Geschichte dekolonisieren

Gegen-Geschichten für die Zukunft

von Carolin Philipp
Schwerpunkt
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Unsere Interpretationen der Vergangenheit bestimmen, wie wir uns in unserer globalen Gesellschaft gegenwärtig verhalten und was für uns als „denkbare Zukünfte“ (1) vorstellbar ist. Paulo Freire schrieb, dass die Vergangenheit für den „Menschen als Wesen“ ein Mittel ist, um „noch klarer zu verstehen, was und wer es ist, so dass es die Zukunft noch weiser aufbauen kann“ (2). 

Der Sozialpsychologe Harald Welzer (3) betont, dass die „mentale Infrastruktur“ westlicher Gesellschaften durch die Vorstellung unendlichen wirtschaftlichen Wachstums „tiefenimprägniert“ worden sei. Aus postkolonialer Perspektive könnte man hinzufügen, dass in der deutschen Mehrheitsgesellschaft immer noch ein Gefühl von Höherwertigkeit verbreitet ist, das aus kolonialer und nationalsozialistischer Vergangenheit resultiert.

Darum ist es einerseits für die Gestaltung einer solidarischen globalen Zukunft wichtig, dass uns bewusst wird, aus welchen Vorstellungen unsere jeweilige Tiefenimprägnierung besteht. Andererseits ist es essentiell, dass wir eine vollständigere und multiperspektivische Globalgeschichtsschreibung vorantreiben. Globale Geschichte ist mehr als die Erzählungen darüber, welches europäische Adelshaus welchen Krieg gewonnen oder welches Gebiet verloren hat. Über hegemoniale eurozentristische Geschichte hinausgehen heißt, sich darauf zu konzentrieren, was vernachlässigt, vergessen und bewusst ungeschrieben und überschrieben wurde. Es bedeutet, zu kolonialer Zerstörung und Gewalt und ihren heutigen Kontinuitäten zu forschen. Aber auch zu Widerständen von BäuerInnen, zu Befreiungsbewegungen von Versklavten, zu alternativen Gesellschaftsorganisation basierend auf dem Schutz der Natur.

Multiperspektivische, globale Geschichtsschreibung ist in anderen Teilen der Welt, dem Globalen Süden und ehemaligen Kolonien, oft weiter verbreitet. Denn hier sind die gewalttätigen Hinterlassenschaften des Kolonialismus im Alltag oft wirksamer, vorkoloniale Gesellschaftsformen werden eher erinnert und die Befreiungskämpfe mehr gewürdigt.

Auch in Europa hat die postkoloniale Arbeit der letzten Jahrzehnte durchaus Auswirkungen darauf, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesehen werden. Daniel Bendix (4) konstatiert, dass postkoloniale Kritik in der Globales-Lernen-Szene zwar immer noch oft als unbequem empfunden wird, allerdings trotzdem teilweise – auch auf höchster institutioneller Ebene – integriert wird. Erstmals ist auch seit 2018 die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD verankert (Kapitel 8).

Herausforderungen
Allerdings findet imperiale und koloniale Geschichte und die antikolonialen Widerstände dagegen im Globalen Süden z.B. in schulischen Curricula wenig Beachtung. Auch in der Geschichtswissenschaft werden immer wieder kolonial-revisionistische Forderungen laut (5) und Gesetze werden verabschiedet, die eine positive Perspektive auf die Kolonialvergangenheit verordnen (vgl. Frankreich 2005). (6)

Für postkoloniale politische Bildungsarbeit ist es wichtig, koloniale Brüche und Kontinuitäten unserer heutigen (Herrschafts-)Strukturen zu analysieren (glokal e.V. Publikationen 2013-2017). Allerdings ist es für die Förderung von Handlungskompetenz in der Gesellschaft wichtig, sich nicht nur auf Gewaltgeschichte zu konzentrieren. Besonders für unsere politische Praxis ist es wichtig, dass die „menschliche Geschichte nicht nur eine Geschichte der Grausamkeit ist, sondern auch eine Geschichte des Mitgefühls, der Aufopferung für andere, des Mutes, der Freundlichkeit (…) Wenn wir nur das Schlimmste sehen, zerstört dies unsere Fähigkeit, etwas zu tun“ (7).

Nach Vanessa Andreotti und Rene Suša kann „Globales Lernen (...) so transformativ sein wie die im jeweiligen Kontext mögliche analytische Tiefe“ (2018: 44). Doch geht es bei dekolonialer Globalgeschichte nicht um die vereinfachte Idealisierung alternativer historischer Persönlichkeiten und Gesellschaften. Sondern um die von Pilar Cuevas Marín (8) geforderte Vielfalt von Wissen: Wir müssten multiperspektivische historische Erzählungen schaffen, marginalisierte, widerständige Geschichten würdigen und so einen Perspektivwechsel ermöglichen.

Dieser Perspektivwechsel erfordert auch ein beständiges Bemühen um Hörbarkeit im hegemonialen Diskurs. Der kognitive Sprachwissenschaftler George Lakoff wies in seinem 2004 erschienenen Buch "Don't think of an Elefant" darauf hin, dass das menschliche Gehirn in gewisser Weise funktioniert: "Wiederholung stärkt die Synapsen in den neuronalen Schaltkreisen, die Menschen zu denken pflegen". Wenn ein Mensch 99 Mal hört, dass Kolumbus ein Held war, neigt er/sie dazu, dies zu glauben, auch wenn eine Stimme behauptet, dass Kolumbus ein Massenmörder war.

Konkret
Der Beitrag von glokal zu dieser Dekolonisierung von Geschichte ist beispielsweise die Arbeit an unserem eLearning „connecting the dots“. Hierfür haben wir Gegengeschichten der Befreiung und Dekolonisierung recherchiert, Beispiele aus der Globalgeschichte, die Mut machen für gesellschaftliches Engagement in unserer Gegenwart.

Viele dieser Gegengeschichten waren einigen von glokal vorher gänzlich unbekannt, denn Geschichten werden umgeschrieben, überschrieben und vergessen. Es gab aber von Frauen angeführte antikoloniale Befreiungskämpfe, von entflohenen SklavInnen gegründete freie Gemeinschaften, jenseits des binären Mann-Frau-Verständnisses orientierte Geschlechtervorstellungen und auf Solidarität und Naturverbundenheit begründete Gesellschaftsphilosophien (www.connecting-the-dots.org).

Wir hatten viele Schwierigkeiten bei der Recherche von Zitaten. Wir konnten natürlich auf den großen Bemühungen von HistorikerInnen und AktivistInnen weltweit aufbauen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Widerstandsgeschichte aufzuzeichnen (siehe z.B. Howard Zinn 1980). Es war dagegen recht einfach, widerständige Zitate aus männlicher Perspektive aus Europa, Nordamerika, der arabischen Welt und Ostasien zu finden, auch wenn deren Geschichten in Europa relativ unbekannt sind. Zum Beispiel einen Ausspruch des iranischen Präsidenten Mohammad Mossadegh Anfang der 1950er Jahre: „Vielleicht meine größte Sünde ist, dass ich Irans Ölindustrie verstaatlicht habeund das System politischer und wirtschaftlicher Ausbeutung durch das größte Imperium der Welt beendete.“ Die CIA wiegelte die iranische Führungselite gegen Mossadegh auf und bestach die Bevölkerung mit Geld. Das belegen 2017 veröffentlichte Akten (Deutsche Welle 2017). 1953 wurde Mossadegh unter Anklage wegen Hochverrat gestellt und der Schah von Persien eingesetzt.

Es war andererseits sehr schwierig für uns, Zitate aus dem 18. Jahrhundert und davor zu finden, die nicht von weißen europäischen Männern stammen. Deshalb haben wir um Unterstützung von AktivistInnen und ExpertInnen von den Philippinen bis Australien gebeten. Dennoch bleibt die Problematik der verlorenen Geschichten und Zitate bestehen. Manchmal gab es durch Oral History überlieferte Zitate: Zum Beispiel konnten wir von Toypurina, einer antikolonialen Kämpferin im heutigen Kalifornien einen Ausspruch finden, der auf 1787 datiert wird: „Ich bin [zur Missionsstation] gekommen, um die dreckigen Feiglinge zum Kampf zu inspirieren und um nicht den Mut zu verlieren beim Anblick der spanischen Stöcke, die Feuer und Tod spucken, und nicht zu würgen beim üblen Geruch von Pistolenrauch – um fertig zu werden mit den weißen Eindringlingen!“

Oder den von Tupac Katari überlieferten Ausspruch: „Ich werde sterben. Aber ich werde zurückkommen und Millionen sein.“ Katari war ein Aymara-Anführer, der 1781 mit seiner Partnerin Bartolina Sisa im heutigen Bolivien die Rebellion gegen die spanischen Kolonisatoren anführte. Bei seiner Hinrichtung sprach er die obige Prophezeiung aus. Dieser Spruch wurde 2003 in El Alto wieder auf Demonstrationen gerufen, um gegen den Ausverkauf von Erdgas durch den neoliberalen Präsidenten Sanchez de Lozada zu protestieren (9).

Manchmal konnten wir nur auf spannende soziale Bewegungen oder historische Persönlichkeiten oder hinweisen, ohne direkte Zitate anführen zu können: Zum Beispiel gab es im europäischen Mittelalter nicht nur FürstInnen und Mönche, sondern auch viele von Frauen und Männern angeführte soziale Bewegungen. Diese wehrten sich gegen die Privatisierung von Boden, der der Allgemeinheit gehört hatte und gegen die daraus entstehende Armut und die Macht der Kirche und des Adels (9).
Die philippinische Revolutionären Gabriela Silang führte den Widerstand gegen die spanischen Kolonisation an, bevor sie 1763 hingerichtet wurde. Sie gilt in den Philippinen immer noch als Symbol für die wichtige Rolle, die Frauen in der vorkolonialen Gesellschaft gespielt haben, zum Beispiel als Priesterinnen des Babaylan, die durch die Christianisierung verboten wurde.

Fazit
Unser Ziel ist es, zur Vervollständigung und Verbreitung von globaler Geschichte beizutragen. Mit dekolonialer Geschichte möchten wir Menschen dazu ermutigen, neue und alte Geschichten zu erinnern und zu teilen, damit wir Inspirationen bekommen für eine andere Zukunft, die gerechter und solidarischer ist. Vorschläge zu historischen Ereignissen und Persönlichkeiten sind bei uns immer willkommen!

Anmerkungen
1 Klaus Seitz in Venro (2018): GLOBALES LERNEN: WIE TRANSFORMATIV IST ES?  S. 7

2  Paulo Freire (1971): Pädagogik der Unterdrückten, Kreutz verlag, Stuttgart : 90
3  Harald Welzer (2011):Mentale Infrastrukturen, HBS, S. 2-14
4  Ralf Bendix (2018): Decolonizing development education policy: The case of Germany. S. 152
5 Bruce Gilley (2017): The case for colonialism, Third World Quarterly
6 Nach Brandon, Sarkar & Block (2019), ttps://blog.journals.cambridge.org/2019/03/27/labour-history-and-the-case-against-colonialism/
7 Howard Zinn (2006): A power government can not suppress. S. 270)
8 Pilar Cuevas Marín (2013): Memoria colectiva: Hacia un proyecto decolonial
9  Thomas Guthmann in glokal 2017: 98
10 Silvia Federici (2014): Caliban and the Witch

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Carolin Philipp ist Mitglied von glokal e.V. und wohnt in Athen und Berlin. Sie hat zu sozialen Bewegungen in der Krise promoviert und arbeitet u.a. für das Gender Studies Institut der Panteion Universität Athen.