Menschenrechte

Guantanamo schließen

von Frida Berrigan

Die Autorin, Frida Berrigan, ist die Tochter von Philipp Berrigan, dem Bruder von Daniel, um den es in dem vorherigen Artikel ging. Ihre Eltern waren beide vielfach wegen direkten gewaltfreien Aktionen im Gefängnis, was sie in diesem Artikel, der ein Auszug aus einem Buch ist, anspricht.
2005 half ich dabei, „Witness Against Torture“ zu gründen, als 25 von uns nach Kuba in der Hoffnung flogen, Zugang zu Guantánamo Bay zu erhalten, der US-Marinebasis, wo zu dem Zeitpunkt mehr als 700 Männer, als „feindliche Kombattanten“ bezeichnet, festgehalten wurden. Wir griffen dabei nur eine Einladung auf, die Präsident George W. Bush den FührerInnen der Europäischen Union in Antwort auf Beschuldigungen wegen Folter und Menschenrechtsverletzungen gemacht hatte: „Sie sind willkommen, selbst dorthin zu gehen … und sich die Bedingungen anzuschauen“, hatte Bush gesagt.

Das taten wir also. Die Verantwortlichen in der Basis lehnten unsere Bitten um Zugang ab, und so fasteten wir und hielten eine fünftägige Mahnwache ab, bevor wir nach Hause zurückkehrten, um eine Bewegung zu gründen, Guantánamo zu schließen und Folter und unbefristete Haft zu beenden. Die ersten „widerrechtlichen feindlichen Kombattanten“ kamen in  Guantánamo am 11. Januar 2002 an. Seitdem haben die AmerikanerInnen die Wahrheit erfahren – die große Mehrheit dieser Männer waren nicht „die Schlimmsten der Schlimmsten“, wie Offizielle der Bush-Administration behaupteten. Sie waren Hühnerzüchter, analphabetische Stammesangehörige und weitgereiste, gutmeinende Studenten: 93% der Männer in Guantánamo waren von Kopfgeldjägern oder alliierten Regierungen wie Pakistan gefangengenommen worden und dem US-Militär übergeben worden, so eine Studie von Mark Denbeaux, einem Professor an der Seton Hall Law School.

Unser Protest begann in Santiago de Cuba am 7. Dezember. In den nächsten fünf Tagen marschierten wir rund 70 Meilen. Wir übernachteten am Straßenrand. Manchmal gingen wir schweigend, meditierten über die Geschichte von Gefangenen in Guantánamo. Ich dachte an Mohamed und Murat, zwei Teenager.

Mohamed el Gharani, im Tschad geboren, war 14, als er im Oktober 2001 bei einem Überfall auf eine Religionsschule in Pakistan festgenommen wurde. Ein paar Monate später wurde er nach Guantánamo überstellt. Er wurde die ganze Zeit über misshandelt, weil er, so sein Anwalt, sich lautstark dagegen gewehrt hatte, als „Nigger“ tituliert zu werden. 2009 wurde El Gharani in den Tschad zurückgeschickt.

Murat Kurnaz ist der Sohn einer türkischen Familie aus Bremen. Nach dem 11. September reiste er nach Pakistan, um mehr über den Islam zu erfahren, wurde dort verhaftet und schließlich nach  Guantánamo geschickt. Als Sohn von „GastarbeiterInnen“ hatte er keine deutsche Staatsbürgerschaft, obwohl er in Deutschland geboren worden war. Lange Zeit vertraten die türkischen Behörden die Auffassung, dass Kurnaz deutsch sei und damit nicht ihr Problem. Selbst als Ankara seine Verantwortung schließlich anerkannte, übte es keinen Druck auf Washington aus, Kurnaz zu entlassen. Seine Mutter flehte „um ein Zeichen, dass mein Sohn am Leben ist, dass er gerecht behandelt wird, dass er nicht gefoltert worden ist“. Kurnaz wurde am 24.8.2006 entlassen. Gleich anderen entlassenen Gefangenen aus Guantánamo wurde er per Flugzeug in Handschellen mit Mundbinde, undurchsichtigen Brillengläsern und lärmisolierenden Kopfhörern transportiert. Er berichtete, dass ihm während des 17-stündigen Flugs Essen und Wasser verweigert wurden. Er lebt jetzt mit seinen Eltern in Deutschland und hat einen Schreibtischjob, der ihm Spaß macht. Er sagt, dass er die normalen AmerikanerInnen nicht für die Misshandlungen verantwortlich macht, die er erlitt.

Innerhalb der großen Basis, die sich an beiden Seiten der Guantánamo Bay erstreckt, sind Kubas einziger McDonalds, moderne Freizeit- und Sporteinrichtungen für die amerikanischen SoldatInnen und ihre Familien, zwei Landebahnen und eine Entsalzungsanlage, weil Kuba die Basis von der Wasserversorgung abgeschnitten hat. Und irgendwo in diesem Stück Amerika liegen Camp Delta, Camp Echo, Camp Iguana und Camp V, wo Murat, Mohamed und 500 andere Männer festgehalten wurden.
Wir schlugen unser Camp am kubanischen Zaun auf, fünf Kilometer von dem Gefängnis entfernt, näher als Mohameds Vater oder Murats Mutter ihren Söhnen seit Jahren gekommen waren. Der Staub und die Sträucher am Zaun wurden unser Heim für die nächsten fünf Tage, während wir beteten und fasteten.

Das Hauptziel unserer Reise nach Guantánamo war, die Gefangenen wissen zu lassen, dass sie nicht alleine seien. Trotz der instinktiven Angst, die AmerikanerInnen gegenüber denjenigen haben, die in Guantánamo festgehalten werden, war die Berichterstattung über unsere Aktion in der US-Presse positiv und ausführlich. Unser Marsch fand viel Aufmerksamkeit auch in der internationalen Presse, einschließlich arabischer Medien. Ein Netzwerk von RechtsanwältInnen, die die Gefangenen vertraten, trugen die Information über unsere Nähe und Solidarität zu den Männern. Sie wussten, dass wir es versucht hatten, und dass wir es immer noch versuchen.

Es gibt so viele Themen, so viel Ungerechtigkeit, so viele Verletzungen, die ans Herz und das Gewissen gehen, und es gibt nur begrenzte Zeit, nur begrenzte Energie. Ich werde verfolgt von den Familien, die durch die unbefristeten Gefangennahmen vernichtet wurden, ich bin zerstört durch die Tatsache, dass sie für unsere „Sicherheit“ leiden. Ich tue, was ich kann, weil ich nicht tatenlos zuschauen kann, während Kinder von ihren Vätern ferngehalten werden.
Selbst bevor ich wirklich verstand, was Zeit bedeutete, wusste ich immer, dass meine Mutter und mein Vater aus dem Gefängnis zurückkommen würden. Es war nicht für immer, es war nicht endlos. Sechs Monate, 18 Monate, zwei Jahre, selbst die längsten Urteile hatten ein Datum des Nachhause-Kommens.

Aber Faris, Johinas und Michaels Vater ist nicht nachhause gekommen. Shaker Aamer kommt ursprünglich aus Saudi-Arabien, aber er hat seit 1996 in England gelebt, wo er ein legaler Einwohner war, mit einer britischen Bürgerin verheiratet. Shaker und seine Familie waren 2001 in Afghanistan, wo sie humanitäre Hilfe leisteten, bevor er von afghanischen Kopfgeldjägern ergriffen und an das US-Militär ausgeliefert wurde. Er erinnerte sich an seine Erleichterung, in amerikanische Hände zu gelangen, nachdem er von verschiedenen afghanischen Gruppen festgehalten und misshandelt worden war. Aber diese Erleichterung währte nicht lange. Im Februar 2002 wurde er nach Guantánamo gebracht. Er wurde wiederholt gefoltert, denn er wurde als Anführer angesehen und schweren Misshandlungen ausgesetzt. Seit Juni 2007 ist er für die  Freilassung vorgesehen, da die Bush- und Obama-Administration sich einig waren, dass er kein Terrorist sei und keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten oder ihre Interessen darstelle. Und doch leidet er immer noch im Gefängnis.

Wenn mein Vater im Gefängnis war, bekam meine Mutter von ihm jeden Tag einen Brief. Ihre Korrespondenz war so regelmäßig, dass selbst die kleinste Störung Grund für Alarm war. Nach dem 11. September hörte sie tagelang nichts von ihm. Nachdem sie bei der Gefängnisverwaltung nichts erreichte, appellierte meine Mutter an die Senatorin von Maryland, Barbara Mikulski, die schließlich herausfand, dass mein Vater incomunicado in Einzelhaft gehalten wurde. Er kam dorthin am 11. September, kurz vor dem Mittagessen. Dem Büro der Senatorin wurde gesagt, dies sei zu seinem eigenen Schutz geschehen. Nach zehn Tagen kam er wieder in die normale Haft zurück. Ohne diesen Druck von außen hätte die Einzelhaft ohne Ende sein können.

Ich erinnere mich an diese Tage der Unsicherheit und Sorge, als meine Mama verzweifelt versuchte, herauszufinden, was mit Papa geschehen war. Ich erinnere mich an die Erleichterung, als klar war, was passiert war. Ich erinnere mich, wie die Erleichterung schnell der Empörung wich. Für seinen eigenen Schutz? Er war in keiner Gefahr. Er konnte anderen Insassen helfen, den Horror zu verstehen und zu verarbeiten, den sie auf dem Fernseher im Freizeitraum sahen, Kontexte herstellen, erklären und unterrichten. Das gleiche gilt für Marily Buck, Comancho Negron, Sundiata Acoli und andere, die isoliert und zum Schweigen gebracht wurden. Vielleicht suchte der Gefängnis-industrielle-Komplex Schutz vor einer informierten und motivierten Bevölkerung.

Wir mussten nur zehn Tage warten, aber wir hatten eine US-Senatorin und ihr Büro auf unserer Seite. Zehn Tage, nicht zehn Jahre, nicht zwölf Jahre, nicht für immer.

Wenn ich abends zu lang aufbleibe, um an einer Presseerklärung zu arbeiten, wenn das letzte, was ich tun möchte, ist, Ideen für die nächste Aktion zu überlegen, wenn ich hungrig und schwindelig bin am zweiten Tag eines zehn- oder zwölftägigen Fastens, wenn ich die Nächte auf dem harten und schmutzigen Fußboden einer Polizeizelle verbringe, wenn die Handschellen zu eng sind, wenn der orangene Overall zu hässlich oder zu heiß oder zu kalt ist oder zu sehr von der letzten Person stinkt, die ihn trug, wenn das Letzte, was ich tun möchte, ist, zu einer weiteren Demonstration für die Schließung von Guantánamo zu gehen, dann denke ich an jene zehn Tage, die meine Familie damit zubrachte, meinen Vater aus dem Loch zu holen, denke daran, wie kostbar jener erste Brief nach dem langen Schweigen war, ich denke daran, wie glücklich ich war, seine Stimme am Telefon zu hören, ich denke daran, dass selbst, als er incomunicado war, er immer wieder nachhause kommen würde. Und ich will das für Faris und Johina und all die Eltern und Kinder von Guantánamo.

Aus: WIN Magazine Spring 2015, https://www.warresisters.org/win/win-spring-2015/continuities-closing-gu...
Übersetzung: Christine Schweitzer

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Frida Berrigan