Miteinander leben - voneinander lernen

Grundlagen einer Kultur des Friedens

von Bernhard NolzWolfgang Popp
Schwerpunkt
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Das Jahr 1999 ist geprägt durch den Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien, unter Beteiligung deutscher Militäreinheiten.

Man mag für die Notwendigkeit dieses Angriffskrieges Argumente vorbringen, welcher Art auch immer, es bleiben Argumente, die Gewalt, den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln, die Tötung von Menschen, die Zerstörung von Zivilisation befürworten. Es sind Argumente, die dem Geist einer Kultur der Gewalt entspringen.

Wie kommt es, dass so viele, die in den Friedensbewegungen der letzten Jahrzehnte so sicher waren, dass Krieg unter keinen Umständen ein Mittel der Politik sein dürfe, plötzlich schwankend wurden und sich moralisch "zerrissen" fühlten? Alle Differenzierungsversuche der Kriegsbefürworter bleiben einer Gewaltlogik verhaftet. Gewaltkultur, wie sie sich in solchen Gedanken und Vorgängen unverhüllt aggressiv zeigt, bedeutet zugleich: kulturelle Gewöhnung an Gewalt, Akzeptanz von sublimer oder offener Gewalt als das "geringere Übel" oder als Notwendigkeit zur "Verhinderung von Schlimmerem". Sie bleiben Akte der Gewalt.

Wie kontraproduktiv einfache Betroffenheitsgefühle für die Ausprägung von Friedensdenken und Friedenshandeln sind, zeigt sich angesichts des Kosovo-Konfliktes deutlich. Dieses Mal entspricht die Zustimmung zu kriegerischer Gewalt der "Zerrissenheit" ihrer Protagonisten. Wie schon anlässlich des Golfkrieges weicht die unbearbeitete Betroffenheit einer dumpfen Projektion. Aus der erforderlichen "Ich-Verantwortung" wird ein "Projektions-Du": Wenn du gegen das militärische "Eingreifen" der NATO bist, unterstützt du Milosevic und seine aggressive Kosovopolitik; wenn du die Vertreibung der Kosovo-Albaner für inhuman hältst, musst du das militärische "Eingreifen" der NATO für notwendig halten. Für die Umkehrung dieser formelhaften Vergewisserungen im Sinne einer friedenspolitischen Option fehlt den Protagonisten der Zerrissenheit meistens die Kraft der pazifistischen Vision. Inzwischen ist offenkundig und wird von allen kompetenten Kennern der Situation bestätigt, dass Vertreibungen in beachtlichem Umfang und Massenfluchten erst nach dem Beginn der NATO-Bombardements einsetzten und dass der Einmarsch von Nato-Truppen in den Kosovo neue Vertreibungen ermöglicht haben.
Die "Zerrissenheit" einer Gruppe friedenspolitisch engagierter Menschen hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass sie sich den Informationen und Kommentierungen der Massenmedien ausliefern. Alle wissen, dass die Massenmedien, auf die wir schließlich angewiesen sind, Informationen auswählen, unterdrücken, manipulieren, frisieren. Trotzdem kann die Widerstandskraft des einzelnen dagegen nichts ausrichten. Er muss es mit sich alleine abmachen, was er für wahr und überzeugend hält, und darauf seine politische Einstellung begründen. Zur Bedeutungslosigkeit der Friedensbewegung hat auch beigetragen, dass zu wenige, die sich ihr zugehörig gefühlt haben, die Informationsquellen und Medien der Friedensbewegung, der Friedenswissenschaften und der Friedenspädagogik wahrgenommen und rezipiert haben. Auf diese Weise konnte bei vielen die Friedenskompetenz der selektiven und kritischen Wahrnehmung von Informationen verlorengehen.

Vielleicht ist hier die Schnittstelle zwischen der traditionellen politischen Kultur der Gewalt und einer neuen, notwendigen Kultur des Friedens. Dass sich Menschen einbinden lassen in eine zwanghafte "Zerrissenheit" zwischen Gewaltbefürwortung und Gewaltablehnung, hat damit zu tun, dass sie traditionellen kulturellen Prägungen ausgesetzt sind oder waren, die die Möglichkeit der Gewaltausübung einkalkulieren: Gewalt, wenn oder weil nötig, in der Erziehung; Gewalt, wenn nicht vermeidbar, in zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen; Gewalt zur Durchsetzung von Macht im politischen Geschäft usw.

"Wir sind sowohl die Produkte einer Zivilisation des Krieges als auch potentielle Personifikationen einer Kultur des Friedens. In uns, unserer Kultur und unserer Gesellschaft existieren [unterschiedliche] Einstellungen und Auffassungen, die wir verstehen, mit denen wir uns auseinandersetzen und die wir bewältigen müssen." - bemerkt Federico Mayor, der Generaldirektor der UNESCO, in seinem pragmatischen Buch "Die Neue Seite" (S. 34). Es ist die nüchterne Analyse der "Zerrissenheit" der einzelnen gegenüber der brutalen Realität des Krieges als Ergebnis einer "Zivilisation des Krieges". Aber es ist zugleich eine starke Ermutigung, am Aufbau einer Kultur des Friedens mitzuwirken, die Kultur des Friedens in der eigenen Person zu realisieren.
Dazu wollen wir einen Beitrag leisten, der auf Probleme, Perspektiven, Alternativen von Bildung, Erziehung, Lehren und Lernen zentriert ist. Federico Mayor stellt in den Mittelpunkt seines Programms der Entwicklung einer Kultur des Friedens "Das Miteinander lernen", das "in unseren Kindern und in uns selbst Altruismus entstehen lässt und fördert. Altruismus kann nur schwer auf eine rein rationale oder sachliche Weise beschrieben werden. Aber das Wort meint jene Fähigkeit, über die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse oder die eigenen unmittelbaren Wünsche hinauszudenken, um dann mit sehr viel Liebe für und Achtung vor allen Lebewesen in unserer Umgebung zu handeln. Es ist die Fähigkeit, örtliche und fachliche Enge zu überwinden und seinen Beitrag zur Welt zu leisten."

Das mag etwas vollmundig klingen, aber es markiert tatsächlich den Ort, an dem eine Kultur des Friedens sich entwickeln kann: im einzelnen Individuum, im einzelnen Gesellschaftsmitglied und in seiner Beziehung zum Anderen, zum Nächsten wie zum Entferntesten, Fremden. Kultur des Friedens kann "von oben" zwar proklamiert, aber nicht verordnet oder realisiert werden. Sie entwickelt und gestaltet sich von unten, von der Basis der Gesellschaften her.

"Miteinander lernen" kann in unterschiedlichen Lebensepochen und Erfahrungsräumen des einzelnen Menschen unterschiedliche Formen annehmen. Als solche Lebensepochen und Erfahrungsräume lassen sich grob abgrenzen: Familie/Eltern, Jugendkultur, Peer-Group, die Schule, die Massenmedien, das öffentliche Leben.

Unterschiedliche Formen des Miteinanderlernens lassen sich in den einzelnen Lebensepochen und Erfahrungsräumen auf unterschiedliche kulturelle Problemfelder beziehen, die ihrerseits grob voneinander abgegrenzt werden können: Krieg - Militär - Frieden, Demokratie - Kultur, Konflikte, Nord-Süd-Problematik, Umwelt

Wir versuchen, diese grob abgegrenzten Problemfelder in einer Matrix auf die Lebensepochen und Erfahrungsräume der Individuen zu beziehen und durch Stichwörter mögliche Formen des Miteinanderlernens in diesem Beziehungssystem zu konkretisieren. Damit soll einerseits ein gewisser Überblick über das komplexe Gesamtfeld des Miteinanderlernens für eine Kultur des Friedens ermöglicht werden.

Um die vielfältigen Verknüpfungen zwischen Lebensepochen und Erfahrungsräumen der einzelnen, Problemfeldern der Entwicklung einer Kultur des Friedens und Formen des Miteinanderlernens exemplarisch sichtbar zu machen, verweisen wir auf die relevanten Schnittstellen im Netzwerk unserer Matrix. Diese Schnittstellen scheinen uns besonders geeignet, jetzt, im "Internationalen Jahr für eine Kultur des Friedens" Pflöcke einzuschlagen für die Fundierung eines dauerhaften und verzweigten Miteinander Lernens.

Als solche Schnittstellen sehen wir:
 

  • Einstellungen und Erziehungsstile von Erwachsenen, v. a. Eltern und Lehrpersonen
     
  • Pazifismus als Grundhaltung
     
  • Umgang mit der Geschichte
     
  • Aneignung von Friedenskompetenzen
     
  • Pädagogik ohne Strafen
     
  • Offenheit gegenüber dem Fremden
     
  • Umgang mit Gewalt
     
  • Erziehungsfaktor Massenmedien/Medientechnologien
     
  • Lernen in der Friedensbewegung
     

 

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Bernhard Nolz ist Lehrer i. R., Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden, Aachener Friedenspreisträger.
Prof. em. Dr. Wolfgang Popp, Literaturwissenschaftler im Ruhestand, vertritt das Forschungs- und Lehrgebiet Friedenserziehung an der Universität Siegen.