Ukraine: Krise & Krieg

Gemeinsam für soziale Gerechtigkeit?

von Bernhard Clasen

Manchmal gibt es Augenblicke im Krieg in der Ostukraine, da fragt man sich, warum die beiden Seiten eigentlich Krieg miteinander führen. Schließlich verstehen sie sich doch bestens. Einer dieser Augenblicke war das orthodoxe Weihnachtsfest am 7. Januar 2015. Pünktlich fuhren 50 ukrainische Soldaten den von aufständischen Truppen belagerten Flughafen der ostukrainischen Stadt Donezk an. Dieser Flughafen ist ein Zentrum der erbitterten Kämpfe. Bei ihrer Anreise wurden sie unterstützt von der Polizei der aufständischen „Volksrepublik Donezk“. Diese machte den frischen ukrainischen Truppen den Weg frei, damit sie mit 49 Soldaten, von denen einer bereits bei den Kämpfen um den Flughafen gefallen war, die Stellungen um den Flughafen tauschen konnten. Bereitwillig ließen die ukrainischen Soldaten bei ihrer Rotation von den Aufständischen ihre Identität überprüfen, bevor sie weiterfuhren. Anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfestes übergaben sie den Aufständischen Pralinen. Und die Bewaffneten der Gegenseite revanchierten sich mit Geschenken, gaben den ukrainischen Soldaten Gebäck mit auf den Weg.

Doch die Illusion vom Frieden und der Verständigung währte nur wenige Minuten. Dann nahmen die Soldaten beider Seiten wieder ihren Platz ein, in einem Krieg, der nach konservativen Schätzungen schon mindestens 5.000 Menschen das Leben gekostet hat.

Begonnen hatten die Umwälzungen in der Ukraine sehr hoffnungsvoll. Noch gut kann ich mich an den Januar 2013 erinnern. Ich lebte damals für einige Wochen in einem Hochhaus irgendwo in einer Schlafstadt im Süden von Kiew. In dem Haus herrschte Aufbruchstimmung. „Wir jagen gerade einen korrupten Präsidenten aus dem Amt“ hatten mir einige Frauen und Männer im Aufzug des Hauses zugeraunt. Es wäre Zeit, dass sich auch die anderen Hausbewohner auf den Weg zum Maidan machten. Denn dort geschehe gerade eine Revolution. Die Menschen hier in „meinem“ Hochhaus waren keine politischen AktivistInnen. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatten sie sich für eine Sache auf die Straße gewagt, die von den Mächtigen nicht geduldet wurde. Doch sie glaubten fest an ihre Sache: nun schaffe man es endlich, mit einem grausamen Diktator Schluss zu machen, ein System von Demokratie und Rechtsstaat zu schaffen, „so wie in Europa“. Es war erstaunlich, wie sich Rentnerinnen und Rentner bei Temperaturen von Minus 25 Grad auf die Straße gewagt hatten. Da war nichts gestellt, von außen beeinflusst oder gar bezahlt. Mitten im Zentrum von Kiew hatten regierungskritische Kräfte eine Zeltstadt mit eigener Infrastruktur aufgebaut, die sehr an den Widerstand in Wackersdorf erinnerte.

Doch irgendwann kippte die Stimmung. Betrunken von den eigenen Erfolgen und in dem sicheren Gefühl, endlich eine neue demokratische und friedliche Ordnung geschaffen zu haben, übersahen viele AktivistInnen der „Revolution der Würde“ Entwicklungen, die die Erfolge des demokratischen Aufbruchs in Frage stellten: AktivistInnen aus dem linken Spektrum, die sich mit sozialen Forderungen auf den Maidan gewagt hatten, wurden als „Kommunisten“ beschimpft und vom Maidan vertrieben. BesucherInnen des Maidan, die irgendjemand als Provokateure „enttarnt“ hatte, wurden von dem „Selbstschutz des Maidan“ festgenommen und einer peinlichen Befragung unterzogen. Da konnte es schon passieren, dass man mitgenommen wurde, nur weil man in einer Diskussion auf dem Maidan Kritik an der Maidan-Bewegung geäußert hatte.

Auch im Osten der Ukraine wagten sich die Menschen auf die Straße, kämpften für mehr Unabhängigkeit von der Kiewer Zentralregierung und die Gleichberechtigung der russischen Sprache. Mit der Gewaltfreiheit der Demonstranten in den ostukrainischen Gebieten Lugansk und Donezk, die mit Porträts von Josef Stalin und der Mutter Gottes auf die Straßen gegangen waren, war es jedoch sehr schnell vorbei. Auch hier setzte sich schnell Intoleranz gegenüber Andersdenkenden durch. Ich habe selbst im Frühjahr 2014 im ostukrainischen Donezk gesehen, wie mehrere hundert mit Baseball-Schlägern bewaffnete maskierte Menschen mit russischen Fahnen in der Hand eine pro-ukrainische Demonstration überfallen hatten. Die für die Kiewer Zentralregierung und den Maidan demonstrierenden DemonstrantInnen wurden von den maskierten Menschen durch die Innenstadt gejagt. Sogar auf dem Parkplatz meines Hotels in Donezk schlugen diese Maskierten auf einen Mann ein, nur weil er ein T-Shirt mit den ukrainischen Nationalfarben trug. Bewaffnet besetzten die Demonstranten Verwaltungs- und Regierungsgebäude in zahlreichen ostukrainischen Städten.

Die Antwort aus Kiew ließ nicht lange auf sich warten. Und sie war bewaffnet. Gemeinsam mit Freiwilligenverbänden, die sich vielfach aus dem rechtsradikalen Milieu rekrutierten, kämpfte die ukrainische Armee gegen die Aufständischen der „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk. Dieses Mal wollte man nicht kampflos die Abtrennung eines Gebietes zulassen, wie man es noch bei der russischen Annexion der Krim getan hatte. In ihrem Kampf gegen die Aufständischen schreckte die ukrainische Armee auch nicht vor einem Beschuss ziviler Ziele zurück. Die Stadt Perwomajsk in der Nähe von Lugansk wurde fast vollständig zerstört. Eine Delegation der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die die Stadt besucht hatte, verglich diese mit dem tschetschenischen Grosnij während des ersten Tschetschenien-Krieges. Damals hatte die russische Regierung versucht, mit einer fast vollständigen Zerstörung von tschetschenischen Städten den tschetschenischen Separatisten den Boden unter den Füßen zu entziehen.

Im Dezember wurde es ruhiger in den umkämpften Gebieten der Ostukraine. Das Abflauen der Kämpfe ist nicht nur einem am 5. Dezember im weißrussischen Minsk geschlossenen Waffenstillstand zu verdanken. Beide Seiten haben keine Kraft mehr. Die ukrainische Wirtschaft ist einem Zusammenbruch nahe, immer mehr Ukrainer weigern sich, in den Krieg zu ziehen. Die Sanktionen gegen Russland und der niedrige Ölpreis halten Russland, den einzigen Bündnispartner der ostukrainischen „Volksrepubliken“, von einem noch stärkeren militärischen Engagement zugunsten der Aufständischen ab.

Die russische Beteiligung
Es gibt sie, die russischen Truppen im Donbass. Ich habe allein an einem November-Abend in Lugansk 50 olivgrüne LKWs ohne Hoheitszeichen gesehen, die von der russisch-ukrainischen Grenze gekommen waren und die Straße nach Donezk genommen hatten. Das sei nichts besonderes, hatte mir mein Taxifahrer erklärt. In den vergangenen Tagen sei fast jeden Abend kurz nach Einbruch der Dunkelheit eine Militärkolonne von der russisch-ukrainischen Grenze eingetroffen.

Ein neuer kalter Krieg?
Es spricht vieles dafür, dass die heiße Phase des ukrainischen Bürgerkrieges unter russischer Beteiligung weitgehend beendet ist. Dem heißen Krieg von 2014 werden wohl noch einige Jahre eines kalten Krieges folgen, der auf dem Rücken der Menschen in der gesamten Ukraine ausgetragen werden wird.

Mit einer totalen Wirtschaftsblockade will Kiew die Bevölkerung der von der Zentralregierung nicht kontrollierten Gebiete mürbe machen. Kiew bezahlt keine Renten, keine Sozialhilfen, keine Unterstützungsleistungen für Randgruppen in die von den Separatisten kontrollierten Gebiete. Sogar die Belieferung der „Volksrepubliken“ mit Medikamenten hat Kiew untersagt. Auch die Banken dürfen nicht mehr mit den sog. „besetzten Gebieten“ zusammenarbeiten. In der Folge verloren Millionen den Zugriff auf ihr gesamtes Vermögen, sind gezwungen von dem zu leben, was sie im Garten oder auf dem Land anbauen können. Mit Ausnahme weniger Lebensmittelläden, Friseure und Blumengeschäften sind alle Geschäfte in Lugansk und Donezk geschlossen. Die Menschen gehen jeden Tag auf den Markt. Dort können sie entweder Lebensmittel, Tabak oder Alkohol kaufen oder sich bemühen, einen Teil ihrer eigenen Habseligkeiten zum Verkauf anzubieten.

Die ukrainische Energiewirtschaft ist zum großen Teil von Russland abhängig. Und Russland ist bereit, diese wirtschaftliche Abhängigkeit politisch zu nutzen. Mehr als die Hälfte der im November und Dezember in den ukrainischen Heizkraftwerken verfeuerten Kohle wurde aus Russland importiert, 90 Prozent des Brennstoffes für die 15 Reaktorblöcke der vier ukrainischen Atomkraftwerke stammen aus Russland. Mehrfach waren im Dezember in Russland Drohungen laut geworden, die Kohleexporte in die Ukraine einzustellen. Im Frühjahr hatte der russische Vizepremier Dmitrij Rogosin mit einem Lieferstopp russischer Brennstäbe an ukrainische Atomkraftwerke gedroht.

Wie weiter?
Auch wenn vieles für eine militärische Entspannung spricht – die Konflikte im Land dürften sich eher verschärfen. Und es sieht vieles danach aus, als wäre die nationale Frage nicht mehr die erste Priorität für die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung. Eine Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft der ukrainischen Stadt Poltawa berichtete mir von hunderten Strafverfahren gegen Männer, die sich dem Militärdienst entziehen wollen. Am 7. Januar wurden in der ostukrainischen Stadt Charkow 500 Milizionäre entlassen, weil sie sich geweigert hatten, sich in das Kriegsgebiet versetzen zu lassen. Kriegsverletzte fühlen sich vom Staat im Stich gelassen, traumatisierte Männer kehren von der Front zurück und können sich nur noch schwer in das bürgerliche Leben einfinden.

Immer mehr bewegen soziale Fragen die Bevölkerung. Die ukrainische Regierung macht das Land mit neuen Sparmaßnahmen zunehmend IWF-kompatibel. Seit dem 1. Januar gibt es in der Ukraine eine Steuer für Rentner. Wer eine Rente von über 200 Euro erhält, muss davon 15% Steuern bezahlen. Gleichzeitig wurde die Kriegssteuer von 1,5% bis auf weiteres verlängert. Und Gas wird, wie vom IWF gefordert, um 60 Prozent teurer. Dies ist ein harter Schlag vor allem für BewohnerInnen von kleineren Ortschaften, in denen die meisten mit einer kleinen Gasheizung ihre Wohnungen warm halten.

Einer der wenigen Linken, die sich in der Anfangsphase an den Maidan-Protesten beteiligt hatten, ist Igor Panjuta von der Sozialistischen Partei. Es sei ein Fehler gewesen, so Panjuta, dass sich die Maidan-Bewegung gegen die Protestbewegung in der Ostukraine habe ausspielen lassen. Panjuta setzt darauf, dass die soziale Frage die Protestbewegung in der Westukraine und der Ostukraine vereint, man gemeinsam gegen die Herrschaft der Oligarchen und für mehr soziale Gerechtigkeit kämpft.

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Krisen und Kriege

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