Offene Grenzen für alle

Für das Recht auf Bewegungsfreiheit

von Svenja Bloom
Schwerpunkt
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Wenn Sie nicht wüssten, ob Sie in Nigeria oder in Schweden geboren werden, würden Sie dann für abgeriegelte Grenzen oder für das Recht auf Bewegungsfreiheit plädieren?

Dieses Gedankenexperiment des Politikwissenschaftlers J. Carens verdeutlicht die Doppelmoral des Globalen Nordens: Solange es um uns geht, treten wir selbstverständlich für Bewegungsfreiheit ein, sobald es aber Menschen aus dem Globalen Süden betrifft, halten wir sie durch Grenzen von uns fern.

Mit einem deutschen Pass können wir in 188 Länder visa-frei einreisen. Gleichzeitig gibt es nur 92 Staaten, deren Einwohner*innen kein Visum für die Einreise nach Deutschland benötigen. Damit verwehrt Deutschland (genau wie viele andere Staaten) der Mehrheit der Menschen das von uns eingeforderte und viel genutzte Recht auf Bewegungsfreiheit. Die „Festung Europa“, die Menschen vom Zugang zu „unseren“ Ressourcen abhalten soll, verdeutlicht dieses unfaire System besonders. Sie hat in den letzten Jahren gezeigt, dass sogenannter Grenzschutz nur unter Missachtung von Menschenrechten funktioniert. All die Toten, Verletzten und Vergessenen vor den Grenzzäunen, im Mittelmeer und auf der Balkanroute belegen eindeutig, dass Menschen sich nicht von der Migration abhalten lassen. Aber: Je mehr Menschen auf der Flucht sterben, desto weniger kommen bei uns an. Und: Je höher die Mauer, desto weniger Opfer unserer Politik sehen wir.

Statt oberflächliche Verbesserungen für ein krankes System vorzuschlagen, plädiere ich für den Umsturz. Wir starten mit Artikel 13.2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“
Diesen Artikel, der zwar das Recht auf Aus- aber nicht auf Einwanderung beinhaltet, ergänzen wir entsprechend. Dann hätte prinzipiell jeder Mensch das Recht, seinen Aufenthaltsort selbst zu wählen. Das bedeutete eine komplette Öffnung der Grenzen, jedoch nicht zwangsläufig ihre Auflösung – Migration wäre grundsätzlich erlaubt, könnte aber in begründeten Ausnahmen untersagt werden (z.B. bei Straftäter*innen). Welche Folgen hätte dieser Systemwechsel?

Für Migrant*innen sind die Vorteile offensichtlich: Kurz gefasst könnten sie, statt Schlepper*innen für eine monatelange, hochgefährliche Flucht zu bezahlen, einfach in ein günstiges und v.a. sicheres Flugzeug steigen. Sie könnten ihre Familien mitbringen, ohne deren Leben zu riskieren, und hätten überall Anspruch auf den Zugang zu Grundrechten.

Wer daraufhin den Exodus einiger Herkunftsstaaten befürchtet, liegt falsch. Nur ca. 15% der Menschen weltweit möchten sich dauerhaft in einem anderen Land niederlassen (1) – eine rege saisonale Migration, bei der Menschen für eine Zeit im Ausland arbeiten, bevor sie mit verbesserten Ressourcen in ihre Heimat zurückkehren, wäre also viel eher zu erwarten als das Ausbluten einiger Länder. Schon 2018 floss dreimal so viel Geld als Rücküberweisung von Migrant*innen in ihre Herkunftsländer, als über offizielle Entwicklungszusammenarbeit. (2) Allgemein legen unterschiedliche Studien nahe, dass Emigration eher positive Effekte auf die wirtschaftliche Entwicklung in den Herkunftsstaaten hat.

Kurzfristig wäre in den Hauptzielen der Migrationswilligen (voraussichtlich USA, Kanada und Deutschland) wohl mit einem Bevölkerungswachstum zu rechnen, allerdings ist Panik vor einer Masseneinwanderung unbegründet. Zuerst einmal, da nicht alle Menschen gleichzeitig, ohne Vorankündigung und Regulierung einwandern würden. Mit eingeschränktem Zugang zu Sozialleistungen wäre Migration auch nur so lange attraktiv, wie es freie Stellen auf dem Arbeitsmarkt des Ziellandes gibt. Hier lohnt sich der Vergleich mit dem Schengen-Raum: Ein Teil der Arbeitslosen aus einer ärmeren Region würde in reichere Gebiete ziehen, um dort zu arbeiten. Aber es würden ebenso wenig „alle“ kommen, wie „alle“ Rumän*innen in das wirtschaftlich viel besser dastehende Deutschland kommen.

Insgesamt hätten in einer solchen Welt diejenigen, die in Nigeria geboren werden, im Schnitt zwar immer noch schlechtere Startbedingungen als diejenigen aus Schweden. Aber sie alle hätten die Möglichkeit, sich Zugang zu Grundrechten und Ressourcen zu verschaffen, wodurch wir wahrer Gerechtigkeit etwas näherkämen.

Jedoch liegt der letzte und wichtigste Grund dafür, eine Welt der offenen Grenzen anzustreben, in ihrer Alternativlosigkeit. Für eine sich selbst als zivilisiert bezeichnende Gesellschaft ist es untragbar, dass jedes Jahr tausende Menschen beim Versuch, Grenzen zu überqueren, sterben. Alle Versuche der letzten Jahre, diese Zahlen zu verringern, sind offensichtlich gescheitert. Menschen lassen sich nicht davon überzeugen, weiterhin in Armut oder Krieg zu leben, weil sie wissen, dass eine*r von vier bei der Überfahrt von Libyen nach Italien stirbt. Wir haben nun zwei Optionen: Entweder wir bauen immer höhere Mauern und üben uns im Wegsehen, verlieren darüber aber Moral, Anstand und rechtsstaatliche Grundsätze, oder wir akzeptieren Migration als das, was sie ist: ein menschlicher Normalzustand, den wir weder verhindern können noch sollten.

Offene Grenzen würden nicht alle Probleme lösen. Aber sie würden es unnötig machen, sich in ein seeuntüchtiges Schlauchboot zu setzen, Zäune mit Klingendraht zu überqueren oder auf einem Pickup abseits der Wege durch die Sahara zu fahren. Allein die dadurch verhinderten Tode sollte uns der Versuch wert sein.

Anmerkungen
1 Gallup: https://news.gallup.com/poll/245255/750-million-worldwide-migrate.aspx?g....
2 Weltbank: https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2019/04/08/record-high-r... und https://data.worldbank.org/indicator/DT.ODA.ALLD.CD?end=2017&locations=1....

Dieser Artikel ist eine Kurzfassung eines Artikels, den das Eine Welt Netz NRW e.V. im Dezember 2019 in der Broschüre „Zivile Seenotrettung und wie wir sie überflüssig machen“ herausgegeben hat. Diese finden Sie unter https://eine-welt-netz-nrw.de/themen/fluchtmigration/seenot-rettung/ Sie kann kostenlos oder gegen eine kleine Spende bestellt oder heruntergeladen werden.

Svenja Bloom hat Internationale Migration und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück studiert, engagiert sich für die Rechte von Menschen auf der Flucht und arbeitet beim Eine Welt Netz NRW e.V.

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Svenja Bloom hat Internationale Migration und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück studiert, engagiert sich für die Rechte von Menschen auf der Flucht und arbeitet beim Eine Welt Netz NRW e.V.