"... und es lohnt sich doch!"

Gewaltfreie Abrüstung des EUCOM bei Stuttgart

von Wolfgang Sternstein
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Ich habe mich an der berühmten Bauplatzbesetzung des AKW Wyhl im Februar 1975 beteiligt. Wäre ich damals gefragt worden, ob ich es für möglich halte, dass die Bürgerinnen und Bürger der Region den Bau des Kraftwerks, der bereits begonnen hatte, verhindern können, ich hätte mit Nein geantwortet. Wäre ich später gefragt worden, ob ich es für möglich halte, den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben oder in Wackersdorf zu verhindern, ich hätte mit einem klaren Nein geantwortet. Wäre ich gefragt worden, ob die neuen Mittelstreckenrake­ten, die ich mit anderen zusammen ein dutzend Mal blockierte, jemals wieder aus unserem Land verschwinden werden, ich hätte mit Nein geantwortet. Wäre ich 1988 gefragt worden, ob ich es für möglich halte, dass der Kalte Krieg demnächst zu Ende geht und Deutschland wieder­vereinigt wird, ich hätte mit einem entschiedenen Nein geantwortet, ja, ich hätte ein Vermögen verwettet, wenn ich eins gehabt hätte. Wäre ich gefragt worden, ob ich es für möglich halte, dass das Bundesverfas­sungsgericht seine Rechtsprechung zu Sitzblockaden revidiert, ich hätte mit Nein geantwortet.

Nachdem mein "Realismus" so oft durch Tatsachen widerlegt wurde, glaube ich jetzt an politische Wunder, sofern wir unter Wunder den Eintritt des ganz Unwahrscheinlichen und Unvor­hersehbaren verstehen.

Seitdem glaube ich auch, dass es der Friedensbewegung möglich ist, die 500 Atombomben, die noch auf deutschem Boden lagern, samt ihrer Kommando­zentrale, dem EUCOM bei Stuttgart, gewaltfrei aus dem Land zu schaffen. Seitdem glaube ich schließlich, dass es der internationalen Friedensbewegung möglich ist - vorausgesetzt, sie hat den Willen dazu ist bereit, den Preis, den das nun mal kostet, zu bezahlen -, die Atomwaffen völkerrechtlich zu Ächten und abzuschaffen, so wie das bei den chemischen und bakteriologischen Waf­fen in naher Zukunft der Fall sein wird.

Selbstverständlich sehe ich auch, dass die Ökologie- und Friedensbewegung oft gescheitert ist und dass sie auch diesmal scheitern kann. Wir dürfen uns nicht vom Erfolg abhängig machen, sonst werden wir im Fall einer Nieder­lage allzuleicht ein Opfer von Enttäu­schung und Resignation. Wir müssen tun, was wir für wichtig und richtig halten, gleichgültig, ob wir scheitern oder Erfolg haben. Vielleicht kommt uns gerade dann, wenn der Kampf aus­sichtslos zu sein scheint, ein "Wunder" zu Hilfe.

Nach dieser Maxime handelt eine win­zigkleine Gruppe von Friedensaktivi­stinnen und -aktivisten, die sich EU­COMmunity nennt. Diese Gruppe hat sich vorgenommen, symbolisch und zugleich konkret mit der Abrüstung der Kommandozentrale für die amerikani­schen Truppen in Europa, Nordafrika und den Nahen Osten (EUropean COMmand) zu beginnen. Sie führt seit fünf Jahren sogenannte Entzaünungs­aktionen am EUCOM durch, um ihren Anspruch zu bekräftigen, das Todesland EUCOM, von dem Krieg und Verderben ausgehen (Überfall auf Libyen 1986, Nachschub für den Golfkrieg 1991), in Lebensland, das zivil genutzt wird, zu verwandeln.

Die EUCOMmunity versteht sich als Teil der bundesweiten Kampagne Atomwaffen abschaffen - bei uns anfan­gen. Seit 1990 hat sie jedes Jahr eine Entzäunungsaktion am EUCOM durch­geführt mit 10, 11, 7, 19 Aktivisten und zahlreichen Unterstützern.

Im "Aufruf zur gewaltfreien Abrüstung des EUCOM bei Stuttgart" von 1990 heißt es: "Ermutigt durch die positiven Entwicklungen in Osteuropa und im Bewußtsein, dass 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von deut­schem Boden immer noch eine tödliche Bedrohung für viele Länder ausgeht, sind wir zu konkreten Abrüstungs­schritten bereit. Wir erkennen unsere Mitverantwortung für diese Bedrohung. Das EUCOM ist ein Relikt des Kalten Krieges. Es sollte so rasch wie möglich verschwinden.

Deshalb wollen wir ab Herbst 1990 symbolisch und konkret mit dem Abbau des EUCOM beginnen. Wir werden den Zaun öffnen und in das Gelände ein­dringen, um dort ein Fest der Hoffnung zu feiern und Zeichen des Lebens zu setzen.

Von uns wird keinerlei physische oder verbale Gewalt ausgehen. Wir über­nehmen die Verantwortung für unsere Abrüstungsaktion und versuchen nicht, uns der staatlichen Verfolgung zu ent­ziehen. Wir respektieren Eigentum, das für das Leben genutzt wird, doch Ei­gentum, das für den Tod genutzt wird, müssen wir für das Leben umrüsten.

Wir rufen deshalb öffentlich dazu auf, Bezugsgruppen zu bilden, um nach sorgfältiger Vorbereitung das EUCOM gewaltfrei abzurüsten. Wir nennen uns EUCOMmunity, denn wir wollen die amerikanische Befehlszentrale EUCOM durch eine friedliche Gemeinschaft der Völker Europas und der Welt ersetzen."

In diesem Jahr ist die fünfte gewaltfreie Entzäunungsaktion am EUCOM für den Hiroshima-Tag (6. August) geplant. Die EUCOMmunity lädt ein, sich als Beob­achterIn, UnterstützerIn oder AktivistIn daran zu beteiligen. Wer sich an der Aktion beteiligt, indem er oder sie den Zaun abbaut und das Gelände betritt, muss damit rechnen, dass er/sie wegen Sachbeschädigung und Hausfriedens­bruch bestraft wird. Sie/er sollte grund­sätzlich bereit sein, diese Sanktion als Bestandteil ihres/seines gewaltfreien Widerstandes hinzunehmen. Die Teil­nehmer der ersten beiden Aktionen wurden zu Geldstrafen bis zu 40 Tages­sätzen verurteilt, der Prozess gegen die Mitglieder der dritten Aktionsgruppe ist noch nicht abgeschlossen. Die vierte Aktion am 29.5.1994 ist bis heute sank­tionslos geblieben.

Kein Zweifel, über Entzäunungsaktio­nen kann man/frau verschiedener Mei­nung sein. Wir, die EUCOMmunity, verstehen sie als einen Beitrag zur weltweiten Ächtung und Beseitigung sämtlicher Massenvernichtungsmittel. Frei nach Galileo Galilei: "... und es lohnt sich doch!"

 

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Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Er kam als Wissenschaftler nach Wyhl, schloss sich aber schon bald der Widerstandsbewegung gegen das Atomkraftwerk an. In seiner Autobiografie „Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit“ berichtet er ausführlich über den „Kampf um Wyhl“.