Großbritanniens Atomstreitkräfte

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"...Ich denke, es wäre nicht wünschenswert, wenn wir uns durch eine Teilnahme an Rüstungskontrollverhandlungen einschränken würden."

(Nick Witney, Direktor für Atompolitik und Sicherheit im britischen Ver­teidigungsministerium, im März 1993 vor dem Select Committee des Un­terhauses)

Es gibt kein Anzeichen dafür, daß Großbritannien seine Atomwaffenpro­gramme jemals wegen der Unterzeich­nung des Atomwaffensperrvertrags ein­geschränkt hätte. Waffensysteme sind entwickelt, stationiert, außer Dienst ge­stellt und modernisiert worden, als ob der Vertrag nicht existiert hätte. Und Großbritannien hat sich an keiner einzi­gen Abrüstungsvereinbarung beteiligt.

Seit 1968 hat die "kleine" Atommacht Großbritannien 22 Atomwaffensysteme entwickelt. Darunter ballistische U-Boot-Raketen, Atombomben und »depth bombs«, strategische U-Boote, atom­waffenfähige Flugzeugträger, Zerstörer, Fregatten, Kampfflugzeuge und Hub­schrauber, genauso wie Boden-Boden-Raketen und Artilleriegranaten. Fünf Atomwaffensysteme sind von den USA geliefert worden, alle übrigen sind ent­weder ausschließlich britisch oder aus Gemeinschaftsprogrammen mit den USA hervorgegangen. Großbritannien führte 44 Atomwaffenversuche durch, fast die Hälfte davon nach 1968.

Das eklatanteste Beispiel für die Missachtung von NPT-Verpflichtungen durch Großbritannien ist die Einführung größerer Atomwaffensysteme unmittel­bar vor oder nach NPT-Folgekonferen­zen. 1968 schickte Großbritannien we­nige Wochen, bevor es dem endgültigen Text des Sperrvertrags zustimmte, sein erstes Polaris-U-Boot auf Patrouillen­einsatz. Und im Juli 1980, nur wenige Wochen vor der zweiten NPT-Folge­konferenz kündigte Großbritannien an, das ballistische Raketensystem für Tri­dent-U-Boote zu kaufen, und begann mit der Entwicklungsarbeit an dem Tri­dent-Gefechtskopf.

Rüstungskontroll- und Abrüstungs­politik

Für die jetzige britische Regierung ist eine atomwaffenfreie Welt kurz- und mittelfristig keine praktische oder reali­stische Möglichkeit. Vollständige nu­kleare Abrüstung gilt nur als ein langfri­stiges Ziel.

Stattdessen rechtfertigt das Verteidi­gungsministerium neue Entwicklungs­vorhaben mit der Vermutung, daß Großbritannien in etwa zehn Jahren durch Raketen aus der »Dritten Welt« bedroht werden könne. Anläßlich einer Studie über Raketenabwehrsysteme er­klärte das Ministerium im August 1994, es werde "Optionen, Kosten, technische Risiken und zeitliche Realisierungsmög­lichkeiten vor allem mit Blick auf die entstehende Bedrohung aus der Dritten Welt untersuchen."

Als Reaktion auf us-amerikanisch-so­wjetische Abrüstungsinitiativen Anfang der 90er Jahre stellte Großbritannien ein paar Waffen der Marine und Bomben der Luftwaffe außer Dienst. Um keine Illusionen zu wecken, stellten sie jedoch klar, daß dies ausschließlich deshalb ge­schah, weil diese Waffen sich militä­risch überholt hätten. Großbritannien di­stanzierte sich explizit von den atoma­ren Abrüstungsinitiativen der beiden Großmächte.

Durch das Außer-Dienst-Stellen der mi­litärisch überholten Waffen verkleiner­ten sich das gesamte Atomarsenal von 300-350 auf 200 Sprengköpfe. Wenn das Trident-U-Boot-Programm zur Jahrhundertwende abgeschlossen ist, wird das britische Atomarsenal jedoch wieder auf eine Größe von 300 ange­wachsen sein.

Stand der britischen Atomrüstung

In den letzten 15 Jahren hat Großbritan­nien sein strategisches Atompotential erheblich weiterentwickelt. Das Trident-U-Boot wird bis zu 96 Gefechtsköpfe mit einer Sprengkraft von je 100 Kilo­tonnen (also insgesamt das Tötungspo­tential von 640 Hiroshima-Bomben) an Bord haben. Das Zerstörungspotential der fertiggestellten Trident-Flotte wird 2.500 Hiroshima-Bomben entsprechen. Verglichen mit der gegenwärtigen Pola­ris-Flotte, werden die Trident-U-Boote eine größere Zahl von nuklearen Ge­fechtsköpfen mit einer größeren Sprengkraft besitzen.

Die Raketen werden eine größere Reichweite und eine verbesserte Ziel­genauigkeit haben, und sie werden we­sentlich mehr verschiedene Ziele treffen können. Trotzdem betrachtet Großbri­tannien die Trident-Flotte noch immer als eine Minimalabschreckung. Anfang 1992 lehnte Premierminister John Major den Abbau strategischer Atomwaffen ab und nannte sie "das mindestnotwendige strategische Abschreckungsmittel, um auch in Zukunft die Sicherheit unseres Landes zu garantieren".

Darüber hinaus lehnt Großbritannien den formellen Verzicht auf den Erstein­satz von Atomwaffen ab. "Eine solche Erklärung", meinte Verteidigungsmini­ster Malcolm Rifkind im November 1993, "würde in jedem Fall bedeuten, daß ein konventioneller Angriff geführt werden könnte, ohne eine Überschrei­tung der Nuklearschwelle befürchten zu müssen... Bei all seinem vordergründi­gen moralischen Reiz würde uns ein Verzicht auf den Ersteinsatz aus dem Feld der Kriegsverhütung heraus- und in das Feld der Kriegsbegrenzung hin­einführen."

Britische Fliegerverbände werden wei­terhin für Atomwaffen nachgerüstet. Großbritannien hat vier Tornado-Staf­feln auf dem RAF-Stützpunkt in Brüg­gen (Deutschland) und vier weitere in Großbritannien stationiert. Alle sind sie mit der Atombombe WE-177A/B be­stückt.

Es ist davon auszugehen, daß die WE-177A/B um das Jahr 2007 das Ende ih­rer Dienstzeit erreichen wird. Obwohl das Trident-Programm nach britischer Absicht eine substrategische Rolle übernehmen soll, ist die WE-177 auch eine taktische Atombombe und man er­hält sich die Kapazitäten, um eine neue von Flugzeugen abzuwerfende Bombe zu entwickeln, die an ihre Stelle treten soll.

1993 testete die Royal Navy im Gehei­men eine amerikanische Tomahawk-Cruise Missile auf einem ihrer Nuklear-U-Boote. Das britische Interesse an Tomahawks wurde im Juli 1994 von Verteidigungsminister Malcolm Rifkind bestätigt, der erklärte, Großbritannien werde "die Möglichkeit untersuchen", Tomahawk-Cruise Missiles "anzuschaffen und in NATO-Dienst zu stellen". Es wird davon ausgegangen, daß gegenwärtig nur konventionell be­waffnete Cruise Missiles in Erwägung gezogen werden, doch die Tomahawk könnte auch eine atomare Abschrec­kungsvariante darstellen, die billiger ist als das Trident-System.

Die britische Atomrüstungsindustrie

Die britische Atomrüstungsindustrie (Atomic Weapons Establishment, AWE in Aldermaston) ist zuständig für For­schung und die Konzeption, Entwick­lung, Herstellung, Wartung und die Demontage von Atomsprengköpfen. Das AWE beschäftigt etwa 5.000 Men­schen.

Großbritannien hat sich eindeutig darauf festgelegt, seine Möglichkeiten zur Konstruktion, Entwicklung und Her­stellung neuer Atomwaffen auch in Zu­kunft zu erhalten. Für Verteidigungsmi­nister Rifkind besteht noch immer die Notwendigkeit eines "herausfordernden Forschungsprogramms, damit wir un­sere Fähigkeit bewahren, für die Si­cherheit und Zuverlässigkeit unserer stationierten Gefechtsköpfe zu garantie­ren, und damit wir unsere technologi­sche Kompetenz erhalten, Gefechtsköpfe zu entwickeln und herzustellen, sofern künftige Umstände dies notwendig ma­chen sollten."

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