Gehorsam oder Gewissen?

von Jürgen Rose

Vor mehr als zwei Jahren, am 15. März 2007, habe ich mich selbst als zuständiger Stabsoffizier im Wehrbereichskommando IV – Süddeutschland – geweigert, auf Befehl die Verlegung von Tanklastzügen der Bundeswehr nebst der benötigten Bedienungsmannschaften nach Afghanistan zu organisieren. In der dienstlichen Meldung an meinen Vorgesetzten hatte ich damals formuliert: „Im Hinblick auf die von der Bundesregierung ge­trof­fene Entscheidung, Waffensysteme TORNADO der Bundesluftwaffe zum Einsatz nach Af­gha­nistan zu entsenden … erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Ge­wis­sen vereinbaren kann, den Einsatz von TORNADO-Waffensystemen in Af­gha­ni­stan in irgendeiner Form zu unterstützen, da meiner Auffassung nach nicht auszuschließen ist, dass ich hierdurch kraft aktiven eigenen Handelns zu einem Bundeswehreinsatz bei­tra­ge, gegen den gravierende verfassungsrechtliche, völkerrechtliche, strafrechtliche sowie völ­ker­straf­rechtliche Bedenken bestehen. Zugleich beantrage ich hiermit, auch von allen weiteren Aufträgen, die im Zusammenhang mit der „Operation Enduring Freedom“ im allgemeinen und mit der Entsendung der Waffensysteme TOR­NA­DO nach Afghanistan im besonderen stehen, entbunden zu werden.“ Die entsetzlichen Folgen des am 4. September dieses Jahres von dem Bundeswehroberst Georg Klein befohlenen Luftan­griffs auf zwei von afghanischen Aufständischen erbeutete Tanklastwagen, die sich im Kunduz-Fluss festgefahren hatten, bestätigten mich vollauf in meiner damals getroffenen Gewissensentscheidung.

Die Möglichkeit zu solchen Gewissensentscheidungen besitzen im Prinzip alle Soldaten, die von ihren Regierungen für Einsätze, die durch völkerrechtliche Man­date entweder nicht hinreichend oder gar nicht abgedeckt sind, missbraucht werden (sollen). Dies tun im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ ge­rade die in der NATO verbündeten westlichen Demokratien, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, immer häufiger.

Da das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil zur Gewissensfreiheit von Soldaten vom 21. Juni 2005 (BVerwG 2 WD 12.04) festgelegt hat, dass „vom jeweiligen Soldaten ... er­wartet werden [kann], dass er seine Gewissensnöte seinen zuständigen Vorgesetzten mög­lichst umgehend und nicht ‚zur Unzeit’ darlegt sowie auf eine baldmöglichste faire Klärung der zugrunde liegenden Probleme dringt“, erscheint es für jeden Soldaten und jede Soldatin als ausgesprochen ratsam, prophylaktisch eine „Dienstliche Erklärung“ zu seiner resp. ihrer Personalakte nehmen zu lassen, wie sie exemplarisch im Friedensforum 3/2006, S. 9 abgedruckt ist. [

Gerade in Zeiten des Krieges kommt jeder und jede sich im Spannungsfeld von Gehorsamspflicht, Rechtstreue und Gewissensfreiheit bewegende Militärangehörige nicht umhin, sich der fundamentalen Frage zu stellen, die da lautet: Wie darf oder soll oder muss ich als prinzipiell dem Primat der Politik unterworfener Soldat handeln, wenn meine politische Leitung und militärische Führung mich in einen Krieg befiehlt, in dem unvermeidlich Menschen getötet und verwundet werden, wenn es sich dabei möglicherweise oder gar offensichtlich um einen Angriffskrieg handelt – stellt letzterer doch ein völkerrechtliches Verbrechen dar. Diese Frage muss jeder individuell für sich beantworten, ohne dass er oder sie die Möglichkeit besäße, sich dieser existen­tiell bedeutsamen Problematik zu entziehen. Denn spätestens seit dem Nürnberger Kriegs­ver­brechertribunal nach dem Zweiten Weltkrieg entfällt der Rekurs auf die übergeordnete politische und militärische Autorität als Exkulpation: Dort wurde nämlich verbindlich festgeschrieben, dass kein Soldat ungesetzliche Befehle ausführen darf. Der rechts- und moralphilosophische Begründungsnexus hierfür basiert in Anlehnung an Immanuel Kant auf der Erkenntnis, dass für jegliches menschliche Handeln das eigene Gewissen den Maßstab bildet und setzt. Für den Umgang mit der soldatischen Verantwortung impliziert dies zwingend die Nichtigkeit des Rückzugs auf erhaltene Befehle zur Legitimation irgendwelchen soldatischen Handelns. Indem ein Soldat einen Befehl ausführt, macht er einen fremden Willen zu seinem eigenen und bevor er diesen seinen eigenen Willen durch sein Handeln realisiert, muss er dessen Legitimität an seinem eigenen Gewissen prüfen.

Die in der Tradition der Aufklärung verwurzelte moderne Rechtsphilosophie fand ihren Niederschlag in den sogenannten Nürnberger Prinzipien, die wiederum in unterschiedliche nationale wehrrechtliche Gesetzeswerke einflossen, indes auch auf völkerrechtlicher Ebene bekräftigt wurden. So heißt es im § 11 des deutschen Soldatengesetzes, der die Gehorsamspflichten regelt, unter anderem: „Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde.“ Und im § 10 SG, der die Pflichten des Vorgesetzten umschreibt, wird festlegt: „Er darf Befehle nur zu dienstlichen Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen.“ Analog zu diesen nationalen Gesetzesnormen wird im Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit, den die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE im Dezember 1994 in Budapest vereinbarten, stipuliert:

„30. Jeder Teilnehmerstaat wird die Angehörigen seiner Streitkräfte mit dem humanitären Völkerrecht und den geltenden Regeln, Übereinkommen und Verpflichtungen für bewaffnete Konflikte vertraut machen und gewährleisten, dass sich die Angehörigen der Streitkräfte der Tatsache bewusst sind, dass sie nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind.

31. Die Teilnehmerstaaten werden gewährleisten, dass die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der Streitkräfte diese im Einklang mit dem einschlägigen innerstaatlichen Recht und dem Völkerrecht ausüben und dass ihnen bewusst gemacht wird, dass sie nach diesem Recht für die unrechtmäßige Ausübung ihrer Befehlsgewalt individuell zur Verantwortung gezogen werden können und dass Befehle, die gegen das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht verstoßen, nicht erteilt werden. Die Verantwortung der Vorgesetzten entbindet die Untergebenen nicht von ihrer individuellen Verantwortung.“

Dieser über alle Stufen der militärischen Hierarchie hinweg für jeden Soldaten – gleich ob Vorgesetzter oder Untergebener – geltende Rechtssatz individueller Verantwortlichkeit für sein Tun und Lassen wurde und wird von hochrangigen militärischen Führern immer wieder anerkannt und bekräftigt. So po­stu­lier­te der vormalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Klaus Naumann, gar eine soldatische Pflicht zur Gehorsamsverweigerung, als er in seinem Generalinspekteursbrief 1/1994 ausführte: „In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehor­samsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechts­staat­lichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlich-demokratischen Rechts­ordnung gestellt wür­de.“

Über die Grenzen der soldatischen Gehorsamspflicht hat auch ein US-ameri­ka­ni­scher Justizminister, nämlich Ramsey Clark, räsoniert und moralisch geurteilt, als er konstatierte: „Die größte Feig­heit besteht darin, einem Befehl zu gehorchen, der eine moralisch nicht zu recht­fertigende Handlung fordert.“ Daraus folgt logisch zwingend: Ein Sol­dat, der aus Feigheit rechts- oder moralwidrige Befehle ausführt, handelt schlecht­hin aus niedrigen Beweggründen. Und wer „aus niedrigen Be­weggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mit­teln ... einen Menschen tötet“, der ist nach dem deutschen Strafgesetzbuch ein Mörder. Die Unabweisbarkeit dieser Logik hatte schon Kurt Tucholsky erkannt, als er einst grimmig deklarierte: „Soldaten sind Mör­der.“

Wie die erkleckliche Anzahl von Gehorsamsverweigerungen in den Reihen diverser Interventions- und Besatzungsarmeen illustriert, ist unter den „Handwerkern des Krieges“, welche die von der politischen Führung erteilten Kampfaufträge ausführen sollen, die Bereitschaft vorhanden, solche rechtlichen und moralischen Maximen bei ihrem Handeln zu berücksichtigen. Nicht wenige Soldaten und Soldatinnen in den Streitkräften der USA, Groß­bri­tanniens, Deutschlands oder auch Israels haben daher die Konsequenz gezogen und sich illegalem Morden und Krepieren verweigert. Wie effektiv diese Form der Soldatenverweigerung im Hinblick auf die Erhaltung des Friedens letzten Endes sein kann, hat der First Lieutenant der US-Army und erfolgreiche Irakkriegsverweigerer Ehren K. Watada her­­aus­gestellt, als er sagte: „Um einen illegalen und ungerechten Krieg zu stoppen, können Soldaten sich entscheiden, den Kampf einzustellen. … Wenn Soldaten erkennen, dass Krieg dem entgegensteht, was die Verfassung gebietet – wenn sie aufstehen und ihre Waffen niederlegen –, kann kein Präsident jemals wieder einen Angriffskrieg beginnen.“

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Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr a.D. und Vorstandsmitglied der kritischen SoldatInnenvereinigung ,Darmstädter Signal'.