliche Rede gegen Hitler. Im Mai störten Nationalsozialisten die Aufführung eines Stückes von Unruh im Schauspielhaus Frankfurt am Main – und im gleichen Jahr verließ Unruh Deutschland in Richtung Frankreich. Bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 vernichtete der NS-Staat auch seine Werke. Ab 1938 gehörte Unruh zu den Mitarbeitern der Zeitung Die Zukunft, die von Willi Münzenberg in Paris gegründet worden war. Im folgenden Jahr trat Unruh der Union Franco-Allemande bei.

Am 4. September 1939 veröffentlichte er in der Exilzeitung seine entschiedene Stellungnahme gegen den soeben durch den Überfall auf Polen begonnenen Zweiten Weltkrieg. (Die Rechtschreibung folgt dem Original. Hervorhebungen bleiben unberücksichtigt.)
„Kameraden! Ihr kennt mich. Manche von Euch haben meine Bücher gelesen, viele mich in Versammlungen reden gehört. Ihr wißt, daß ich 1914 freiwillig eingerückt bin. Das tue ich heute nicht.

Diesen Krieg verdamme ich. Der Hitlerkrieg wurde von einer Handvoll politischer Abenteurer in Berlin entfesselt. Dieser Krieg wird gegen unser Volk geführt. Der Krieg soll den Zusammenbruch eines Systems verschleiern, das Millionen Deutsche hassen und verfluchen, das moralisch, wirtschaftlich und sozial zugrunde gewirtschaftet ist.“
Unruh kritisiert auch grundsätzlich den NS-Staat.

„Hitler ist gescheitert! Er hatte die Wahl, offen und ehrlich den Bankrott einzugestehen oder Deutschland in einen Krieg zu führen. Der landfremde Zugereißte hat den Krieg gewählt.

Dem landfremden Hitler gilt das deutsche Volk nichts, seine persönliche Macht aber alles! Alte und junge Kameraden! Trennt Euch von einem System, das über uns nur Unheil brachte und jetzt droht, Deutschland mit in seinen Untergang zu reißen.

Kameraden! Das Hitlersystem ist nicht die Knochen eines einzigen deutschen Soldaten wert. Denkt an alle Leiden und Schrecken seit 1933, gedenkt der Verfolgten, Eingekerkerten, Erschlagenen und heimlich Ermordeten.“

Der Pazifist schließt mit einem Appell zum aktiven Widerstand. Mit dem letzten Satz seiner Erklärung knüpft Fritz von Unruh gezielt an die antimilitaristische Stellungnahme Karl Liebknechts im Ersten Weltkrieg an.

„Die Stunde der Abrechnung ist gekommen! Sagt euch los von den Brandstiftern und Tyrannen. Fallt den Kriegstreibern in die Arme. Bekennt Euch zu unserem Volke und zu Deutschland. Verbrüdert Euch mit denen, die wir für die Freiheit kämpfen. Kameraden erkennt: Der Feind steht nicht am Rhein, der Feind sitzt in Berlin.“

Dieser Aufruf, der sich dezidiert an die Soldaten der Wehrmacht richtete, wurde als Flugblatt (Auflage: mehr als 100.000) zwischen dem 22. April und dem 9. Mai 1940 in Frankreich hinter den deutschen Linien abgeworfen. Bereits am 29. Juli 1939 richtete die französische Regierung ein Informationsbüro ein, das sowohl die eigene Bevölkerung als auch das nationalsozialistische Deutschland beeinflussen sollte. Mit ihren Flugblättern konnte die französische Regierung mit geringen Kosten eine große Zahl Deutscher erreichen. Inwieweit diese dadurch zumindest nachdenklich oder aktiv gegen den Zweiten Weltkrieg und den NS-Staat wurden, muss offen bleiben.

Mit seiner späteren Frau Friederike Ergas (Heirat 1940) flüchtete Fritz von Unruh 1939 von Frankreich über Spanien in die USA. Nach 1945 kritisierte der ehemalige Soldat vehement die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik.

Literatur:
Kirchner, K.: Flugblatt-Propaganda im Zweiten Weltkrieg. Flugblätter aus Frankreich 1939/40. Erlangen 1981
Schulz, K.: Fast ein Revolutionär. Fritz von Unruh zwischen Exil und Remigration (1932-1962). München 1995

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Hintergrund
Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung und Verfasser des Buches: Der Friedenssonntag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Lesebuch. Nordhausen 2014