Buchbesprechung

Friedensgutachten 2010: Brennpunkt Afghanistan

von Christine Schweitzer

Das „Friedensgutachten“, das gemeinsam von fünf führenden deutschen Friedensforschungsinstituten herausgegeben wird, erscheint seit 1987. Es „zieht Bilanz, pointiert die Ergebnisse und formuliert Empfehlungen für die Friedens- und Sicherheitspolitik in Deutschland und Europa“, so der Anspruch. Das diesjährigeFriedensgutachten befasst sich schwerpunktmäßig mit Afghanistan. Mehrere AutorInnen schreiben hier aus durchaus unterschiedlicher Perspektive über die gegenwärtige Lage in dem Land. Sie sind sich weitgehend einig darin, dass, wie es in der Einleitung der HerausgeberInnen heißt, die bisherige Afghanistanpolitik gescheitert sei. Aber sie ziehen daraus unterschiedliche Folgerungen.

„Der Westen darf sich seiner Verantwortung für die niederschmetternde Bilanz seiner Intervention nicht entziehen; er muss aus den fatalen Folgen seines Scheiterns Konsequenzen ziehen. Verantwortungsvolle Entwicklungspolitik wird mit „Do No Harm“ beschrieben. Dies muss erst recht für Militäreinsätze gelten. Ob die neue Afghanistanstrategie eine Chance verdient, ob alle Kampfoperationen sofort beendet werden sollten, ob Verhandlungen mit den Taliban aussichtsreich sind, ob sich unter dem Schirm des Militärs halbwegs funktionierende Staatlichkeit herstellen lässt – dies alles ist in der Friedensforschung wie unter den Herausgebern des Friedensgutachtens strittig.“ (Aus den Thesen auf der Website des Friedensgutachtens, www.friedensgutachten.de)

Eine solch unterschiedliche Bewertung derselben Sachverhalte in den Kreisen der Friedensforschung zeigt, wie komplex das Thema Afghanistan ist, und belegt gleichzeitig natürlich auch unterschiedliche politische Strömungen in der Friedensforschung. Die HerausgeberInnen formulieren vier anscheinend von ihnen als alternativ angesehene Optionen, „wie sich das Gewaltniveau in Afghanistan am besten senken“ ließe – schon diese Formulierung, die Fragen der Legitimität des NATO-Angriffs ebenso außen vor lässt wie menschenrechtliche Erwägungen, macht deutlich, wie sehr die HerausgeberInnen offensichtlich um einen Kompromiss gerungen haben. Die Optionen reichen von der ‚neuen Afghanistanstrategie der Allierten als letzte Chance’ über ein ‚Ende der Kampfoperationen’, ‚Verhandlungen mit den Taliban’ bis zum ‚Ins-Zentrum-Rücken von legitimer Staatlichkeit’.  Einig ist man sich darin, dass ein internationaler bzw. regionaler Prozess, der die Nachbarn Afghanistans mit einbezieht, wichtig sei, und dass man einen Weg jenseits des Krieges finden müsse, mit den Taliban und anderen Aufständischen umzugehen.

Unter der Überschrift „Vom Bürgerkrieg zur politischen Konkurrenz“ befassen sich 14 weitere Beiträge im Gutachten mit Fragestellungen aus anderen Krisenregionen, die aber größtenteils auch von Relevanz für Afghanistan sind, z. B. die Frage, wie aus „bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren“, so die friedensforscherische Terminologie, politische Parteien und legitimierte Teilhaber an einem Demokratisierungsprozess werden. In einigen Ländern ist dies gelungen – Südafrika ist vielleicht das beste Beispiel dafür -, aber in anderen erweist sich dasselbe als schwierig, und in wiederum weiteren Konflikten ist die Frage noch offen, ob man überhaupt bereit ist, mit den Aufständischen (Hamas) oder politischen Organisationen, die die militärisch besiegten Aufständischen vertreten (Tamilen in Sri Lanka), zu sprechen und sie in einen Friedensprozess mit einzubeziehen.

Das Gutachten analysiert weiterhin den Nuklearstreit mit Iran, schlägt Schritte in eine atomwaffenfreie Welt vor und untersucht in mehreren weiteren Beiträgen die Folgen der Weltwirtschaftskrise für Rüstungsetats, Ernährungsprobleme und Entwicklung im Allgemeinen und für sog. „fragile“ Staaten.

Das Friedensgutachten ist wie jedes Jahr eine gute Quelle für alle, die sich einen Überblick über verschiedene Konfliktherde in der Welt und in der Friedensforschung aktuell diskutierte Themen verschaffen möchten.

Christiane Fröhlich, Margret Johannsen, Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler (Hrsg.): Friedensgutachten 2010; LIT-Verlag;: 352 S.; 12.90 EUR; ISBN 978-3-643-10602-5.

Mehr Informationen: www.friedensgutachten.de

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.