Die Anfänge

Geschichte des Ostermarsches in Deutschland

von Michael Schmid

In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre fanden die massenhaften Proteste „Kampf dem Atomtod“ statt, die von der SPD, den Gewerkschaften und der Evangelischer Kirche sowie von einzelnen Persönlichkeiten organisiert und maßgeblich bestimmt worden waren. Als die SPD 1959 mit ihrem „Godesberger Programm“ einen politischen Kurswechsel vollzog, hatte sie den „Kampf dem Atomtod“-Protest abgewürgt.

 

 

Als Reaktion auf das Kampagnenende organisierten verschiedene pazifistische Gruppen 1960 einen ersten Ostermarsch in Deutschland. Der Anstoß zu dieser Aktionsform kam aus Großbritannien. Dort wurde seit 1958 unter dem Namen „Campaign for Nuclear Disarmament“ jährlich von Karfreitag bis Ostermontag vom britischen Atomwaffenzentrum Aldermaston in das 80 km entfernte London marschiert. Der Pazifist und Quäker Konrad Tempel aus Hamburg hatte beim ersten Ostermarsch in England teilgenommen und anschließend begeistert vor Gruppen von Kriegsdienstverweigerern in Norddeutschland berichtet. Dies wurde 1960 von pazifistischen Gruppierungen mit einem drei- bis viertägigen Sternmarsch nach Bergen-Hohne aufgegriffen, wo die US-Armee Honest-John-Raketen als Träger für Atomwaffen erprobte. Bei diesem ersten deutschen Ostermarsch wurde auf die strikte Unabhängigkeit von Großorganisationen geachtet und „von oben nach unten“ verordnete und durchgeführte Kundgebungen abgelehnt. Diese Aktionsform erforderte es, dass Teilnehmende sich selbst mit ihrer Person einbringen mussten. Mit der Länge des Marsches über mehrere Tage sollte vor allem die Glaubwürdigkeit der Bewegung und der mitmarschierenden Menschen bewiesen werden. Gerade in den Hochzeiten des Kalten Krieges brauchte es zudem einigen Mut, mit wenigen hundert Menschen gegen Atomwaffen in Ost und West auf die Straßen zu gehen. Es musste manche Schikanen und einiger Spott ertragen werden.

Verkörperte der erste Ostermarsch wahrlich keine Massenbewegung, so wurde er doch zum Auftakt für eine unabhängige Friedensbewegung. Innerhalb der nächsten Jahre wuchsen die jährlich durchgeführten Ostermärsche zahlenmäßig zu einer nicht mehr übersehbaren Bewegung an. Inhaltlich fand gegenüber der anfangs rein moralischen Argumentation und Motivation eine Entwicklung zu einer konkreten Politisierung statt. So wurden im Aufruf 1963 u.a. Forderungen nach Verhandlungen über eine atomwaffenfreie, militärisch ausgedünnte Entspannungszone in Mitteleuropa gestellt.

Ab 1965 erhielt die zur „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) gewordene Bewegung eine neue Dimension. Vor allem der Vietnamkrieg und die Notstandsgesetzgebung führten zu einer verschärften politischen Konfrontation. Nun standen nicht mehr nur Probleme der Abrüstung und die Gefahren der Atomwaffen im Mittelpunkt; vielmehr erweiterte sich das Blickfeld erheblich: Rüstung und Abrüstung wurden nun unter Berücksichtigung politisch-ökonomischer Grundlagen diskutiert und Probleme der Demokratisierung mit in den Argumentations- und Forderungskatalog aufgenommen.

Zudem wurden von der Ostermarsch-Bewegung, deren Name letztmals 1968 in „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ geändert wurde, neben den traditionellen Märschen neue Aktionsformen entwickelt: Mahnwachen und gewaltfreie Blockaden wurden organisiert, eigene Zeitungen für die inhaltliche Diskussion und als Informationsmedium gedruckt und vertrieben. Es fand in vielen Bereichen eine kreative Weiterentwicklung weg von den starren, auch hierarchischen Formen bisheriger Großkundgebungen hin zu vielfältigen Aktionsformen statt. Klaus Vack, langjähriger Geschäftsführer der Kampagne, sprach später im Rückblick von einer regelrecht kulturrevolutionären Dimension, welche die Aktivitäten der Ostermarsch-Bewegung annahmen.

Mit dem Anwachsen der „APO“ allerdings, der daraus resultierenden Radikalisierung des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) im Kampf gegen die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg und den „Kapitalismus“ wurde eine Aufrechterhaltung der bisherigen Ostermärsche als Aktionsform immer schwieriger.  Der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei belastete 1968 die Zusammenarbeit der verschiedenartigen Teile der Kampagne außerordentlich. So fand 1969 schließlich der letzte, gemeinsame Ostermarsch statt. Die kollektive Erkenntnis, dass hinter den Problemen der Rüstung letztlich die Frage nach Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft steht, ließ keine gemeinsame Antwort auf die Frage zu, wie diese gesellschaftlichen Strukturen verändert werden könnten. Große Teile der Kampagne versuchten in der Folge in je spezifischen Ansätzen an einer Überwindung, andere an einer Reform der kapitalistischen Gesellschaft zu arbeiten.

Immerhin hatte diese neue Aktionsform in den 1960er Jahren mit mehrtägigen Märschen, unabhängig und selbständig organisiert, zur ersten „Neuen Sozialen Bewegung“ in der Bundesrepublik geführt. Nach einer Unterbrechung in den Siebzigerjahren wurde ab 1980 wieder an diese Ostermarsch-Tradition angeknüpft, die bis heute fortgesetzt wird.

 

Literaturhinweis: Uli Jäger/Michael Schmid: „Wir werden nicht Ruhe geben …”. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1945 - 1982. Geschichte, Dokumente, Perspektiven. Verein für Friedenspädagogik Tübingen, 1982. 48 Seiten. Diese vergriffene Broschüre ist im Internet dokumentiert unter: www.lebenshaus-alb.de/magazin/004900.html

Direkter Link zum Kapitel „Die Ostermarsch-Bewegung“: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/004912.html

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Michael Schmid, Sozialwissenschaftler und Pädagoge, ist u. a. seit über 40 Jahren Mitglied in der DFG-VK und im Versöhnungsbund; er ist Geschäftsführer und Referent für Friedensfragen von Lebenshaus Schwäbische Alb e. V. Nähere Informationen auf www.lebenshaus-alb.de