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Give Peace a Chance
vonVielleicht wird "Dayton" eines Tages zum Inbegriff von Frieden und nicht nur für einen ungerechten Waffenstillstand - ähnlich wie "Versaille" oder wie "Oslo". Viele sagen voraus, die Kämpfe würden in Bosnien- Herzegowina wieder aufflammen, kaum daß die Nato abgezogen ist. Vielleicht haben sie recht. Ich will nicht spekulieren, sondern darüber nachdenken, wie wir diesen Waffenstillstand zu einem Frieden gestalten können.
Der Waffenstillstand hat den Nachgeschmack einer der Bevölkerung auferzwungenen politischen Lösung, die sie nie wollten. Trotzdem müssen wir über die nächsten Schritte nachdenken. Unabhängig davon, wie sehr die Politiker auch betonen, daß Bosnien-Herzegowina nicht aufgeteilt werde, ist offensichtlich, daß diese Aufteilung bereits geschehen ist. Dessen sind sich auch die Menschen in Bosnien bewusst. Trotzdem waren sie froh, als der amerikanische Präsident Bill Clinton sich entschloss, nach Jahren des Abwartens und Zusehens den Massakern und dem Schlachten ein Ende zu setzen. Die USA beschlossen, Druck auf die Führer der Kriegsparteien auszuüben, sie für zwanzig Tage in die Militärbasis in Ohio zu holen und sie nicht gehen zu lassen, bevor ein ungerechter Friedensvertrag unterzeichnet ist. Die Nato übernahm einige Verpflichtungen, die aber nicht ausreichen werden, tatsächlich Frieden zu schaffen. Eine Vielzahl weiterer Verpflichtungen und Engagement müssen von internationalen Organisationen und den Konfliktparteien getragen werden. Eine schlagkräftige Nato- Streitmacht wird nach Bosnien-Herzegowina verlegt, aber von welchen zivilen Maßnahmen wird sie begleitet? Die Probleme tauchten augenblicklich auf, als schon vor dem Neujahr 16 Zivilpersonen von serbischen Einheiten verschleppt wurden. Der neue Nato-Generalsekretär Javier Solana kommentierte das Ereignis: "Das ist ein harter Schlag, aber ähnliche werden folgen. Die Nato hat ein ganz klares und eng umrissenes Mandat in Bosnien- Herzegowina: die Trennung der Kriegsseiten. Für das Problem verschleppter Zivilpersonen sind andere Instanzen verantwortlich." Welche? Der Europarat? Die OSZE? Die Uno? Lokale Organisationen? Neben den Entscheidungsstrukturen wie Parlament, Präsidium, Verfassungsgericht, die in der Verfassung von Bosnien-Herzegowina vorgesehen sind, gibt es praktisch keine zivilen lokalen Strukturen und Instrumente. Die Schweizerin Gret Haller wurde als Ombudsfrau für Menschenrechte eingesetzt, ein Menschenrechtsrat aus vier VertreterInnen der bosnischen Föderation (bosnische Muslime und KroatInnen), zwei VertreterInnen der bosnischen SerbInnen und acht VertreterInnen des Europarates wird gebildet, eine Kommission für Vertriebene und Flüchtlinge aus vier bosnischen, zwei serbischen und drei internationalen VertreterInnen des europäischen Menschenrechts-Gerichthofes wird die Arbeit aufnehmen. Daneben soll eine Kommission zur Erhaltung der Nationalen Denkmäler bestimmt werden. Die zivilen Bereiche der Arbeit werden vom "Hohen Repräsentanten", dem Schweden Carl Bildt, angeführt, der auch der Gemeinsamen Zivilen Kommission aus politischen Führern der bosnischen Föderation und der Serbischen Republik in Bosnien, dem Kommandanten der internationalen Truppen Ifor oder seinem Stellvertreter und VertreterInnen der zivilen Organisationen und Agenturen vorstehen wird. Der Hohe Repräsentant wird dabei die Bestrebungen der Kriegsparteien unterstützen und Aktivitäten der beteiligten Organisationen koordinieren und ermöglichen, die auf die zivilen Aspekte des Friedensvertrages abzielen. Diese Institutionen werden unterstützt von den militärischen Strukturen. Damit soll die Rückkehr einer großen Zahl von Vertriebenen und Flüchtlingen vor den geplanten Wahlen ermöglicht werden. Die Wahlen sollen nicht mehr als neun Monate nach Unterzeichnung des Friedensvertrages durchgeführt werden, das heißt bis August 1996. Wenn die Verantwortlichen wollen, daß mindestens eine halbe Million der insgesamt 1.300.000 Flüchtlinge noch vor den Wahlen nach Bosnien zurückkehren soll, müssten seit dem 1. Januar täglich 2080 Menschen kommen. Diese Menschen sollten sich sicher fühlen und eine wenigstens provisorische Unterkunft und Verpflegung bekommen. Nötig wären Arbeitsplätze und damit ein Einkommen. Können die zuvor erwähnten Institutionen dies erreichen? Ich habe große Zweifel daran. Viele Artikel haben schon darauf hingewiesen, wie wenig ausgearbeitet die zivile Umsetzung des Friedensvertrages ist und wie viel hier der Improvisation überlassen bleibt. Während die militärischen Teile der Friedensoperation erfolgreich verlaufen und den Waffenstillstand absichern könnten, haben die zivilen Teile kaum eine Chance. Wie schwierig diese zivilen Bemühungen sind, zeigen die Bestrebungen der EU- Administration im südbosnischen Mostar. Nach zwei Jahren harter Arbeit, unterstützt durch Investitionen von 20 Millionen Franken, ist die Stadt weit davon entfernt, wieder aufgebaut und wieder vereint zu sein. Während die Führer der Kriegsparteien durch die Verhandlungen einen Prozess der Konflikttransformation durchgemacht haben, bleiben mehr als zwanzig Millionen Menschen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien von einer solchen Verarbeitung ausgeschlossen. Wir wurden nicht nach Dayton eingeladen. Die Menschen leben unter harten Alltagsbedingungen, am Rande der Existenz- und Überlebensmöglichkeiten. Sie versuchen, mit der neuen Lage umzugehen, sie zu verdauen. Ihrer Rechte beraubt, um ihre menschliche Würde kämpfend, versuchen sie, die losen Enden zusammenzubringen und hoffen auf eine bessere Zukunft. Die Medien stellen Menschen anderer Nationalität nicht als Individuen mit einer eigenen Menschenwürde dar.
Sie bleiben stereotypen Bildern verhaftet, die ganze Nationen beschuldigen und dadurch auch alle einzelnen Individuen dieser Nationalität. Zu viele Menschen sind davor geflüchtet und haben versucht, in einem anderen Land ein neues Leben zu beginnen. Einige wollen nicht mehr in das Land zurückkehren, das sie nicht mehr als das ihre erkennen. Viele von denen, die geblieben sind, folgen weiterhin blind ihren Führern. Sonja Badel, Korrespondentin der unabhängigen kroatischen Tageszeitung "Novi List" in Belgrad, Serbien, schreibt: "Die wenigen aber aufrechten FriedensaktivistInnen in Serbien, die immer gegen den Krieg waren und die versuchten, die gegenseitige Anerkennung der ehemals jugoslawischen Ländern zu verhindern, sehen heute, daß sich die Meinung der Mehrheit in Serbien nicht verändert hat. Diese Mehrheit versteht nicht, daß die Serben versuchten, die nationale Frage auf eine falsche Art zu lösen: durch die Änderung der Grenzen und durch Krieg, durch furchtbares Leid, ethnische Säuberung, Mord, Zerstörung, Verbrechen. Eine Meinungsumfrage des Instituts für soziale Studien der Universität Belgrad zeigt, daß von 2000 EinwohnerInnen 50,9 Prozent immer noch die beste Meinung von Präsident Slobodan Milosevic haben. Das ist keine Überraschung mehr, aber viele waren doch überrascht zu sehen, daß die zweitpopulärste Figur mit 50 Prozent der Stimmen der bosnisch-serbische General Ratko Mladic ist." Das Friedensabkommen von Dayton wurde in allen unabhängigen Medien in Kroatien verurteilt. Die Menschen hier sind vor allem besorgt um die Zukunft Ostslawoniens und das Schicksal der mehr als 100.000 Flüchtlinge, die immer noch auf eine Rückkehr dorthin warten. In Bosnien, wo das Friedensabkommen sehr positiv aufgenommen wurde, kamen die Löcher dieses Vertrages schon nach wenigen Wochen nach Beginn seiner Umsetzung offen zutage. Die kritischen Stimmen und harten Kommentare wurden häufiger. Es wurde klar, daß die Nato sich gleich wenig um die Zivilpersonen kümmern wird wie zuvor die unbeliebte Uno. Der Preis für den Waffenstillstand erschien immer höher und die nicht verheilten Wunden schmerzen mehr. Alle sind glücklich, kaum mehr der Gefahr ausgesetzt zu sein, auf dem Hauptplatz von einer Bombe zerrissen zu werden. Aber man möchte bald mehr sehen. Aber können diese Menschen ihre Hoffnungen und ihre Meinung ausdrücken? Die meisten Intellektuellen und jungen Berufskräfte haben das Land verlassen. Bei der verbliebenen Bevölkerung gehört ziviler Widerstand und ziviler Ungehorsam nicht zu den vorherrschenden Lebenserfahrungen. Eine Freundin aus dem zentralbosnischen Zenica erzählte mir: "Die Leute beugen den Kopf, ducken sich, schweigen und leiden. Niemand fragt nach nichts. Niemand wagt es, sich bemerkbar zu machen. Kürzlich hatten wir 15 Tage lang keinen Strom. Aber niemand wagte zu fragen weshalb. Schweigen. Es wurde gemunkelt, daß die Stromleitungen unterbrochen seien. Andererseits gibt es Gerüchte, der Strom sei nach Kroatien verkauft worden. Wir werden nie wissen, was wahr ist, weil wir es nicht wagen, danach zu fragen. Die Menschen fragen auch nicht, weshalb es kein Wasser gibt. Als die Eisenminen noch arbeiteten, gab es immer Wasser. Jetzt nicht mehr." Dieses Schweigen, das so typisch ist für die nach-jugoslawischen Länder, zu durchbrechen, ist die größte Herausforderung. Mehrere Prozesse sind dazu notwendig.
Demokratisierung
Aus der Ent-Nazifizierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg können wir lernen, wieviel Energie, Kreativität und finanzielle Mittel nötig waren, um die Lektion der Demokratie einer Bevölkerung beizubringen, die dem Prinzip ,eine Partei, ein Führer, eine Nation" nachgelaufen war. Haben nicht auch im ehemaligen Jugoslawien die Menschen viel Begeisterung für solche Ideen gezeigt? Kein Land ist frei von solchem Ungeist. Ein Demokratisierungsprogramm müßte folgende Fragen angehen:
Wie können die Menschen an einem demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß teilnehmen? Wie können Menschen, die vom Krieg gezeichnet sind, die mit ruinierten Häusern und Leben konfrontiert sind, über Nacht lernen, was Teilnahme und Beteiligung bedeuten? Welche Schul- und Kindergartenprogramme gibt es dafür? Werden die Schulkinder etwas hören über die Respektierung von Menschenrechten, über gewaltfreie Konfliktlösung? Oder werden sie dem Lauf der Geschichte und der Gefahr überlassen, die Fehler ihrer Eltern zu wiederholen? Werden sie lernen, für sich selber zu sprechen, oder werden sie still bleiben? Die Motivation zur Demokratisierung war in Deutschland sicher viel höher als in Bosnien. Deutschland war reicher, wichtiger, gefährlicher. Bosnien ist unbedeutend in den Augen der Führer der mächtigen Staaten. Jetzt ist der Moment gekommen, ob sich Europa die Wiederaufnahme des Waffenlaufes leisten kann oder ob es sich dafür entscheidet, in wirkliche solide Grundlagen des Friedens zu investieren. Werden sie ihr Geld für die Wiederaufrüstung des Militärapparates stecken oder werden sie Demokratisierungsprogramme finanzieren?
Wiederbesiedlung und Rückkehr
Die Rückkehr vertriebener Menschen ist ein komplizierter Prozess, bei dem der Wiederaufbau der Häuser nur ein kleines Problem darstellt. Menschen, die zurückkehren wollen, und solche, die sie dort aufnehmen werden, müssen auf schwierige Situationen, auf unausweichliche Konflikte vorbereitet werden.
Selbst mit der Hilfe hunderttausender Menschenrechts- AktivistInnen, die zurückkehrende Flüchtlinge begleiten würden, nähme dieser Prozess viel mehr als das eingeplante Jahr in Anspruch. Freiwillige von Organisationen wie Otvorene Oci (Offene Augen) und der Peace Brigades International PBI können bei der Planung und Durchführung dieses Prozesses helfen. Wird es Unterstützung geben für solche zivilen Initiativen, die sich für Menschenrechte und gewaltfreie Konfliktlösung einsetzen? Werden sie auf Verständnis für die Bedeutung ihrer Arbeit stoßen? Wird anerkannt werden, wie wichtig es ist, die Bildung von lokalen Friedens- und Frauengruppen zu ermutigen.
Die Wahrheit sagen
In den letzten Monaten war immer wieder zu hören, man müsse jetzt mit dem Wiederaufbau beginnen und die Verfolgung der Kriegsverbrechen für den Moment hintenanstellen. Das ist eine sehr kurzsichtige Überlegung. Angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, wo viele Wunden offen blieben und die Erinnerung an Verbrechen unter den Teppich gewischt wurden, ist dies sicher nicht die beste aller Ideen. Personen, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sind, müssen bestraft werden. Das Internationale Kriegsverbrechertribunal spielt hier eine wichtige Rolle. Die Prozesse gegen Kriminelle, die der Ermordung tausender Menschen angeklagt sind, könnten wieder Vertrauen in die internationalen Institutionen schaffen. Werden die Gerichte in Mostar die Stärke besitzen, diejenigen anzuklagen, die Verbrechen in Mostar begangen haben? Werden die Gerichte in Banja Luka die Stärke besitzen, die Verbrechen in der Serbischen Republik zu verfolgen. Ich warte auch darauf, daß wir die ersten Prozesse gegen Kroaten sehen, die in Kroatien Kriegsverbrechen begingen. Bis jetzt gab es Prozesse nur gegen angeklagte Serben. Wir müssen lernen aus den Erfahrungen, die die Wahrheitskommission in Chile, Argentinien und Südafrika machten. Material über die Verbrechen aller Seiten sollten nicht nur vom Tribunal in Den Haag gesammelt werden. Dort können nur wenige Verbrecher angeklagt werden. Es ist darum wichtig, daß die lokalen Rechtssysteme beweisen, daß sie Kriegsverbrechen aller Seiten zu bestrafen gewillt sind. Es gibt nicht viele solche Erfahrungen in Europa. Am ähnlichsten sind wohl die Erfahrungen der Provinzkommission im italienischen Friaul. VertreterInnen aller Kriegsparteien präsentierten dort Listen von ermordeten oder verschwundenen Personen mit den Namen der verdächtigten Täter. Solche Listen müssen wir auch in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien erstellen. Können diejenigen, die in anderen Ländern solche Erfahrungen gemacht haben, uns dabei helfen?
Normalisierung
Normalisierung ist ein Prozess, der aus vielen delikaten und notwendigen Fäden gewoben wird. Die Menschen hier auf dem Balkan lernen langsam. Wie lange politische Führer brauchen, bis sie politische Reife erlangen, sehen wir am Beispiel unseres Präsidenten Franjo Tudjman, der immer noch nicht akzeptieren kann, daß seine Partei die Wahlen in der Hauptstadt Zagreb verloren hat. Die Opposition hat gewonnen. Mehr als drei Monate nach den Wahlen hat Zagreb aber immer noch keinen Bürgermeister. Obwohl der Stadtrat sich konstituierte und einen neuen Bürgermeister bestimmte, weigert sich der Präsident, diesen - und damit den Willen der WählerInnen - anzürkennen. 450 BürgerInnen serbischer Nationalität, nach der Militäraktion im August 1995 ins Gefängnis gesteckt, wurden schließlich auf internationalen Druck hin amnestiert. Die Regierung hat dem Parlament inzwischen vorgeschlagen, die zeitliche Begrenzung aufzuheben, um den serbischen Flüchtlingen eine Rückkehr zu ermöglichen. Vielleicht wird dies einigen Individuen tatsächlich helfen, wenn auch die Prozeduren hoffnungslos langsam sind. Die Rückkehr serbischer Familien nach Westslawonien würde den Friedensprozess in Ostslawonien erleichtern. Friedensgruppen aus Kroatien und Serbien arbeiten an gemeinsamen Programmen. Jetzt ist die Zeit für Kreativität und den Einsatz all unserer Energie. Es wird keinen besseren Waffenstillstand geben, um damit anzufangen.