Schmutzige Menschenversuche

Geheime Nukleartests

von Heinrich Nießporeck
Hintergrund
Hintergrund

Wenn man sich als Pazifist mit der Geschichte der Atomtests befasst, dann stößt man auf zwei Dimensionen:

1.    eine politische Frage - Stopp des Wettrüstens

2.    eine humanitäre Frage - eine Men­schenrechtsfrage.

Zur Menschenrechtsfrage sind Anfang diesen Jahres einige neue Fakten in den USA bekannt geworden. Ich möchte die Sache in einen Zusammenhang einord­nen und die These aufstellen und be­gründen, daß die Atomtests immer auch Menschenversuche waren. In den USA wurden von 1945 bis 1962 ca. 250.000 Soldaten abkommandiert, die die Atomtests aus nächster Nähe zu beob­achten und anschließend ins Testge­lände hineinzustürmen hatten, um den Atomkrieg zu proben. Manche Soldaten berichten, daß sie damals aus ihren Schützengräben herausgeschleudert wurden und die Knochen in ihren Hän­den haben sehen können.

Zehntausende dieser Soldaten sind an Lungenkrebs, Leukämie und anderen Krebsarten schwer erkrankt und qual­voll daran zugrunde gegangen. Als Test­opfer anerkannt wurden nur zwei Dut­zend.

Der Journalist Paul Jacobs hat über diese Frage jahrelang recherchiert und einen eindrucksvollen Dokumentarfilm erstellt (Opfer der Atomtests berichten, Verleihgenossenschaft der Filmema­cher, Alfonsstr. 1, 80636 München).

Nur müßig erscheint es mir, darauf hin­zuweisen, daß auch die anderen Atom­mächte solche Menschenopfer darge­bracht haben. So haben allein in der ehemaligen Sowjetunion 400.000 Sol­da­ten an ähnlichen Manövern teilge­nom­men.

Teilnehmer berichten, daß sie damals im verseuchten Gebiet Fische gefangen und Beeren und Pilze gesammelt hätten. 1953 wurden in Karaul in Kasachstan 40 Per­sonen ausgewählt, die in ihrem Dorf zu­rückbleiben mußten und unfreiwillig Zeuge der ersten Explosion einer sowje­tischen Wasserstoffbombe wurden.

Dies nur, damit man später an diesen Menschen Untersuchungen durchführen konnte. (siehe hierzu: Igor Trutanow, Die Hölle von Semipalatinsk, Berlin 1992, Aufbau-Verlag)

Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß alle Atommächte ihre Tests in Gebieten, die von nationalen Minderheiten be­wohnt werden, durchführten: USA - Shoshonen und SüdseeinsulanerInnen, UdSSR - Kasachen und Tschuktschen, Großbritannien - Aborigines und Süd­seeinsulanerInnen, Frankreich - Berbe­rInnen, PolynesierInnen, China - Uigu­ren/innen

Als besonders aufschlussreich sehe ich einige Äußerungen eines Offiziellen der US-Atombehörde AEC aus dem Jahre 1956 an. Vor dem Advisory Comittee for Biology and Medicine (ACBM) führte er aus, daß die Menschen der nördlichen Marshallinseln ein einzigar­tiges Forschungsprojekt darstellten, weil das Gebiet die bei weitestem ver­seuchteste Gegend der Welt sei und:

"Während es wahr ist, daß diese Men­schen nicht in der Weise leben, wie, ich möchte mal sagen, Abendländer, zivili­sierte Menschen, so ist es nichtsdesto­trotz wahr, daß sie uns mehr ähneln als die Mäuse." (Quellen: IPPNW: Radio­aktive Verseuchung von Himmel und Erde, Deutsche Sektion, Körtestr. 10, 10967 Berlin)

1957 wurden die BewohnerInnen der Insel Rongelap deshalb auf ihrer Hei­matinsel wieder angesiedelt, wo 1954 der Test Bravo stattgefunden hatte.

Ich denke, daß man ein solch zynisches Verhalten nur als Rassismus - als nu­klearen Rassismus - bezeichnen kann. Als völlig korrekt erscheint mir in dieser Logik auch, daß in der Statistik des "Department of Energy" (der US-Ener­giebehörde) die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als Atom­tests Nr. 2 und 3 gezählt werden. Eine "militärische Notwendigkeit", im Au­gust 1945 die Atombombe gegen Japan einzusetzen, gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Als ein Hoffnungszeichen muß man es deshalb ansehen, daß in den USA nun damit begonnen wird, wenigstens in ei­nigen Teilbereichen Glasnost zu prakti­zieren, obwohl das, was dabei zutage gefördert wird, einen erschaudern und das Blut in den Adern gefrieren läßt. Umso größer die Hochachtung für die US-Energieministerin Hazel O'Leary, die diese Fakten zu Beginn diese Jahres der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat.

Demnach wurden in den USA vor allem in den fünfziger Jahren von Wissen­schaftlerInnen rund 800 Menschen als Versuchskaninchen für Experimente mit radioaktiven Substanzen benutzt.

Achtzehn angeblich todkranken Patien­tInnen wurden in Krankenhäusern plu­toniumhaltige Spritzen verabreicht, um den Einfluss der radioaktiven Substanz auf das Körpergewebe zu verfolgen. In zwei Gefängnissen wurden 100 Insassen nach ihrer Einwilligung die Hoden ver­strahlt. In einigen Schulen für geistig Behinderte erhielten Kinder zum Früh­stück schwachradioaktive Milch zu trin­ken. Hunderte schwangere Frauen schluckten radioaktive Tabletten, womit die Wirkung radioaktiver Strahlung auf die Embryonen ermittelt werden sollte. In einem anderen Experiment erhielten Neugeborene radioaktives Jod, weil man hoffte, auf diesem Weg ein Mittel gegen Kehlkopferkrankungen zu finden.

Vor allem Kinder haben über das, was mit ihnen gemacht worden ist, nichts wissen können. Auffallend ist, daß es vor allem die Schwachen der Gesell­schaft waren, die für diese Experimente missbraucht wurden - schwangere Frauen, Strafgefangene, Kinder, geistig Behinderte.

Die US-Ministerin Hazel O`Leary er­klärte einem Newsweek-Reporter ihre Reaktion auf die Aufdeckung dieser Akten in ihrem Ministerium so: "Das einzige, woran ich denken konnte, war Nazi-Deutschland." (zitiert nach: Süd­deutsche Zeitung 4.1.94)

In der Tat möchte man meinen, daß sol­che Experimente nur in den schlimm­sten Diktaturen möglich wären - in Bu­chenwald oder im Archipel Gulag. Es geschah aber in einem Land mit einer mehr als 200-jährigen Tradition, in dem es eine freie Presse gibt. Das stärkste Stück aber ist, daß bereits 1986 diese Berichte von einem US-Kongressaus­schuss untersucht wurden.

Der Regierung Reagan und den US-Ge­heimdiensten ist es gelungen, diese Dinge nicht an die Öffentlichkeit drin­gen zu lassen. Die Veröffentlichung die­ser Akten löste jetzt in den USA eine große Welle von Aufsehen, Bestürzung und Protesten hervor. Mehr als 10.000 Anrufe gingen täglich beim Energiemi­nisterium ein. Die 32 Millionen geheim gestempelten Seiten der Akten sollen nun untersucht werden. Eine Abteilung für die Untersuchung und Betreuung der Opfer wurde von Hazel O'Leary einge­richtet.

Ebenfalls von Hazel O`Leary wurde auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, daß von 1945-1990 von den USA 204 nicht angekündigte Atomtests durchge­führt wurden. Die Sowjets haben mit großer Wahrscheinlichkeit alle diese Tests registriert. Die Öffentlichkeit aber wurde belogen.

Angesichts eines solch eklatanten Ver­sagens einer großen Demokratie mit al­len Institutionen und der Presse, aller veröffentlichten Meinung über Jahr­zehnte, kann es nur eine Antwort geben. Die Suche nach der Wahrheit und der Kampf für Menschenrechte ist für das Überleben der Menschheit und für ein Leben unter menschenwürdigen Um­ständen für alle politisch Wachen eine tägliche Pflicht.

 

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Heinrich Nießporeck ist in der Friedenstestkampagne "Ziviler Ungehorsam bis zum Atomteststopp" aktiv.