6x jährlich erscheint unsere Zeitschrift "FriedensForum" und informiert über Neuigkeiten aus der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeheft zu!
Schmutzige Menschenversuche
Geheime Nukleartests
von
Wenn man sich als Pazifist mit der Geschichte der Atomtests befasst, dann stößt man auf zwei Dimensionen:
1. eine politische Frage - Stopp des Wettrüstens
2. eine humanitäre Frage - eine Menschenrechtsfrage.
Zur Menschenrechtsfrage sind Anfang diesen Jahres einige neue Fakten in den USA bekannt geworden. Ich möchte die Sache in einen Zusammenhang einordnen und die These aufstellen und begründen, daß die Atomtests immer auch Menschenversuche waren. In den USA wurden von 1945 bis 1962 ca. 250.000 Soldaten abkommandiert, die die Atomtests aus nächster Nähe zu beobachten und anschließend ins Testgelände hineinzustürmen hatten, um den Atomkrieg zu proben. Manche Soldaten berichten, daß sie damals aus ihren Schützengräben herausgeschleudert wurden und die Knochen in ihren Händen haben sehen können.
Zehntausende dieser Soldaten sind an Lungenkrebs, Leukämie und anderen Krebsarten schwer erkrankt und qualvoll daran zugrunde gegangen. Als Testopfer anerkannt wurden nur zwei Dutzend.
Der Journalist Paul Jacobs hat über diese Frage jahrelang recherchiert und einen eindrucksvollen Dokumentarfilm erstellt (Opfer der Atomtests berichten, Verleihgenossenschaft der Filmemacher, Alfonsstr. 1, 80636 München).
Nur müßig erscheint es mir, darauf hinzuweisen, daß auch die anderen Atommächte solche Menschenopfer dargebracht haben. So haben allein in der ehemaligen Sowjetunion 400.000 Soldaten an ähnlichen Manövern teilgenommen.
Teilnehmer berichten, daß sie damals im verseuchten Gebiet Fische gefangen und Beeren und Pilze gesammelt hätten. 1953 wurden in Karaul in Kasachstan 40 Personen ausgewählt, die in ihrem Dorf zurückbleiben mußten und unfreiwillig Zeuge der ersten Explosion einer sowjetischen Wasserstoffbombe wurden.
Dies nur, damit man später an diesen Menschen Untersuchungen durchführen konnte. (siehe hierzu: Igor Trutanow, Die Hölle von Semipalatinsk, Berlin 1992, Aufbau-Verlag)
Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß alle Atommächte ihre Tests in Gebieten, die von nationalen Minderheiten bewohnt werden, durchführten: USA - Shoshonen und SüdseeinsulanerInnen, UdSSR - Kasachen und Tschuktschen, Großbritannien - Aborigines und SüdseeinsulanerInnen, Frankreich - BerberInnen, PolynesierInnen, China - Uiguren/innen
Als besonders aufschlussreich sehe ich einige Äußerungen eines Offiziellen der US-Atombehörde AEC aus dem Jahre 1956 an. Vor dem Advisory Comittee for Biology and Medicine (ACBM) führte er aus, daß die Menschen der nördlichen Marshallinseln ein einzigartiges Forschungsprojekt darstellten, weil das Gebiet die bei weitestem verseuchteste Gegend der Welt sei und:
"Während es wahr ist, daß diese Menschen nicht in der Weise leben, wie, ich möchte mal sagen, Abendländer, zivilisierte Menschen, so ist es nichtsdestotrotz wahr, daß sie uns mehr ähneln als die Mäuse." (Quellen: IPPNW: Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde, Deutsche Sektion, Körtestr. 10, 10967 Berlin)
1957 wurden die BewohnerInnen der Insel Rongelap deshalb auf ihrer Heimatinsel wieder angesiedelt, wo 1954 der Test Bravo stattgefunden hatte.
Ich denke, daß man ein solch zynisches Verhalten nur als Rassismus - als nuklearen Rassismus - bezeichnen kann. Als völlig korrekt erscheint mir in dieser Logik auch, daß in der Statistik des "Department of Energy" (der US-Energiebehörde) die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als Atomtests Nr. 2 und 3 gezählt werden. Eine "militärische Notwendigkeit", im August 1945 die Atombombe gegen Japan einzusetzen, gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.
Als ein Hoffnungszeichen muß man es deshalb ansehen, daß in den USA nun damit begonnen wird, wenigstens in einigen Teilbereichen Glasnost zu praktizieren, obwohl das, was dabei zutage gefördert wird, einen erschaudern und das Blut in den Adern gefrieren läßt. Umso größer die Hochachtung für die US-Energieministerin Hazel O'Leary, die diese Fakten zu Beginn diese Jahres der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat.
Demnach wurden in den USA vor allem in den fünfziger Jahren von WissenschaftlerInnen rund 800 Menschen als Versuchskaninchen für Experimente mit radioaktiven Substanzen benutzt.
Achtzehn angeblich todkranken PatientInnen wurden in Krankenhäusern plutoniumhaltige Spritzen verabreicht, um den Einfluss der radioaktiven Substanz auf das Körpergewebe zu verfolgen. In zwei Gefängnissen wurden 100 Insassen nach ihrer Einwilligung die Hoden verstrahlt. In einigen Schulen für geistig Behinderte erhielten Kinder zum Frühstück schwachradioaktive Milch zu trinken. Hunderte schwangere Frauen schluckten radioaktive Tabletten, womit die Wirkung radioaktiver Strahlung auf die Embryonen ermittelt werden sollte. In einem anderen Experiment erhielten Neugeborene radioaktives Jod, weil man hoffte, auf diesem Weg ein Mittel gegen Kehlkopferkrankungen zu finden.
Vor allem Kinder haben über das, was mit ihnen gemacht worden ist, nichts wissen können. Auffallend ist, daß es vor allem die Schwachen der Gesellschaft waren, die für diese Experimente missbraucht wurden - schwangere Frauen, Strafgefangene, Kinder, geistig Behinderte.
Die US-Ministerin Hazel O`Leary erklärte einem Newsweek-Reporter ihre Reaktion auf die Aufdeckung dieser Akten in ihrem Ministerium so: "Das einzige, woran ich denken konnte, war Nazi-Deutschland." (zitiert nach: Süddeutsche Zeitung 4.1.94)
In der Tat möchte man meinen, daß solche Experimente nur in den schlimmsten Diktaturen möglich wären - in Buchenwald oder im Archipel Gulag. Es geschah aber in einem Land mit einer mehr als 200-jährigen Tradition, in dem es eine freie Presse gibt. Das stärkste Stück aber ist, daß bereits 1986 diese Berichte von einem US-Kongressausschuss untersucht wurden.
Der Regierung Reagan und den US-Geheimdiensten ist es gelungen, diese Dinge nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Die Veröffentlichung dieser Akten löste jetzt in den USA eine große Welle von Aufsehen, Bestürzung und Protesten hervor. Mehr als 10.000 Anrufe gingen täglich beim Energieministerium ein. Die 32 Millionen geheim gestempelten Seiten der Akten sollen nun untersucht werden. Eine Abteilung für die Untersuchung und Betreuung der Opfer wurde von Hazel O'Leary eingerichtet.
Ebenfalls von Hazel O`Leary wurde auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, daß von 1945-1990 von den USA 204 nicht angekündigte Atomtests durchgeführt wurden. Die Sowjets haben mit großer Wahrscheinlichkeit alle diese Tests registriert. Die Öffentlichkeit aber wurde belogen.
Angesichts eines solch eklatanten Versagens einer großen Demokratie mit allen Institutionen und der Presse, aller veröffentlichten Meinung über Jahrzehnte, kann es nur eine Antwort geben. Die Suche nach der Wahrheit und der Kampf für Menschenrechte ist für das Überleben der Menschheit und für ein Leben unter menschenwürdigen Umständen für alle politisch Wachen eine tägliche Pflicht.