Gewaltfreier Widerstand in Palästina

von Annika Müller

Gewaltfreiheit ist kein Begriff, der gemeinhin mit Palästina assoziiert wird. Nichtsdestotrotz gibt es in den palästinensischen Gebieten zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die den gewaltfreien Widerstand als Weg gewählt haben, um die israelische Besatzung zu beenden.

Die Wurzeln des gewaltfreien Widerstandes in den palästinensischen Gebieten gehen auf die Intifada von 1987 zurück. Während der Intifada griffen die Palästinenser auf Methoden des zivilen Ungehorsams zurück, um die Besatzung „abzuschütteln“. Dazu zählten Streiks und Demonstrationen; die Weigerung, Steuern zu zahlen oder für Israelis zu arbeiten; symbolische Beerdigungen  oder die Missachtung von Ausgangssperren. Neben dem zivilen Ungehorsam war die Intifada durch zivilgesellschaftliche Anstrengungen geprägt, um die Strukturen für einen zukünftigen palästinensischen Staat zu schaffen. Es wurden Berufsverbände und kulturelle Organisationen gegründet, Schülerinnen und Schüler in geheimen Schulen im Untergrund unterrichtet, Gärten angelegt, Olivenbäume gepflanzt und landwirtschaftliche Kooperativen gegründet.

David gegen Goliath
Obwohl die Intifada in den ersten drei Jahren größtenteils gewaltfrei verlief, kam es später immer wieder zu Gewalt, insbesondere zum Werfen von Steinen und Molotowcocktails, zu Angriffen auf israelische Siedler und in einigen Fällen sogar zur Ermordung von Palästinensern, die der Kollaboration verdächtigt wurden.

In der „westlichen“ Welt verging kaum ein Tag, an dem in den Medien keine Bilder von steinewerfenden Jugendlichen zu sehen waren. Ironischerweise waren es gerade diese Bilder von Gewalt, die den Eindruck erweckten, hier kämpfe David gegen Goliath, und die den Palästinensern in weiten Teilen der Welt wenn nicht Sympathie, so doch zumindest ein gewisses Verständnis für ihr nationales Bestreben entgegen brachten.

Für die palästinensischen FriedensaktivistInnen, die den gewaltfreien Widerstand gewählt haben, ist es heute um ein Vielfaches schwieriger, der israelischen Besatzung mit Methoden des zivilen Ungehorsams entgegenzutreten, als während der ersten Intifada. Sami Awad von der Organisation Holy Land Trust sagt dazu: „Die Macht von Gewaltfreiheit ist auch darin begründet, dass man gegen Regeln verstößt. [Während der ersten Intifada] lebten wir unter hunderttausenden von Regeln, so dass wir uns aussuchen konnten, welche Regeln wir brechen wollten.“[i] Heute hat die Palästinensische Autonomiebehörde zumindest in Teilen der palästinensischen Gebiete die Aufgaben übernommen, die ehemals die israelische (Militär)Administration innehatte; hier sind es nicht mehr die israelischen Behörden, die den palästinensischen Alltag regeln, sondern die Palästinenser selber. Hier gibt es kein Gegenüber, das man mit zivilem Ungehorsam konfrontieren kann.

Widerstand in Bil’in
Heute begegnen sich Israelis und Palästinenser fast nur noch an den Checkpoints – in einem angespannten, militarisierten Umfeld, das gewaltfreien Widerstand kaum zulässt. Auch der Bau der Sperranlage ist ein weiteres Hindernis für den gewaltfreien Widerstand, da die Sperranlage den Kontakt zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten nahezu unmöglich macht. Der Kontakt mit dem Gegenüber und das Sichtbarmachen der Unterdrückung sind jedoch wichtige Elemente von gewaltfreiem Widerstand. Gleichzeitig bietet die Sperranlage aber auch einen Fokus für die Aktivitäten der Friedensaktivisten, wie das Beispiel Bil’in zeigt.

Die BewohnerInnen des Dorfes Bil’in sind das beste Beispiel dafür, dass gewaltfreier Widerstand zum Erfolg führen kann. Seit vier Jahren protestieren die BewohnerInnen des Dorfes – zusammen mit israelischen und internationalen FriedensaktivistInnen – jeden Freitag gegen den Bau der Sperranlage, die 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche Bil’ins vom Dorf abschneidet, um Baugrund für die nahe gelegene Siedlung Modiin Illit zu schaffen. Die Proteste verlaufen meistens nach dem gleichen Muster: Die Bewohner Bil’ins treffen sich Freitagmittags zusammen mit internationalen Aktivisten und israelischen Aktivisten von Organisationen wie International Solidarity Movement und Anarchists against the Wall vor der örtlichen Moschee. Gemeinsam zieht man durch das Dorf bis hin zu einem Feld, das an die Sperranlage angrenzt. Sprechchöre werden gerufen, aber es bleibt zumeist friedlich; es werden keine Steine geworfen. Kurze Zeit später fahren auf der anderen Seite der Sperranlage israelische Militärfahrzeuge auf; der Beschuss mit Tränengas beginnt.[ii] Das Durchhaltevermögen der BewohnerInnen von Bil’in hat im Juli 2008 endlich zu einem Teilsieg geführt: Das israelische Verteidigungsministerium hat einer Änderung des Verlaufs der Sperranlage zugestimmt; bisher warten die Bewohner von Bil’in allerdings auf die Umsetzung dieses Beschlusses. Die Demonstrationen gehen weiter.

Weitere phantasievoll Aktionen
Abgesehen von den Demonstrationen, die nicht nur in Bil’in sondern auch in anderen Dörfern mittlerweile regelmäßig stattfinden, bedienen sich palästinensische Organisationen noch einer breiten Palette weiterer Methoden, um gewaltfrei gegen die israelische Besatzung anzugehen. Als Beispiel sei hier die Library on Wheels for Nonviolence and Peace genannt, die ein Projekt mit dem Namen “Books along the Divide – Reading at the Checkpoints” durchführt. Im Rahmen dieses Projektes verteilt die Library Taschen gefüllt mit Büchern, inklusive Büchern über Gewaltfreiheit, an Taxifahrer, welche bestimmte Strecken zwischen Städten fahren, die durch Checkpoints voneinander getrennt sind. Die Taxifahrer wiederum geben die Bücher an ihre Fahrgäste weiter. Das Ziel der Kampagne ist es, den israelischen Soldaten an den Checkpoints zu zeigen, dass unabhängig von den Umständen, die PalästinenserInnen ihr Recht auf Bildung nicht aufgeben werden, selbst wenn die Checkpoints sie davon abhalten sollten, ihre Schulen oder Universitäten zu erreichen. Mehrere der beteiligten Taxifahrer haben berichtet, dass einige israelische Soldaten begonnen hätten, die Bücher zu konfiszieren. Die Library on Wheels for Nonviolence and Peace überlegt nun, hebräische Bücher an die Soldaten zu verteilen.

Es gibt konkrete Bemühungen, insbesondere von Lucy Nusseibeh von der Organisation Middle East Nonviolence and Democracy, den gewaltfreien Widerstand in Palästina durch eine Kooperation verschiedener Organisationen zu stärken. Es gab bereits eine Konferenz zu diesem Thema, und es wurde eine Kampagne unter dem Titel „Smarter without Violence“ gestartet, die in Zukunft als Plattform für gemeinsame Aktivitäten dienen soll.

Letztendlich geht es immer darum, durch den gewaltfreien Widerstand die Besatzung zu beenden, um dann zu einer politischen Lösung zu kommen. Omar Harami von Sabeel sagt dazu: „Gewaltfreiheit zu akzeptieren bedeutet, den Menschen dieses Landes die Entscheidung zu überlassen. Menschen können keine solche Entscheidung treffen, während sie unter der Besatzung leben, während sie nicht frei sind. Der erste Schritt muss daher sein, die Ungerechtigkeit zu beenden, die Unterdrückung der Menschen zu beenden. Dann kann die Zukunft des Landes diskutiert werden – wenn die Menschen als gleichberechtigte Partner an einem Tisch sitzen.“

 

Anmerkungen
[1] Dieses Zitat, sowie das folgende Zitat, entstammt aus einem Interview, welches die Autorin im Sommer 2008 in Palästina geführt hat. Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von der Autorin vorgenommen.

[2] Die Autorin hat im Sommer 2008 an einer solchen Demonstration in Bil’in teilgenommen und kann bestätigen, dass Tränengas eingesetzt wurde, ohne dass es vorher von Seiten der Demonstranten zu Gewaltanwendung kam.

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Annika Müller studierte Arabistik und Friedens- und Konfliktforschung. Sie arbeitet für eine international tätige Hilfsorganisation.