Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für die Welt

Frieden schaffen ohne Waffen im Ukrainekrieg

von Wolfgang Sternstein
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Ich möchte an den Anfang meines Artikels den Grundsatz stellen: Mittel und Zweck, Weg und Ziel müssen übereinstimmen, soll der Zweck erfüllt, das Ziel erreicht werden. Daraus folgt: Gewalt kann nicht durch Gegengewalt überwunden und Frieden kann nicht durch Krieg erreicht werden. lns Positive gewendet heißt das: Eine von Gewalt freie Gesellschaft kann nur durch gewaltfreie Methoden verwirklicht werden.

Die Gegenposition zu diesem Grundsatz wurde von dem Revolutionär und späteren chinesischen Staatspräsidenten Mao Tse-tung vertreten, der im „Roten Buch" der chinesischen „Kulturrevolution” schrieb: „Wir treten dafür ein, dass der Krieg abgeschafft wird, wir wollen keinen Krieg; man kann aber den Krieg nur durch Krieg abschaffen, und wenn man will, dass es keine Gewehre mehr geben soll, muss man das Gewehr in die Hand nehmen. " (S. 76 der 1966 erschienenen Auflage) Schreiten die Revolutionäre auf diesem Weg voran, so werden sie das glorreiche Ziel einer gewaltfreien Gesellschaft gewiss erreichen.Mit den Worten Maos: „Die Welt schreitet vorwärts, die Zukunft ist glänzend, und niemand kann diese allgemeine Tendenz der Geschichte ändern. Wir müssen die Fortschritte in der Welt und die lichten Zukunftsperspektiven ständig unter dem Volk propagieren, damit es Siegeszuversicht gewinnt." (S. 84 f) Dieser glänzenden Zukunft schritt Mao auf einem Leichenteppich aus schätzungsweise 80 Millionen Toten entgegen und erreichte es dennoch nicht; er entfernte sich vielmehr immer weiter davon.

Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 geht in ganz Europa und den USA die Furcht vor einer Expansion Russlands unter Führung des russischen Staatspräsidenten Vladimir Putin um. Auf diese Bedrohung des Weltfriedens reagierte die Bundesregierung mit einer „Zeitenwende", die an die Stelle der bisher verfolgten Politik der Zurückhaltung eine Politik der Friedenssicherung durch Aufrüstung und Abschreckung setzte. Die Folgen dieses Konzepts sind absehbar: Eine Neuauflage des Wettrüstens zwischen dem westlichen und dem östlichen Militärbündnis, wie wir es aus dem Kalten Krieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen. Die Welt gleitet von nun an wieder einmal den steilen Abhang des Wettrüstens hinunter, an dessen Ende der Kalte Krieg in einen heißen übergehen wird, der im schlimmsten Fall nicht nur die Menschheit, sondern alles höhere Leben auf diesem Planeten vernichtet.
Man könnte einwenden, da wird mal wieder ein Teufel an die Wand gemalt, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, weil alle Beteiligten wissen, dass es in einem solchen Krieg keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird. Haben die Großmächte wirklich gewusst, was am Ende des Massenmordens der beiden Weltkriege herauskommen wird, nämlich rund 17 Millionen Tote im Ersten und 60 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg?

An dieser Stelle möchte ich den ehemaligen Oberbefehlshaber der US-amerikanischen Atomstreitkräfte, General George Lee Butler, zu Wort kommen lassen, der in einer Rede im Jahr 1999 feststellte: „Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung aus Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztgenannte hatte den größten Anteil daran." Zur Begründung dieser Feststellung führte er aus: Ich war „der oberste Berater des US-amerikanischen Präsidenten für Kernwaffenfragen. Das bedeutete für mich, Tag und Nacht, 365 Tage im Jahr, nach dem dritten Klingeln den Telefonhörer abzunehmen, um im Ernstfall die Frage des Präsidenten beantworten zu können: ,General, unser Land wird mit Kernwaffen angegriffen. Ich muss innerhalb weniger Minuten entscheiden, wie wir darauf reagieren. Welche Gegenmaßnahmen sollen wir Ihrer Meinung nach ergreifen?' War der Angriff ausgewertet und bewertet, blieben dem Präsidenten maximal zwölf Minuten, um eine Entscheidung zu treffen. Zwölf Minuten für eine Entscheidung, die zusammen mit der Entscheidung eines Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel, der vielleicht einen derartigen Angriff angeordnet hatte - nicht nur das Überleben der Kriegsgegner aufs Spiel setzte, sondern das Schicksal der gesamten Menschheit mit der Aussicht, dass innerhalb weniger Stunden etwa 20.000 Thermonuklearwaffen explodierten.“ (Die Zitate sind einer Rede von General Butler bei einer Veranstaltung des Canadian Network to Abolish Nuclear Weapons am 11. März 1999 entnommen, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 1.9.1999, S. 9). Das sagt ein Mann, der weiß, wovon er spricht, denn er hatte als „Kalter Krieger“ jahrelang die Szenarien eines Atomkriegs durchgespielt.

Vorschlag
Wo aber ist heute ein Michail Gorbatschow, der - nicht zuletzt mit Unterstützung der Friedensbewegung in Europa und den USA - das Wunder vollbrachte, den Kalten Krieg zu beenden? Gegenwärtig sitzen wir wieder einmal in der Falle, einer Falle, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Und doch, mir scheint, es könnte zumindest einen vorübergehenden Ausweg geben, der aus folgenden Schritten bestünde:
1. Ein Kompromiss: Aufhebung sämtlicher Sanktionen gegen Russland und der Waffenlieferungen an die Ukraine durch die NATO gegen die Zusage der Russischen Föderation, sich aus den besetzten Gebieten der Ukraine zurückzuziehen.
2. Wiederherstellung des ukrainischen Staatsgebiets und eine durch Verhandlungen zu erreichende Sonderregelung für die Gebiete mit mehrheitlich russisch sprechender Bevölkerung und eine Regelung, die es ihr erlaubt, sich innerhalb des ukrainischen Staatsgebiets für eine Orientierung nach Osten oder nach Westen zu entscheiden.
3. Engagement möglichst vieler Menschen, Organisationen und Staaten in diesem Konflikt mit der Forderung: Frieden schaffen ohne Waffen statt Frieden schaffen mit immer mehr Waffen, denn es geht schließlich um unser aller Existenz.
4. Der letzte Schritt wäre für Putin mit Abstand der schwerste. Selbst wenn wir die Mitschuld der NATO an dem Konflikt durch eine „Einkreisungspolitik“ gegenüber Russland einräumen, bleibt der Angriffskrieg der Russischen Föderation unter Führung Wladimir Putins dennoch ein Kriegsverbrechen. Der russische Staatspräsident sollte sich deshalb vor dem Internationalen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen verantworten müssen.

Es sieht so aus, als gäbe es aus der Falle, in der wir sitzen, kein Entrinnen. Und doch, die Geschichte ist allemal gut für Überraschungen: Vielleicht ist Putin unheilbar krank und lebt nicht mehr lange. Vielleicht fällt er einem Terroranschlag zum Opfer und sein Nachfolger denkt ganz anders als er. Vielleicht kommt er sogar zur Vernunft und verzichtet im Interesse des Weltfriedens auf einen Sieg in diesem Konflikt. Man kann das für prächtige Phantasieblüten halten. Meinetwegen, wir sind ohnehin nur hilflose Zuschauer in dieser Tragödie.

Der russische Staatspräsident ist kein „Politiker“ im üblichen Sinne des Wortes. Er weiß nichts von der Schönheit des Kompromisses, einer Schönheit, die beiden Seiten um des Friedens willen Opfer abverlangt. Er ahnt offenbar nichts von dem Jubel, der die ganze Welt erfüllen würde angesichts eines solchen Kompromisses. Uns bleibt daher nur die Einsicht: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für die Welt."

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Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Er kam als Wissenschaftler nach Wyhl, schloss sich aber schon bald der Widerstandsbewegung gegen das Atomkraftwerk an. In seiner Autobiografie „Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit“ berichtet er ausführlich über den „Kampf um Wyhl“.