Interview mit Matthias Jochheim

Free Gaza

von Redaktion FriedensForumChristine Schweitzer
Krisen und Kriege
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Der Gazastreifen ist seit 2007 durch Israel abgeriegelt und auch Ägypten hat seine Grenzen geschlossen. Die Blockade wird international verurteilt. Etwa 1,5 Millionen Menschen, davon ungefähr die Hälfte Kinder und Jugendliche, leben im Gazastreifen. Die meisten Menschen sind arbeitslos, mehr als 50% leben in provisorischen Siedlungen, ohne reguläre Erwerbsquelle. Das Embargo trifft besonders die Kinder und viele leiden unter Unterernährung.

663 Passagiere aus 37 Ländern machten sich in der zweiten Maihälfte mit sieben Schiffen – auf, um 5.000 Tonnen Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bringen. Die Aktion wurde organisiert durch ein Bündnis, das sich „Free Gaza“ nennt, und Mitglieder in verschiedenen Ländern hat (siehe www.freegaza.de). In Deutschland wird es von Pax Christi, der IPPNW und mehreren palästinensischen Exilorganisationen getragen. Free Gaza hatte bereits 2008 erfolgreich ein Schiff nach Gaza entsandt; ein weiteres wurde 2009 von Israel aufgebracht und beschlagnahmt.

Am frühen Morgen des 31. Mai wurden sechs der Schiffe auf offener See gewaltsam gestoppt. Auf dem türkischen Flaggschiff tötete die israelische Einsatztruppe bei der Enterung neun Aktivisten (acht Türken und einen US-Amerikaner), die sich anscheinend mit Holzstangen und ähnlichem gegen die Enterung zur Wehr gesetzt hatten.

Die fünfköpfige deutsche Delegation bei der Freedom-Flotilla reiste zunächst auf den Challenger-Booten I und II und setzte später nach technischen Problemen der kleineren Schiffe auf die Mavi Marmara über. Zur ihr gehörten mit Annette Groth und Inge Höger zwei Abgeordnete der Partei Die Linke, der Völkerrechtler Norman Paech, Nader el Saqa von der Palästinensischen Gemeinde Deutschland und der stellvertretende Vorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion Matthias Jochheim. Ihn haben wir zu der Aktion befragt. Dabei ging es uns auch darum, Fragen und Widersprüche aufzugreifen, die in der Berichterstattung – auch der bewegungsinternen – bis heute bestehen.

Red.: Was waren Eure Ziele, was wolltet Ihr erreichen?

MJ: Es ging darum, mit einer internationalen zivilgesellschaftlichen Aktion die illegale Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen, und dabei dringend benötigte Hilfsgüter und Baumaterialien nach Gaza zu bringen.

Red.: Wie bist Du dazu gekommen, Dich der Aktion anzuschließen?

MJ: In unserem Bündnis von Friedens- und Solidaritätsorganisationen, der deutschen „Koordination Palästina Israel“, waren wir uns einig, dass praktische Aktionen gegen die Blockade ein wichtiger Beitrag zu einem gerechten Frieden sein können. Unsere deutsche IPPNW hat daher, gemeinsam mit Pax Christi und der Palästinensischen Gemeinde Deutschland, aktiv und praktisch für eine deutsche Unterstützung der Aktion gearbeitet.  

Red.: Die deutsche Delegation war verhältnismäßig klein, und auch in der deutschen Friedensbewegung war die Aktion vor dem Auslaufen der Schiffe scheinbar weitgehend unbekannt. Teilst Du diese Einschätzung und wenn ja, wieso ist das so?

MJ: Das liegt vermutlich daran, dass die deutsche Friedensbewegung noch erhebliche Berührungsängste zum israelisch-palästinensischen Konflikt hat. Um so wichtiger, dass die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden“ unsere Aktion unterstützte und jetzt auch ein eigenes Boot nach Gaza vorbereitet.

Red.: In einer Mitteilung von Free Gaza vom Januar 2010 steht zu lesen, „dieses Mal schließen sich zwei türkische NGOs an“ – kanntest Du / kanntet Ihr diese NGOs? Wusstet Ihr, dass der IHH („Insani Hak ve Hürriyetler Vakfi,“ „Stiftung für Menschenrechte, Freiheiten und humanitäre Hilfe") Kontakte zu El Quaida nachgesagt werden?

MJ: Nein, diese nach meiner Kenntnis ziemlich haltlose Propaganda-Behauptung war mir bis dato nicht bekannt.

Red.: Habt Ihr Euch vorher auf die Möglichkeit vorbereitet, dass die Schiffe gestoppt würden? Wie?

MJ: Wir hatten ja vor, mit unserer Motoryacht am Schiffskonvoi teilzunehmen, dort war passiver Widerstand gegen eine Kaperung vorgesehen und besprochen. Auf der ungleich größeren Mavi Marmara nahm ich an einer Besprechung von Sanitätspersonal teil und erhielt auch eine Basis-Ausstattung für die Sanis.

Red.: Hatte es vorher ein Training in Gewaltfreiheit gegeben, teilten alle TeilnehmerInnen das Selbstverständnis, dass es eine gewaltfreie Aktion sein sollte?

MJ: Ich persönlich brauche kein Training, um mich gewaltfrei zu verhalten. Ich habe später einzelne Mitreisende gesehen, die Holzlatten bei sich hatten, was mir, offen gesagt, noch nicht als eine exzessive Bewaffnung erscheint.

Red.: Was geschah, als das Schiff gestoppt wurde, was hast Du erlebt?

MJ: Wie ja schon vielfältig berichtet, enterte noch bei nächtlichen Lichtverhältnissen israelisches Militär das oberste Deck des Schiffs, und setzte dabei scharfe Munition ein. Ich erlebte schwer verletzte Teilnehmer, dann auch getötete Menschen, die vom Deck hinunter in unseren Passagierbereich gebracht wurden. Die Angreifer waren offenbar von einem Hubschrauber abgesetzt worden.

Red.: Auf der Website von Free Gaza und in vielen Zeitungsartikeln berichten Augenzeugen von den verschiedenen Schiffen über die Gewalt, die vom israelischen Militär ausging –  gezielte Schüsse während der Enterung, Versagen von Erster Hilfe für die Verwundeten, und Menschen wurden anscheinend auf allen Schiffen und auch nach der Landung in Israel noch zusammengeschlagen und misshandelt. Weniger klar ist, wie die AktivistInnen sich verhalten haben. Was passierte auf der Mavi Marmara, und was auf den anderen fünf?

MJ: Dass verwundete oder gefangene Passagiere dann noch geschlagen und misshandelt wurden, habe ich nicht erlebt und hier in dieser Frage auch erstmals vernommen. Das Erlebnis war auch ohne das schon schlimm genug.

Die vorübergehend offenbar im ersten Handgemenge festgesetzten israelischen Soldaten wurden nach meiner Beobachtung nicht misshandelt, und dann natürlich mit Ende der Kaperungs-Aktion, die ja nur etwa eine halbe Stunde dauerte, ohnehin befreit.

Was auf dem Deck seitens der Passagiere der Mavi Marmara an Widerstand im Detail geschah, und erst recht, was auf den anderen Schiffen passierte, dazu kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen, da ich mich zu diesem Zeitpunkt unter Deck aufhielt. Gesehen habe ich allerdings, dass mehrere Menschen im Verlauf einer illegalen Schiffskaperung offensichtlich durch Schüsse getötet wurden, ohne ihrerseits mit entsprechenden Waffen ausgerüstet gewesen zu sein.

Red.: Der Völkerrechtler Norman Paech argumentiert, dass der Widerstand auf jeden Fall rechtmäßig war, da es sich um einen Angriff auf in internationalen Gewässern fahrende Schiffe handelte. Aber war er auch klug? War Euch von vornherein klar, das die Aktivisten auf dem türkischen Schiff sich wehren würden? Wie beurteilst Du im Nachhinein, was geschehen ist?

MJ: Wenn man es recht bedenkt, wäre es vom Standpunkt der Selbsterhaltung sicher am klügsten gewesen, zu Hause zu bleiben.

Für mich ist klar: Die in jeder Hinsicht von ihren Handlungsoptionen her völlig überlegenen israelischen Militäreinheiten hätten jederzeit Möglichkeiten gehabt, ihr Ziel, die Inbesitznahme des Schiffs ohne tödliche Gewalt zu erreichen. Ich bin froh und dankbar, dass die gewählten Widerstandsformen offenbar nicht zum Tod oder schwerer Verletzung israelischer Angreifer geführt haben, insofern ist aus meiner Sicht ein wesentliches Kriterium einer gewaltfreien Aktion erfüllt worden.

Red.: Was geschah mit Euch, nachdem Ihr auf Land gebracht wurdet? Wie seid Ihr behandelt worden? Wurdet Ihr verhört?

MJ: Nachdem wir etwa 15 Stunden nach der gewaltsamen Kaperung an Land gebracht worden waren, wurden wir, ich spreche von der deutschen Gruppe, korrekt und höflich behandelt.

Red.: Nach dem, wie Du die israelischen Soldaten erlebt hast – glaubst Du, dass sie wirklich fälschlich annahmen, dass es auf dem Schiff Waffen und Terroristen gäbe? Schienen sie Angst vor Euch zu haben?

MJ: Die vorübergehend festgesetzten Soldaten, es waren wohl drei, von denen ich zwei unmittelbar erlebte, fühlten sich verständlicherweise recht unwohl und hatten wahrscheinlich auch Angst. Später waren wir gefesselt, die Soldaten aber schwer bewaffnet, da wäre es schon seltsam gewesen, wenn die noch ängstlich gewirkt hätten.

Red.: Stimmt es, dass die nicht-türkischen TeilnehmerInnen gegen ihren Willen unter Deck eingeschlossen wurden? Wenn ja, wie kam es dazu? Auch wenn man argumentieren könnte, dass die türkischen Teilnehmer hier recht verantwortungsbewusst gehandelt haben, indem sie dafür sorgten, dass die 'Nicht-Kombattanten' nicht in Gefahr gerieten, fragen viele aus der Friedensbewegung derzeit, warum Ihr das akzeptiert habt?

MJ: In der Nacht waren die weiblichen Passagiere, vielleicht 20% der Teilnehmer, in einem separaten Bereich ein Deck tiefer untergebracht. Ob der Raum während des Angriffs abgesperrt war, weiß ich nicht, unmittelbar danach jedenfalls waren wir mit unseren beiden (weiblichen) Abgeordneten gemeinsam in dem Passagierraum, umzingelt von den schwerbewaffneten und maskierten Soldaten.

Red.: Einer Pressemitteilung von Free Gaza zufolge hat das israelische Militär zugegeben, Tonaufnahmen mit antisemitischen Äußerungen („Kehrt zurück nach Auschwitz“) gefälscht zu haben. Trotzdem lässt sich leider nicht leugnen, dass antisemitische Töne bei vielen pro-palästinensischen Veranstaltungen zu hören sind, so auch bei manchen der Proteste nach dem Stoppen der Freedom Flotilla. Meine Frage an Dich ist: Hast Du eine gute Antwort oder Strategie, wie man mit solchen Äußerungen und Verbündeten umgeht, wie man auf sie reagieren kann?

MJ: Also ich habe nichts Antisemitisches gehört oder gesehen. Selbstverständlich muss man Antisemitismus wie auch anderen Erscheinungen von Rassismus entschieden entgegentreten, auch und gerade, wenn man sich kritisch mit der Politik des Staates Israel auseinandersetzt. Das Problem in der Nahost-Region und auch weltweit ist aus meiner Sicht ohnehin mehr eines von Kriegspolitik des Westens insgesamt, inklusive Israel, denn z.B. die grauenhafte Verwüstung des Irak ist von Israel nur marginal zu verantworten. Ähnliches gilt für Afghanistan.

Red.: Welche Rückmeldungen zu der Aktion hast Du seit Deiner Rückkehr bekommen?

MJ: Ich habe sehr anrührende Zeichen des Mitfühlens, des Verständnisses und der moralischen Unterstützung von ganz vielen Menschen erfahren. 

Red.: Bei aller Trauer um die neun Todesopfer muss doch auch die Frage gestellt werden: Hat die Aktion etwas bewirkt? Wie beurteilst Du die Reaktionen von Israel und von internationaler Seite, die die Freedom-Flotilla hervorgerufen hat?

MJ: Ganz klar: wenn wir als IPPNW gewusst hätten, dass anders als bei den vorherigen FreeGaza-Aktionen diesmal Menschen getötet werden, hätten wir nicht teilgenommen. Natürlich ist unsere Hoffnung, dass diese Opfer ihr Leben nicht ganz umsonst verloren haben, sondern dass die Betroffenheit darüber  zu einer Veränderung der Wahrnehmung des Konflikts führt, und auch den Druck auf die internationalen Regierungsakteure erhöht, zu gerechten und friedlichen Lösungen zu kommen.

Red.: Unterstützt Du die Forderung, die u.a. vom Deutschen Koordinationskreis Israel-Palästina (KOPI) aufgestellt wurde, nach einer unabhängigen, internationalen Untersuchung des militärischen Überfalls der israelischen Armee auf das türkische Passagierschiff “Mavi Marmara”, um zu klären, weshalb die neun Aktivisten sterben mussten und welche Handlungen es von Seiten der Friedensaktivisten auf dem Schiff gab?

MJ: Selbstverständlich, ja.

Red.: Es wurde von Free Gaza bereits angekündigt, dass weitere Schiffe entsandt werden sollen. Wirst Du Dich bzw. wird die IPPNW sich wieder beteiligen? Gibt es etwas, das Ihr das nächste Mal anders machen würdet?

MJ: Ich denke, nun muss erstmal sorgfältig ausgelotet werden, welche Bedingungen zu einem erfolgreichen Verlauf einer erneuten Aktion, und zwar ohne Todesopfer auf welcher Seite auch immer, vorhanden sein oder geschaffen werden müssen, bevor wir wieder in See stechen.

Die jetzige Aktion hatte aus meiner Sicht eine große und im wesentlichen fruchtbare Wirkung, aber zu einem sehr hohen Preis.

Matthias Jochheim ist der stellvertretende Vorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.