"zivil"-Interview mit Konrad Raiser

Gewaltfreiheit gehört ins Zentrum der Kirchen

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"zivil"-Interview zum Auftakt der internationalen Dekade zur Überwindung von Gewalt mit dem Generalsekretär des Ökumenischen Weltrates der Kirchen, Professor Konrad Raiser.

zivil: Herr Raiser, der ÖRK ruft auf zu einer Dekade, einem Jahrzehnt, das der Überwindung der Gewalt gewidmet sein soll. Das ist ein sehr globales, fast überdimensionales Vorhaben. Warum diese umfassende, prinzipielle Forderung, warum keine Reduzierung auf ein Unter- oder Kernproblem, das dann vielleicht auch realistischer zu minimieren wäre innerhalb der zehn Jahre?

Raiser: Es gibt ja sehr viele Initiativen, die sich auf spezifische Formen von Gewaltprävention, Gewalteindämmung, Gewaltminimierung konzentrieren, da muss der Ökumenische Rat nicht unbedingt noch ein weiteres solches Programm hinzufügen. Die Dekade und damit auch diese umfassende thematische Formulierung zielt vielmehr darauf, dass die Zunahme von Gewalt im öffentlichen, im personalen Bereich, strukturelle wie direkte Gewalt, Ausdruck einer Mentalität, einer Geisteshaltung, eines Bewusstseins ist, das in seiner Konsequenz für gesellschaftliches Zusammenleben destruktiv ist. Und dass es daher nicht genügt, nur an Einzelphänomenen anzusetzen, sondern dass man versuchen muss, dieser Grundhaltung auf die Spur zu kommen und dort im Sinne eines Bewusstseinswandels anzusetzen. Darauf zielt auch letztlich die Botschaft Jesu im Evangelium, die ja nicht einfach Praxisanweisung für gewaltfreie Konfliktlösung ist, sondern die eine alternative Wahrnehmung menschlicher Realität vermittelt, was allerdings in der Geschichte der Kirchen bisher viel zu wenig ernst genommen und aufgenommen worden ist.

zivil: Der Wunsch, gerade dieses Thema zu formulieren, die Gewalt und die sicher sehr weiten Wege zu ihrer Überwindung, ist das ein Anliegen, das eher im Norden des Globus und insbesondere bei uns im Westen auf den Nägeln brennt? Oder stammt die Thematik auch aus südlichen bzw. östlichen Kirchen?

Raiser: Der Anstoß kam ja aus dem Süden! Der Ökumenische Rat hätte sich wahrscheinlich darauf in dieser Form nie eingelassen, wenn es nicht den Anstoß des südafrikanischen methodistischen Bischofs Mogoba gegeben hätte, der 1994, unmittelbar vor den ersten südafrikanischen freien Wahlen gesagt hat, jetzt, wo das Programm zur Bekämpfung des Rassismus nahezu sein Ziel erreicht hat - jedenfalls in Gestalt der Beendigung der Apartheid in Südafrika - jetzt müssen wir uns dringend mit der Ausbreitung einer Mentalität, einer Duldung, geradezu mit einer Kultur der Gewalt auseinandersetzen. Wenn man dann sich die Entwicklung in Afrika in den sechs Jahren seither anschaut, eine nicht abreißende Kette von zum Teil barbarischen Gewaltsituationen, wenn man sich die buschfeuerartige Ausbreitung von Gewaltszenen in asiatischen zivilen, ethnischen, religiösen Auseinandersetzungen anschaut, dann braucht man nicht lange zu argumentieren, um den Christen dort begreiflich zu machen, dass das ihr Thema ist. Sie überzeugen uns davon, dass das unser gemeinsames Thema ist.

zivil: Eine Parallelität gibt es ja zu der von der UNO ausgerufenen Dekade zur Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit für die Kinder der Welt.

Raiser: In der Tat, der Anstoß der Vollversammlung des Ökumenischen Rates wurde formuliert, als diese UN-Dekade noch praktisch nicht bekannt war. Die beiden Initiativen sind ungefähr zur gleichen Zeit entstanden. Wir haben Kontakte zu den verantwortlichen Leuten für die Gestaltung der UN-Dekade aufgenommen. Ich denke, dass beide Initiativen sich wechselseitig verstärken können, denn innerhalb einer UN-Dekade - das haben wir früher bei der Frauendekade gesehen und bei anderen solchen Initiativen - kommen die spezifischen kirchlichen Handlungsmöglichkeiten in der Regel kaum zum Zuge. Daher ist es durchaus sinnvoll, in diesem Falle parallel eine ökumenische Dekade der Kirchen durchzuführen und die spezifischen Beiträge, die die Kirchen leisten können, für die gemeinsame Suche nach einer Kultur des Friedens auch sichtbar zu machen und zu profilieren.

zivil: Bleiben wir bei diesen spezifischen Beiträgen der Kirchen: Sie haben kürzlich darauf hingewiesen, dass es so etwas wie ein kirchliches Frühwarnsystem für versteckte Konflikte praktisch ja schon gäbe, man müsste die kirchlichen Verzahnungen überall auf der Welt nur auch als solche wahrnehmen. Ich möchte Ihnen da voll und ganz zustimmen und frage: Sollte man da nicht Nägel mit Köpfen machen? Sollte man nicht so etwas tatsächlich auch anschieben, institutionalisieren, in Form von kirchlicher Friedensbeobachtung oder kirchlicher Konfliktwarnung?

Raiser: Ja, ich denke, man muss das institutionalisieren. Unsere Erfahrung ist, dass durch die kirchlichen Kanäle, die ja sehr, sehr dicht vor Ort an möglichen Konfliktpunkten schon beginnen, in der Regel korrektere, verlässlichere Informationen fließen und transportiert werden, als über irgendeinen der diplomatischen Kanäle oder über Regierungsstellen.
 

Nur haben die Kirchen und die kirchlichen Organisationen bisher von diesem an sich vorhandenen Netz nicht gezielt genug Gebrauch gemacht. Sie haben nicht gezielt genug das, was ihnen an Kenntnissen zur Verfügung steht, eingefüttert in den offiziellen, politischen und zwischenstaatlichen Kommunikationsprozess. Der ÖRK hat dies immer wieder einmal versucht, in Gestalt von Stellungnahmen und von Briefen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, an bestimmte Regierungen, um aufmerksam zu machen auf eine sich gefährlich zuspitzende Situation. Der ÖRK hat Delegationen geschickt zur "fact finding mission" in Konfliktregionen und hat die entsprechenden Beobachtungen und Erkenntnisse hinterher veröffentlicht und daher auch für eine weitere Diskussion zur Verfügung gestellt. Ich denke, hier gibt es eine ganze Palette von Möglichkeiten des Eingreifens und der Verstärkung von solchen Signalen, die noch gezielter ausgenutzt werden müssten.

zivil: Herr Raiser, Sie haben in einem Vortrag davon gesprochen, ein grundsätzliches Anliegen der Dekade zur Überwindung von Gewalt wäre für Sie, weg zu kommen davon, dass wir nach dem Prinzip der Gegensätzlichkeit leben und statt dessen hin zu kommen zu einem Prinzip der Gegenseitigkeit. Was genau meinen Sie mit diesen beiden Prinzipien?

Raiser: Es zeigt sich z.B. eine Tendenz, von Wahrheit im Sinne eines "Entweder/Oder", eines "Wahr und Falsch" zu reden und sich der Konsequenz auszuliefern, dass alles, was nicht mit meinem, mit unserem Bekenntnis von Wahrheit übereinstimmt, Irrtum sein muss, falsch ist und eigentlich bekämpft werden muss. Das ist eine tief verwurzelte Struktur im westlichen, im abendländischen Denken, das seine Ursprünge in der philosophischen Tradition der Antike hat. Demgegenüber haben östliche, asiatische, aber auch traditionale Denktraditionen in Afrika und in Lateinamerika, bei den Ur-Völkern, eine Fähigkeit entwickelt, mit Gegensätzen so zu leben, dass sie die Wechselseitigkeit nicht stören, dass sie nicht zu Trennungen führen, sondern das Gegensätzliche eingeschlossen, eingebaut, aufgenommen wird, dass man zwischen den Gegensätzen Beziehungsmöglichkeiten herstellt, aber nicht das sich Abstoßende der Gegensätze betont, sondern die Spannung zwischen Gegensatzpolen als ein Potenzial zur Veränderung wahrnimmt. Ich denke, dass wir uns bereichern lassen könnten und sollten in unserer stark dialektischen Denkstruktur von diesen ganzheitlichen, inklusiven Denkweisen. Das jedenfalls ist einer der Hintergründe für jede weitere Entfaltung des Ethos der Gewaltfreiheit.

zivil: Diese Fokussierung der Gewaltfreiheit, der sozialen Bewegung, der Zivilgesellschaft, das alles drängt ja nun diejenigen an den Rand, die bisher meinen, man habe zur Konfliktlösung hauptsächlich militärische Kräfte, die man auch ausbauen und fördern müsse. Sehen Sie da Kritik auf sich zukommen?
 

Raiser: Dass das Gespräch mit den Vertretern und Verteidigern militärischer Strategie und militärischer Traditionen nie einfach gewesen ist, ist klar. Ich bin froh darüber, dass wir aus einer starr konfrontativen in eine stärker dialogische Situation gekommen sind. Ich beobachte auch, dass es unter nachdenklichen Militärs immer mehr gibt, die sehen, dass die klassische Ethik des Kriegführens mit gutem Gewissen, um einer gerechten Sache willen, in der heutigen Situation an ihre Grenzen stößt. Zumal man überhaupt keinen Unterschied mehr machen kann auf der Seite der Opfer zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung. Alle Versuche des Humanitären Völkerrechts an dieser Stelle Gewalt und Leid einzugrenzen, sind angesichts der Hochtechnologie-Kriege, die heute geführt werden, mehr oder minder gegenstandslos. Und damit tauchen völlig neue Herausforderungen auch an militärische Experten auf.

Zweitens beobachten wir, dass selbst in Fällen, wo mit gutem Gewissen, mit gutem Grund, aus humanitären Motiven heraus zur Eindämmung von Gewaltsituationen und Menschenrechtsverletzungen zu militärischer Gewalt gegriffen wird, eine sehr andere Handhabung des Gewaltpotenzials notwendig ist, als es Soldaten und Offiziere normalerweise lernen. Soldaten und Offiziere werden geschult dafür, einen Krieg zu gewinnen; sie werden auch in einer bestimmten Form der Auseinandersetzung mit gegnerischer Gewalt geschult. Aber im Rahmen einer humanitären Intervention geht es nicht darum, einen Krieg zu gewinnen. Es geht um etwas völlig anderes, es geht viel eher um eine polizeiliche Strategie. Ich denke, in der polizeilichen Schulung und Formulierung von Strategien und polizeilicher Intervention sind wir im Ganzen schon weiter. Auch da geht es im Grenzfall um den Einsatz von Gewaltmitteln. Aber im Fall einer Geiselnahme z.B. ist das Ziel polizeilichen Eingreifens, gerade zu vermeiden, dass Gewalt angewendet wird. Und wenn dann doch Gewalt angewendet werden muss, ist das eigentlich eher ein Fehlschlag für die gezielte polizeiliche Strategie der Gewalt-Deeskalation. Damit können Militärs, damit können Offiziere noch schwer umgehen. Insofern erhebt sich an dieser Stelle ein neues Umfeld des Dialogs, auch des kritischen Dialogs, aber überhaupt kein Grund zu einer erneuten Verhärtung von konfrontativen Situationen.

zivil: Wir haben die zehn Jahre der Dekade zur Überwindung von Gewalt noch vor uns, wir können also nicht resümieren aber doch spekulieren: Wann wäre denn für Sie persönlich die Dekade erfolgreich verlaufen?

Raiser: Für mich wäre das Erfolgskriterium, ob es Anzeichen für einen wirklichen Bewusstseinswandel in der Breite der kirchlichen Mitgliedschaft gibt. Nicht, dass Gewalt plötzlich völlig verschwindet. Natürlich hoffe ich darauf, dass wir es lernen mit Gewaltsituationen so umzugehen, dass in der Tat Gewalt zurückgedrängt, eingedämmt, minimiert werden kann. Und in dem Sinne "überwunden" wird, dass wir nicht hängen bleiben in dem Reaktionsmuster, das der Gewalt nur neue Gewalt entgegen stellen kann.

Das Interview erschien in "zivil", Zeitschrift für Frieden und Gewaltfreiheit, 1/01 und wurde von der Redaktion leicht gekürzt.

"Zivil", die Zeitschrift für Frieden und Gewaltfreiheit, erscheint quartalsweise im Auftrag der Evang. Kirche Deutschlands, EKD. Probehefte können kostenlos angefordert werden bei: Redaktion zivil, Rosenbergstr. 45, 70176 Stuttgart. www.zivil.de

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