"Die Realität der muslimischen Einwanderer muß früher oder später anerkannt werden!"

Gespräch mit Hasan Özdogan

von Norbert Müller
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Hsasn Özdogan ist stellvertertender Generalsekrtär des Verbandes Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT)

 

Norbert Müller: Ich möchte Sie bitten den Verband AMGT einmal vorzustel­len.

Hasan Özdogan: AMGT ist der größte nichtstaatliche islamische Dachverband in Europa. Wir haben ca 500 Zweig­stellen in ganz Europa, darüberhinaus auch Vertretungen außerhalb Europas, so in Nordamerika und Zentralaisen und versorgen darüber über 200.000 Mit­glieder. Wir unterhalten Beziehungen zu zahlreichen anderen islamischen Grup­pen und Organisationen weltweit.

Norbert Müller: Wie beurteilen Sie die Situation der Muslime in Deutschland?

Hasan Özdogan: Dies ist eine Sache, die wir ambivalent betrachten. Sie wird erstens geprägt dadurch, daß wir vor 30 Jahren als Einwanderer nach Deutsch­land gekommen sind. In der ersten Zeit der Immigration war die Frage Religi­onsausübung nicht vordergründig. Diese Frage ist erst aufgetaucht, als die Leute bemerkten, daß sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden, insbeson­dere, als auch ihre Frauen und Kinder hierherkamen. Da tauchten dann Fragen auf wie die nach der Erziehung und Bil­dung der Kinder, die alle auch mit der Religion zusammenhängen. Da fragten sich dann die Leute, wie können wir un­sere Religion in Deutschland und den anderen Immigrationsländern praktizie­ren? So entstand dann eine Entwicklung von der Basis her, die zur Entstehung der ersten "Hinterhofmoscheen" führte. Später erfolgte ein Zusammenschluss zu Verbänden und es bildeten sich die Or­ganisationen, die wir heute haben, und wovon eine AMGT ist.

Zur religiösen Situation ist zu sagen, daß einerseits in Deutschland die Ver­fassung vollständige Religionsfreiheit gewährt und uns danach nichts hindert, unsere Religion zu praktizieren. Ande­rerseits gibt es Schwierigkeiten, die die Arbeitswelt oder die Schulen betreffen und die insbesondere die gesellschafts­politische Organisation des Islam betref­fen. So ist der Islam in Deutschland immer noch nicht offiziell körperschaft­lich anerkannt. Dies behindert uns auch darin, bestehende Probleme im Fami­lien- und Bildungsbereich und anderen sozialen und kulturellen Bereichen zu lösen. Es gibt wie gesagt eine verfas­sungsmäßige Religionsfreiheit. Aber die 30 Jahre, die wir hier leben, haben uns zu der Überzeugung gebracht, daß der Islam hier auch eine organisationsmä­ßige Form finden muß, wie wir, als Einwanderer, im Übrigen allgemein Or­ganistionsformen finden müssen. Hier ist auch der Staat gefordert. Ein Schritt wäre die Anerkennung des bestehenden Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland.

Norbert Müller: Die Frage der Ein­wanderung und die Frage des Islams hängen in Deutschland unmittelbar zu­sammen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Hasan Özdogan: Sicherlich sind wir Einwanderer. Ich kenne wohl Men­schen, die ernsthaft überlegen, wieder in die Türkei auszuwandern. Aber 80% der Jugendlichen haben sich Deutschland als Heimat gewählt, wollen, auch wenn sie überzeugte Muslime sind, zum inte­grierten Bestandteil dieser Gesellschaft werden.

Zum Begriff der "Integration" möchte ich dabei bemerken, daß darüber viel geredet wird, aber offenbar sehr unter­schiedliche Dinge darunter verstanden werden. Ich sage klar und eindeutig: Die Muslime, seien sie aus der Türkei oder aus anderen Ländern, die schon 10 Jahre und länger hier leben, sind integriert in diesem Land - einfach deshalb, weil sie hier leben, arbeiten, zur Schule gehen usw. und zum Bestandteil der Gesell­schaft gehören. Wenn diese Menschen dann niemanden stören und umgekehrt auch von niemandem gestört werden, würde ich das als eine ausreichende Form von Integration ansehen. Wenn man unter Integration aber Assimilie­rung versteht und verlangt, daß die Ein­wanderer Deutsche werden, indem sie ihre Beziehungen zu ihrer Herkunftskultur abbrechen, dann lehnen wir eine solches Integrationsverständnis ab. Deutschland ist faktisch eine multi­kulturelle Gesellschaft, und es muß möglich sein, daß auch eine fremde Re­ligion wie der Islam - hier muß ich mich korrigieren: Der Islam ist keine fremde Religion mehr für Deutschland, nicht bei über zwei Millionen Muslimen, die teilweise schon Jahrzehnte hier leben - ein Bestandteil dieser Gesellschaft ist.

Es gibt hier eine verfassungsmäßige Ordnung des Zusammenlebens, die auch für die Einwanderer gelten soll. Die Einwanderer müssen deshalb künftig gleichberechtigte Bürger werden. Dazu muß ihnen auf leichtestem Wege er­möglicht werden, die deutsche Staats­bürgerschaft zu erlangen.

Norbert Müller: Nach meinem Eindruck redet die deutsche Gesellschaft schon lange und viel über Integration, Multi­kulturalität usw., ohne daß sich faktisch viel geändert hat. Damit ist immer dann Schluss, wenn sich die deutsche Gesell­schaft selbst verändern müsste. Dann entdeckt man wieder eine nationale "gesellschaftliche Homogenität", die gegen die Zumutungen der Einwanderer verteidigt werden müsste.

Hasan Özdogan: Wir verlangen ja gar nicht von einzelnen oder auch nur von größeren Gruppen, daß sie sich verän­dern! Was meint man denn mit "Homogenität"? Offenbar meint man damit eine kulturell gleichgeschaltete Gesellschaft, die nur aus Menschen be­steht, die alle die gleichen Wurzeln ha­ben, das gleiche fühlen und denken und dem gleichen verlangen. Dies ist aller­dings nicht mein Verständnis einer men­schlichen Gesellschaft.

Gesellschaften können in Zukunft nicht homogen sein, sie werden aus Men­schen mit unterschiedlichen Gedanken und unterschiedlichen Lebensweisen be­stehen. Damit werden wir auch neue Wege für unsere Zukunft finden müs­sen. Unter dem Vorwand der Homoge­nität kann man nicht von Menschen aus einem anderen Kulturkreis verlangen, daß sie Deutsche werden. Statt nach der Homogenität sollten wir besser nach der Harmonie der Gesellschaft suchen. Als muslimischer Bürger kann ich auf Grundlage der bestehenden Rechtsord­nung mit christlichen oder jüdischen oder auch nichtgläubigen Bürgern in Harmonie ist die ausreichende Form des Zusammenhaltes der Gesellschaft. Jedes Verlangen nach gesellschaftlicher Ho­mogenität besitzt eine rassistische, fast faschistische und fanatische Tendenz. Wir Muslime bekämpfen solche Ten­denzen, damit die Welt in Freiheit einen besseren Weg finden kann. Diesen Weg will ich als Muslim gemeinsam mit an­deren, nichtmuslimischen Bürgern fin­den. Aber dazu muß ich in dieser Ge­sellschaft auch meine Rechte bekom­men. Um es nochmals zu sagen: Ich kann nicht seit 30 Jahren in diesem Land leben, ohne den Pass dieses Landes zu haben, ohne jemals wählen zu kön­nen.

Wenn wir uns fragen, warum diese Miß­stände immer noch existieren, die ja ein Skandal für eine demokratische Gesell­schaft sind, so liegt das vor allem auch daran, daß wir keine Lobby in dieser Gesellschaft haben. Wir konnten bisher keinen politischen Druck für unsere In­teressen entfalten, was eben auch daran liegt, daß wir keine politischen Rechte haben. Solange die Situation so ist, kann man allerdings nicht von einer Harmo­nie der Gesellschaft sprechen. Dann muß man sehen, wohin die Entwicklung geht und ich frage mich, ob wir hier ir­gendwann eine Balkanisierung der Ge­sellschaft haben. Die erste Einwan­derergeneration hat ihre Ausgrenzung vielleicht noch hingenommen, die zweite und dritte Generation wird das jedenfalls nicht mehr tun und dies viel­leicht einmal sehr schwer in Rechnung stellen.

Norbert Müller: An einem Punkt möchte ich doch einmal nachhaken: Wie soll denn die von Ihnen erwähnte Har­monie erreicht werden, wenn - und das ist mein Eindruck - die deutsche Gesell­schaft Veränderungen nur immer von den Einwanderern verlangt, selbst je­doch ihre kulturelle Dominanz wie selbstverständlich behauptet. So wird etwa der Islam multikulturell toleriert, solange sich dieser als eine Form exoti­scher Folkloristik vermarkten läßt. Wird aber in seinem Bereich die absolute westliche Wertedominanz auch nur mi­nimal in Frage gestellt, erfolgten so­gleich oft sehr aggressive Reaktionen. Hierzu ein konkretes Beispiel: Es gibt mittlerweile eine Fülle von Fällen, wo sich muslimische Schülerinnen weigern, am gemischtgeschlechtlichen Sportun­terricht teilzunehmen. Die deutschen Schulbehörden haben es zumeist abge­lehnt, etwa getrenntgeschlechtlichen Sportunterricht anzubieten, da die Koedukation wegen des allgemeinen Er­ziehungsziels unverzichtbar sei. Jetzt haben die Verwaltungsgerichte die Mädchen von der Teilnahme am Sport­unterricht befreit - meiner Ansicht nach ein, gerade auch für die Schülerinnen, unbefriedigendes Ergebnis. Und die Presse hat fast durchgängig die Ge­richte scharf angegriffen, sie würden nun aber die "Grenzen der Toleranz" überschreiten.

Hasan Özdogan: Wollen die Menschen in den westlichen Gesellschaften die Grundrechte - es geht hier um die Reli­gionsfreiheit - nur dann anerkennen, wenn diese Rechte nur für sie in Frage kommen, oder sind sie in der Lage zu verstehen, daß diese Rechte auch für andere Menschen Achtung haben müs­sen und dies auch von den Schulen an­erkannt werden muß, damit diese Mäd­chen dann ohne Gewissensbisse und in Freiheit zur Schule gehen können. Hier­für sollten eigentlich alle Menschen ein Verständnis entwickeln können. Um es nochmal zu sagen: Die muslimischen Einwanderer sind eine Realität in dieser Gesellschaft und es ist auch eine Reali­tät, daß diese Menschen Muslime sind, sie sehr gerne in ihrer muslimischen Kultur bleiben und gleichzeitig sind sie ein Bestandteil dieser Gesellschaft. Dies muß früher oder später als solches aner­kannt werden, auch wenn es manchem schwer fällt. Es gibt keinen anderen Weg.

Norbert Müller: Sie sprachen am An­fang davon, der Islam in Deutschland müsse eine Organisationsform finden. Dies gestaltet sich offenbar schwierig, wenn man die Vielzahl islamischer Gruppen und Verbände betrachtet, ist aber wohl auch ein unvermeidbares Produkt der Wanderung, da wir hier quasi einen Mikrokosmos der gesamten isla­mischen Welt vorfinden. Wie also soll sich der Islam organisieren?

Hasan Özdogan: Der Islam ist plurali­stisch. Es gibt keine einheitliche Füh­rung, keine einheitliche Struktur. Tatsächlich ist es auch so, daß wir in Europa, hier in Deutschland einen Mi­krokosmos der islamischen Welt haben. In Deutschland wird der Islam aber doch sehr durch die sunnitischen-hane­fitische Rechtsschule geprägt, zu der hier die Mehrheit gehört. Es gibt staatli­che und nichtstaatliche Verbände. Ein Teil davon hat sich zum Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland zusam­mengeschlossen, der die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts anstrebt. Eine Anerkennung würde sicher dazu führen, daß sich auch die jetzt noch außenstehenden Verbände dem Islamrat anschließen würden, der diese ja nicht ausschließt, sondern allen offen steht.

Norbert Müller: Läuft das nicht auf eine "Verkirchlichung" des Islam hin­aus? Der Islam unterscheidet sich ja strukturell von den christlichen Kirchen, da ihm eine einheitliche, zentralistische Organisation fremd ist.

Hasan Özdogan: Damit wir Muslime unsere Religion in Deutschland prakti­zieren können, müssen die Rechte, die uns die Verfassung individuell gewährt, auch organisatorisch umgesetzt werden. Diese Umsetzung verlangt dann auch eine bestimmte Organisationsform. Diese Organisationsform wird natürlich nicht diejenige der christlichen Kirchen sein können, es wird eine eigene Form sein. Diese neue Form zu entwickeln, ist eine Aufgabe, die vor uns steht.

Norbert Müller: Vielen Dank für das Gespräch.

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