Atomreaktor

Grundlagenforschung - wozu?

von Dietrich Antelmann

Nach anderthalbjährigen Wartungs- und Umbauarbeiten ist trotz eines nicht behobenen Risses im Kühlsystem der Experimentierreaktor BER II in Berlin-Wannsee im Frühjahr wieder in Betrieb gegangen. Mit einem Alter von 39 Jahren gehört er zu den Reaktoren, die sogar nach den Kriterien der atomfreundlichen Internationalen Atomenergie-Organisation stillgelegt werden sollten. Die im Atomreaktor anfallenden Neutronenströme, die für Forschungszwecke extra stark sind, bewirken, dass Materialien spröde und rissig werden und schließlich ohne wesentliche Dehnung (Vorwarnung) brechen. Aus diesem Grund ließ der Betreiber, das Helmholtz Zentrum Berlin (HZB), bei den letzten Wartungsarbeiten weit mehr Teile austauschen als geplant und musste die für Juni 2011 vorgesehene Wiederinbetriebnahme des Reaktors auf Ende März 2012 verschieben.

Davon unberührt wollen Betreiber und Berliner Senat den BER II noch weitere 15 Jahre laufen lassen. Für sie gehört der Riss zum genehmigungsfähigen Zustand. Bedeutender für den Forschungsbetrieb sind die Experimentiermöglichkeiten. So ist vor kurzem in Zusammenarbeit mit dem „National High Magnetic Field Laboratory“ Florida ein neuer, international einzigartiger Hochfeldmagnet mit einer Feldstärke von 25 bis 30 Tesla – etwa eine Million Mal stärker als das Erdmagnetfeld – installiert worden. Die Mittel für das rund 20 Millionen Euro teure Großprojekt waren für den solaren Forschungsbereich vorgesehen.

Verantwortungslose Leichtsinnigkeit
Am Schutz für die Bevölkerung wird hingegen gespart. Das bemängelte der vom Ausschuss für Stadtentwicklung und Umwelt des Berliner Abgeordnetenhauses vor Wiederinbetriebnahme des Reaktors gehörte Physiker Dr. Wolfgang Liebert. Er stellte fest, dass die Anlagensicherheit des Zehn-Megawatt-Reaktors auf dem Stand von 1973 stehengeblieben ist. Es fehlt beispielsweise an einer seit 1981 vorgeschriebenen meterdicken Stahlbetonummantelung. Auch ein Sicherheitsbehälter schützt den Reaktor nicht. Für Liebert ein Ausdruck struktureller Verantwortungslosigkeit.

Zu einem ähnlichen Urteil gelangte im Juni die Reaktorsicherheitskommission (RSK), die als die wichtigste Expertenkommission zur nuklearen Sicherheit in Deutschland gilt. Ihrem Bericht zufolge hat der Forschungsreaktor den Stresstest nicht bestanden. Schon leichte Flugzeuge können dem ungesicherten Forschungsreaktor empfindliche Schäden zufügen, die schlimmstenfalls zu einer Kernschmelze und der Verstrahlung weiter Teile Berlins und Potsdams führen könnten. Der vom Betreiber und der Fachaufsicht vertretenen Auffassung, dass die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes in der Größenordnung von „einmal pro zehn Millionen Jahre“ liege, erteilte die RSK eine Abfuhr. Der Riss im Kühlsystem blieb unerwähnt.

Gefährlich sind auch die radioaktiven Emissionen des BER II. Sie liegen in der Abluft des Forschungsreaktors teilweise höher als bei großen Leistungsreaktoren. Die Anwohner nehmen eine erhöhte Krebshäufigkeit wahr. Dass die vom Reaktor ausgehende Dauerniedrigstrahlung Gesundheitsschäden hervorruft, auch wenn sie unterhalb der Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung liegt, bestätigte der Physiker und Präsident der Strahlenschutzgesellschaft Sebastian Pflugbeil im Mai 2012 vor dem Gesundheitsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Konsequenzen zogen Betreiber und Senat nicht.

Militärische Zwecke vermutet
Warum werden mit einem altersschwachen, nicht mehr betriebssicheren Atomreaktor Existenz und Gesundheit der Bevölkerung Berlins und Potsdams gefährdet? Warum schweigen die privaten und öffentlichen Medien? Warum meldet sich der Technische Überwachungsverein (TÜV) nicht zu Wort? Sind vielleicht Großmachtambitionen im Spiel?

Das HZB gehört zu den 18 Forschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft mit zusammen fast 33.000 Beschäftigten und einem jährlichen Budget von etwa 3,5 Milliarden Euro. Erklärtes Ziel der größten und die Forschungslandschaft Deutschlands prägenden Einrichtung ist es, „große und drängende Fragen von Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft zu beantworten“ (Zahlenangaben und Zitat laut Selbstdarstellung auf www.helmholtz.de). Von Energiequellen der Zukunft ist die Rede.  Aber auf dem weiten Gelände des HZB wird nicht eine einzige Solarzelle betrieben. Lediglich auf den Laubendächern der vorgelagerten Kleingärten findet man Solarmodule. Der Forschungsreaktor muss also anderen Zwecken dienen.

Aus den Propagandabroschüren des HZB geht hervor, dass sich mit Hilfe der im Reaktor erzeugten Neutronen neuartige Werkstoffe oder Bauteile entwickeln lassen, die zum Beispiel sehr robust sind. Unter dem Stichwort „Werkstoffe prüfen“ werden „Brennkammern von Raketen“ aufgeführt. Auffallend ist, dass diese Art der Forschung von Ländern betrieben wird, die wie Deutschland im Waffenexport eine Spitzenstellung einnehmen und anstelle diplomatischer Methoden robuste „Friedensmissionen“ bevorzugen. Mit elf Neutronenquellen haben die Europäer inzwischen die USA, die fünf Neutronenquellen betreiben, überrundet.

In den die Forschungsschwerpunkte bestimmenden Gremien der Helmholtz-Gemeinschaft sitzen unter anderem Vertreter des zweitgrößten europäischen Rüstungskonzerns EADS und US-Wissenschaftler aus dem Bereich „Militärische kerntechnische Anlage“ wie dem „Idaho National Laboratory“. Privatrechtlich organisiert entziehen sich die aus Steuergeldern finanzierten Forschungseinrichtungen demokratischer Kontrolle und ermöglichen, dass die benötigten Mittel für die vom Bundestag beschlossene Energiewende nach wie vor in den Ausbau der Nukleartechnologie fließen.

Auf der Website der Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (Bündnis 90/Die Grünen) ist zu lesen, dass amerikanische und französische Versuche, die Kernfusion durch den Einsatz von Lasertechnik in Gang zu bringen, nicht allein der Energiegewinnung zugute kommen. „Mit der Verwendung einer verbesserten Lasertechnik ließen sich fortan auch sogenannte Mini-Nukes, kleine Wasserstoffbomben, ohne großen Aufwand einsetzen ... Die Erforschung der Laserfusion erscheint damit auch als ein militärisches Experiment, um die Physik von Wasserstoffbomben besser zu verstehen – und zu optimieren.“ Ende letzten Jahres hat die US-Regierung beschlossen,  zur besseren Einsatzfähigkeit der in Europa lagernden Massenvernichtungswaffen diese durch kleinere und zielgenauere Atombomben zu ersetzen. Dafür sind rund sieben Milliarden Dollar vorgesehen. Mit Hilfe der Fusionstechnologie können die Tests für die Modernisierung der Nuklearwaffen geheimgehalten werden. Wie vor kurzem bekannt wurde, hat sich die Bundesregierung unter Bruch des Bundestagsbeschlusses bereits im Mai dieses Jahres beim NATO-Gipfel bereiterklärt, dass auch die neuen, völkerrechtlich geächteten Atomwaffen  auf deutschem Boden gelagert werden dürfen. 

Bereits 1957 plante die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer die Gründung eines Fusionsforschungszentrums, um die für den Bau einer Wasserstoffbombe notwendigen Kenntnisse zu erwerben. Dafür waren der Physiker Erich Bagge (früher am Atomprojekt der Nazis beteiligt) und der Ingenieur Paul Schmidt (er hatte während des Krieges das Triebwerk der V 1-Rakete mitentwickelt) vorgesehen. Der Einspruch Carl Friedrich von Weizsäckers konnte das verhindern: Es lägen „gesicherte Erfahrungen“ vor, dass „ein Fusionsreaktor für friedliche Zwecke nicht hergestellt werden“ könne. Allenfalls könnten die Ideen „im militärischen Bereich nutzbar gemacht werden“. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Fusionsreaktoren sind prinzipiell geeignet, bestes Waffenplutonium (Pu-239) zu erbrüten. Heute ist Deutschland in der Fusionstechnik Weltspitze. Daran beteiligt ist der Reaktor in Wannsee. Bei seiner Errichtung 1958 sollte er noch der Entwicklung und dem Bau einer deutschen Atombombe dienen. Doch die „Göttinger 18“, eine Gruppe prominenter Atomwissenschaftler, durchkreuzten diese Pläne, indem sie an die Öffentlichkeit gingen. Trotzdem wurde am Nuklearstandort Wannsee an der Kernforschung festgehalten und nebenbei immer in Richtung Fusion geforscht. Der Lieferant des anfangs erwähnten Magneten führt auf seiner Website als Kooperationspartner die US-Atomwaffenschmiede „Los Alamos Laboratory“ auf. Für das Forschungsvorhaben mit dem Hochfeldmagneten ließ das HZB sein Reaktorgebäude und die Versuchshalle erweitern beziehungsweise neu bauen. Da der experimentelle Fusionsreaktor Wendelstein 7-X im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifswald, an dem die USA mit über 7,5 Millionen Dollar beteiligt sind, auch mit hohen Magnetfeldern arbeitet, liegt der Schluss nahe, dass die Neubauten des HZB ebenfalls der Fusionsforschung dienen. Mit dem neuen Hochfeldmagneten kann unter anderem getestet werden, wie sich das bei einer Fusion entstehende heiße Plasma einschließen lässt. Der optimierte Neutronenleiter eignet sich für die Entwicklung von Materialien, die besonders starken Neutronenströmen widerstehen. Nach eigenen Informationen kooperiert das HZB mit rund 400 Partnern an deutschen und internationalen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Namen nennt es nicht. Aufschlussreicher ist die HZB-Mitarbeiterzeitung „Lichtblick“. Ihr ist zu entnehmen, wie Zuarbeit für das „Los Alamos Laboratory“ geleistet wird. Die Forschung des „Los Alamos Laboratory“ und des HZB auf den Gebieten etwa der Luft- und Raumfahrt und der Computerwissenschaft, welche ebenfalls militärisch bedeutsam sind und in den rüstungstechnischen Zielen mit der Nukleartechnik überlappen, sind deckungsgleich. Dazu passt die kurz nach der Wiedervereinigung erfolgte Änderung des Kriegswaffenkontrollgesetzes, das den Deutschen die völkerrechtlich geächtete Entwicklung und Herstellung von Atomwaffen gestattet, wenn sie nur der Verfügungsgewalt der NATO unterstellt würden.

In Zeiten knapper werdender Ressourcen setzt Deutschland vermehrt auf die militärische Karte. Um dieser gefährlichen Entwicklung zu begegnen, muss die Forschung wieder in staatliche Hände überführt und unter Mithilfe der Zivilgesellschaft demokratisiert werden. Es gilt eine zukunftsfähige Forschung zu gestalten, die wirklich zur Lösung der drängendsten Probleme beiträgt und sie nicht noch vergrößert.

Der Beitrag wurde mit Erlaubnis des Autors der Zeitschrift: Ossietzky. Heft 17, vom 18. August 2012, S. 657-661, entnommen und vom ihm gekürzt.

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