Friedenspolitische Volksabstimmungen

von Hermann Heußner
Schwerpunkt
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Verfassungsdiskussion und Friedenspolitik
Infolge der deutschen Einheit ist eine Verfassungsdebatte in Gang gekommen, die auch friedenspolitische Relevanz hat. So wird etwa als Verfassungsnorm die Konkretisierung staatlicher Abrüstungspflichten, das Verbot von ABC-Waffen und ein weitgehender Waffenexportstop gefordert. Auch der Verteidigungsfall, dessen Feststellung man an eine qualifizierte Zustimmung in Bundestag und Bundesrat knüpfen will, wird thematisiert. Nicht zu unterschätzende friedenspolitische Bedeutung kommt aber auch den Forderungen zu, plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz aufzunehmen. Denn dadurch würde die deutsche Bevölkerung endlich in den Stand gesetzt, auch über Materien, die der Kompetenz des Bundesgesetzgebers unterliegen, also auch über Friedens- und Verteidigungspolitik abstimmen zu können.

Dies ist im Wege der in den meisten Länderverfassungen vorgesehenen Volksgesetzgebung bislang nicht möglich, weil in Länderhoheit durchgeführte Volksabstimmungen Bundeskompetenzen nicht berühren dürfen. Darin liegt auch ein Grund, warum das 1984/85 in Baden-Württemberg von der Friedensbewegung und den Grünen beantragte Volksbegehren gegen Herstellung, Transport, Lagerung und Stationierung von ABC-Waffen vom baden-württembergischen Staatsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt werden mußte.

Werden friedenspolitische Themen bei Volksabstimmungen jedoch zugelassen, so zeigen sich beachtliche Teile des Volkes neuen friedenspolitischen Ideen gegenüber aufgeschlossen, selbst wenn diese sehr radikal sind und deshalb bei der Mehrheit (zu Recht) auf Ablehnung stoßen sollten. Dies erwies sich z.B. 1989 in der Schweiz, als immerhin 35,6 % der abstimmungsbeteiligten Bürger für die gänzliche Abschaffung der Schweizer Armee votierten und in den Kantonen Genf und Jura sogar die Mehrheit für eine armeelose Schweiz stimmte.

USA: Friedenspolitische Volksabstimmungen
Wie das Volk sich in friedenspolitischen Abstimmungen verhält, zeigt vor alllem die Erfahrung in den USA. Zwar bestehen dort auf Bundesebene, ähnlich wie in der Bundesrepublik, keine Formen di-rekter Demokratie. Im Unterschied zur Bundesrepublik wird direkte Demokratie jedoch auf der amerikanischen Gliedstaaten- und Kommunalebene häufig praktiziert. Dabei kommen im Ge-gensatz zur Bundesrepublik auch Materien zur Abstimmung, die der Bundeskompetenz unterliegen. Zwar haben deren Resultate keine rechtliche Verbindlichkeit. Ihre politische Wirkung darf jedoch nicht unterschätzt werden.

In neuerer Zeit weckte zunächst der Vietnamkrieg direktdemokratische Aktivitäten. So beantragte 1967 in San Francisco eine von Demokraten getragene Aktionsgruppe eine lokale Volksabstimmung mit dem Ziel eines sofortigen US-Truppenabzuges aus Vietnam. Dieses radikale Begehren verlor bei der Abstimmung. Ein moderateres im folgenden Jahr gewann jedoch die Mehrheit für sich. Abrüstungspolitische Bedeutung hatte 1974 auch ein Volksbegehren in Colorado, wonach unterir-dische Nuklearexplosionen zukünftig nur nach vorhergehender Zustimmung des Volkes in einem Referendum erlaubt sein sollten. Das Volk befürwortete dieses Volksbegehren mit 58 % Ja-Stimmen.

Die Hauptwelle direktdemokratischer Abrüstungsbemühungen setzte Ende der 70er Jahre ein. Schwerpunkt der Aktionen bildeten im wesentlichen drei Inhalte: die Erklärung bestimmter Gebiete zu atomwaffenfreien Zonen, die einseitige Reduzierung von Rüstungsmaßnahmen, insbesondere von Militärausgaben, und das beiderseitige, kontrollierte Einfrieren der Atomrüstung von USA und UdSSR. Die "Nuclear-Free Zone" (NFZ) Kampagne war v.a. auf kommunaler Ebene erfolgreich. Im Zeitraum 1982-88 wurden insgesamt 160 Gemeinden, Städte und Kreise mit einer Bevölkerung von insgesamt 16 Mio. Einwohnern im Wege von Gemeinderatsbeschlüssen, Volksversammlungen und Volksabstimmungen offiziell für atomwaffenfrei erklärt. Das einzige Volksbegehren über eine NFZ auf staatlicher Ebene brachte die Volksmehrheit jedoch nicht hinter sich: 1986 sprach sich die Bevölkerung Oregons mit großer Mehrheit gegen das Ende der Nuklearwaffenproduktion in ihrem Staat aus.

Wenig Erfolg war auch lokalen Volksbegehren beschieden, die speziell auf einen unilateralen A-Waffen Forschungs-, Test- und Herstellungsstop zielten. So scheiterten solche Initiativen etwa 1980 in Santa Cruz County, Californien, 1983 in Cambridge, Massachusetts, und 1984 sowohl in Ann Ar-bor, Michigan, als auch in Santa Monica, Californien. Die an Rüstungsforschung und -produktion interessierten Firmen und Forschungseinrichtungen waren in der Lage, ihre finanzielle Übermacht im Abstimmungskampf zu nutzen. Erfolgreicher waren hingegen im Zeitraum 1978-86 ca. 30 lokale Volksbegehren zur Reduzierung öffentlicher Militärausgaben und zur Stärkung der zivilen Wirtschaft. Solche Initiativen billigte die Bevölkerung u.a. in Madison, Wisconsin, in San Francisco, Berkeley und Oackland, Californien, in Detroit, Michigan, in Baltimore, Maryland, und in einer Reihe von Städten Massachusetts, darunter Boston. (16) Auf Ablehnung stieß jedoch wiederum ein staatsweites Volksbegehren 1982 in Colorado, wonach Steuerzahlern das Recht eingeräumt werden sollte, einen Teil der Steuern in einen Fonds einzuzahlen, der der Konversion von Nukle-arwaffenfabriken diente.

Den durchschlagendsten Erfolg konnte die Friedensbewegung mit Hilfe der "Freeze"-Volksbegehren erzielen. Die von der Friedensforscherin Randall Forsberg in einem "Call to End the Nuclear Arms Race" entwickelte Idee eines beiderseitigen und kontrollierten Atomwaffenmoratoriums der beiden Supermächte wurde unter der Federführung des Lehrers Randy Kehler zunächst in Massachusetts popularisiert, wo 1980 in 59 von 62 entsprechende Ab-stimmungen durchführenden Gemeinden Freeze-Vorlagen von der Bevölkerung gebilligt wurden. Von Massachusetts aus trat die Freeze-Idee einen Siegeszug durch weite Teile der USA an. Der Höhepunkt wurde 1982 erreicht. In diesem Jahr votierten nicht nur über 230 Städte-, Gemeinden- und Kreisparlamente und 10 Staatenlegislativen für ein A-Waffenmoratorium, sondern auch das Volk stimmte sowohl in 444 Volksversammlungen von Neuengland-Gemeinden als auch mittels Referenden in 34 von 37 Städten, darunter in Anchorage, Alaska, und Chicago, Illinois, und in 10 von 11 Staaten, nämlich in Californien, District of Columbia (22), Massachusetts, Michigan, Montana, New Jersey, North Dakota, Rhode Island, Oregon und Wisconsin dem Freeze-Vorschlag zu. Die Zustimmung schwankte zwischen 75,7 % in Wisconsin und 52,3 % in Californien. In Arizona lehnte das Volk ein Moratorium ab. Insgesamt stimmte am 2. November 1982 die Mehrheit von ca. 1/3 der US-Bevölkerung zu Gunsten des Freeze-Vorschlages. Abgesehen von New Jersey, Rhode Island und Wisconsin, wo das Parlament das Referendum beschlossen hatte, kamen die Volksabstimmungen in den übrigen Staaten aufgrund von Volksbegehren zustande. Die zur Abstimmung gestellten Resolutionen forderten meist ein Moratorium für Forschung, Test, Pro-duktion und Stationierung von Atomwaffen. In Montana wurde ausdrücklich auch die Dislozierung von MX-Raketen aus dem Gebiet dieses Bundesstaates abgelehnt. 1984 wurde noch in South Dakota und 1986 in Alaska landesweit über Freeze-Volksbegehren abgestimmt. In South Dakota war das Volk gegen den Vorschlag, in Alaska dafür. In verschiedenen ländlichen Wahlkreisen Massachusetts war 1986 darüber hinaus eine Initiative erfolgreich, die zu einem Atomwaffenteststop und einer jährlichen 1%igen Militärhaushaltskürzung in den USA und der UdSSR aufrief.

Kampagnenverlauf und politische Wirkung
Der meist überragende Erfolg der Freeze-Kampagne beruhte darauf, daß der nicht einseitige, sondern auf ein bilaterales Moratorium abzielende Freeze-Vorschlag auch für konservative Wähler attraktiv war, der Vorschlag von einer breiten Basis freiwilliger Helfer getragen wurde, darunter von vielen kirchlichen Gruppen und Institutionen, und die Gegner in der Regel finanziell und organisatorisch bei weitem unterlegen waren. Ein wirksames gegnerisches Potential stellten lediglich Äußerungen von Verteidigungsminister Weinberger und US-Präsident Reagan dar und ein Artikel in der Zeitschrift Reader's Digest, der die Freeze-Bewegung als vom KGB gesteuert diffamierte. Tendenziell läßt sich feststellen, daß das Vorkommen von u.a. hoher Bevölkerungsdichte, rassisch-ethnischen Minderheiten, Universitätenstandorten und Popularität demokratischer Kandidaten auf den Erfolg der Freeze-Vorschläge hindeutete, während mittelständische Strukturen, Steuerstärke und Popularität konservativer Politiker eher auf Ablehnung hinwiesen.

Die Abstimmungskämpfe und Ergebnisse der verschiedenen Volksabstimmungen haben dazu beigetragen, daß Frieden und Abrüstung zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Debatte in den USA wurden. Die Parteien wurden gezwungen, dem Thema gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken. Aus einer ursprünglich außerhalb des etablierten Parteiensystems angesiedelten Thematik entwickelte sich ein Programmpunkt der Parteien, freilich mit unterschiedlichem Akzent bzw. Vorzeichen. Der Druck wurde so stark, daß sich das Repräsentantenhaus am 4. Mai 1983 mit 287 zu 149 Stimmen für den Freeze-Gedanken aussprach.

Der (Teil-)Erfolg direktdemokratischer Abrüstungsbemühungen war auch deshalb möglich, weil das Instrument der sachfragenorientierten Volksbegehren und -abstimmungen es vielen Amerikanern ermöglichte, differenzierte politische Voten abzugeben. Exemplarisch dafür waren 1980 30 Städte in Massachusetts, deren Bevölkerung bei den US-Präsidentschaftswahlen zwar mehrheitlich für Reagan stimmte, gleichzeitig jedoch den Freeze-Vorschlag befürwortete.

Die amerikanische direktdemokratische Praxis zeigt also, daß ausgewogene, fortschrittliche Abrüstungsinhalte das Volk nicht nur nicht fürchten müssen, sondern in diesem vielmehr eine starke Stütze finden können. Dafür ist allerdings ein erfolgreicher Abstimmungskampf, der eine gute Organisation und eine Vielzahl freiwilliger Helfer verlangt, Voraussetzung. Aus der Sicht der Friedensbewegung ist es deshalb zu empfehlen, daß Formen direkter Demokratie in das Grundgesetz Eingang finden.

(Der Beitrag wurde von der Redaktion leicht gekürzte)

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