Gütekraft - Die Kraft der Gewaltfreiheit

von Martin ArnoldReinhard Egel-Völp
Hintergrund
Hintergrund

Martin Arnold beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Praxis und der Theorie der Gewaltfreiheit. Er ist jetzt an die Redaktion des "Friedensforums" mit dem Vorschlag herangetreten, regelmäßig über Beispiele gewaltfreien Handelns - "gütekräftigen" Handelns, wie er es in Abgrenzung zu allein taktischer Gewaltfreiheit nennt - zu berichten. Wir bringen einleitend einen Beitrag von Martin Anrold und Reinhard Egel-Völp über "Gütekraft" und möchten unsere Leserinnen und Leser einladen, eigene Beispiele der Wirkungsweise von Gewaltfreiheit - im "kleinen" wie im "großen" zu beschreiben.

Zur Begriffsbildung
Der Begriff "Gütekraft" ist eine Übertragung von "satyagraha", einer Wortneuschöpfung von Mohandas K. Gandhi aus dem Jahr 1906 in Sanskrit. Es gibt viele Übersetzungen und Übertragungen davon, u.a. Festhalten an der Wahrheit", "Macht der Liebe und Wahrheit", "truthpower", "Wahrheitskraft", "soul force", "Seelenkraft". In der indischen Tradition fand Gandhi das Wort "ahimsa" vor, es bedeutet "Nicht-Gewalt". Mit dem neuen Begriff ging er inhaltlich darüber hinaus. Im Abendland stand für beide, "ahimsa" und "satyagraha", kein geläufiges Wort zur Verfügung. Es hat sich "nonviolence" im englischen und im französischen Sprachraum auch für "satyagraha" eingebürgert, es wurde ins Deutsche zunächst als "Gewaltlosigkeit" übernommen. Dieses Wort schliff sich im allgemeinen Sprachgebrauch zu seiner negativen Wortbedeutung (keine Gewaltanwendung) ab, und die positiven Inhalte, die Gandhi mit der Neuschöpfung betonen wollte, kamen im allgemeinen Bewusstsein kaum an. Darum wurde Ende der 60er Jahre in Deutschland das Wort "Gewaltfreiheit" im Unterschied zur "blossen" Gewaltlosigkeit vorgeschlagen.

Seit Anfang der 90er Jahre verwendet eine wachsende Zahl von Engagierten vor allem im Bereich der deutschsprachigen Archebewegung (1) bevorzugt den Begriff "Gütekraft". Dieser hat den Vorteil, die positiven Inhalte von Satjagraha (auf die es Gandhi besonders ankam) deutlicher zu benennen, um auch das Bewusstsein davon zu fördern. Die Inhalte sind nicht nur bei Gandhi, sondern auch bei anderen Vordenkern und Vordenkerinnen gleichartiger Vorgehensweisen, die vor oder nach ihm lebten, in ähnlicher Weise zu finden.

Zur inhaltlichen Bestimmung
Es gibt viele Beispiele spontaner (nicht methodisch durchdachter) gütekräftiger Handlungen. Mohandas K. Gandhi entwickelte diese Vorgehensweise seit 1893 für persönliche, gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen praktisch und theoretisch und gestaltete sie methodisch aus. Jean Goss und Hildegard Goss-Mayr, Lanza del Vasto und die von ihm (im Geiste Gandhis) gegründete Arche sowie Martin Luther King machten in ihren jeweiligen Kontexten vergleichbare Erfahrungen und deuteten sie.

Gütekräftig vorgegangen wurde häufig in asymmetrischen Konfliktsituationen, in denen die äusseren Machtmittel der Konfliktpartner ungleich sind, z.B. in Situationen von Unterdrückung oder Unrecht. Eine solche Lage bringt Besonderheiten der Beziehungen und der Kommunikation mit sich; so ist oft nicht einmal die einfache Voraussetzung für einen Dialog gegeben, dass beide Seiten einander als Gesprächspartner ernstnehmen. Mit Worten allein gelingt es in solchen Fällen nur selten, die Beziehung zu ändern. Für die Dynamik von Konflikten spielt häufig der Grad der Befangenheit der Konfliktpartner in ihrer Position und ihrem Interesse, eben in ihrer Teilsicht der Wahrheit, eine Schlüsselrolle. Oft kann ein Dritter, der nicht direkt am Konflikt beteiligt ist, als Mediator für die Konfliktregelung hilfreich sein. Die angegebenen Konzepte des gütekräftigen Vorgehens sind allerdings aus der Rolle des unmittelbar am Konflikt Beteiligten heraus entwickelt und in dieser Rolle auch verwirklicht worden. Wegen der persönlichen Betroffenheit bedarf die innere Haltung dabei besonderer Aufmerksamkeit.

In grösseren, politischen Auseinandersetzungen kam oft die Gütekraft über einen Umweg zur Wirkung: Auch wenn Verantwortliche nicht überzeugt wurden, konnte Unrecht fallen, wenn ihm die Unterstützung durch gesellschaftliche Gruppen oder Institutionen (öffentlich) entzogen wurde oder das Handeln Dritter (z.B. höherer Instanzen) zum Abbau von Unrecht beitrug, so mehrfach in der Bürgerrechtsbewegung in den USA:

Ein Beispiel
Der Mann im Wald: Ein junger Mann, der sich wegen seiner Kriegsdienstverweigerung Rat bei mir (M.A.) holte, erzählt von seinem Vater: er ging in der Dämmerung im Wald, plötzlich verstellten ihm drei junge Männer den Weg. "Geld her!" Er blieb stehen und warf ihnen sein Portemonnaie hin. Sie hoben es auf und öffneten es. Es war nicht viel Geld darin. Sie standen da, plötzlich zieht einer von ihnen ein Messer, sagt zu den anderen: "Wenn der uns verpfeift -", und geht mit der Waffe auf den Mann los. Dieser bleibt ruhig stehen, hält ihnen die Brust entgegen und sagt: "Ihr könnt mich umbringen. Aber Ihr sollt wissen: Ich habe eine Frau und drei Kinder. Die sind auch davon betroffen." Der andere läßt das Messer sinken, sie werfen ihm die Geldbörse noch hin und verschwinden.

Gütekräftiges Vorgehen hat zum Ziel, dass der Konfliktpartner Verhalten und Strukturen in einem Prozess der beiderseitigen Befreiung dauerhaft ändert und damit soziale Verhältnisse verbessert werden. Dieses Ziel liegt bereits untrennbar begründet in der Qualität der Haltung, die die gütekräftig Handelnden entwickeln, in den Methoden, die sie ausschliesslich anwenden, und in der besonderen Beziehung, die dabei entsteht. Diese drei Dimensionen gehören also bei der Gütekraft zusammen: bestimmte innere Haltungen, eine befreiende Beziehung und bestimmte Verhaltensweisen.

Innere Haltungen:
Bei gütekräftigem Handeln wird von grundsätzlicher Zusammengehörigkeit der aktuellen Kontrahenten (evtl. aller Menschen) ausgegangen. Daher ist es auch für primär Beteiligte bei diesem Vorgehen möglich, Konflikte nicht nur unter Interessengesichtspunkten zu betrachten, sondern sie leben aus der Gemeinsamkeit heraus in einem weiteren Horizont und können so Werte repräsentieren und zur Geltung zu bringen, die den antagonistischen Charakter von Konflikten überwinden. Mit Achtsamkeit und Einfühlung kann so die Zielsetzung transformiert werden von der Durchsetzung von Eigeninteressen hin zur Verbesserung des Gemeinwohls. Es geht um Befreiung beider Seiten aus einem unwürdigen, verbesserungswürdigen Zustand. Gütekräftig Handelnde gehen davon aus, dass für diese Ziele Solidarisierung möglich ist. Aus diesem Bewusstsein heraus werden Konfliktgegner in ihrer Würde und ihren Menschenrechten geachtet. Daher (nicht aus taktischen Gründen) wird die Verletzung oder Schädigung von Menschen ausgeschlossen, und zwar nicht nur in der Form direkter oder offener Gewalt, sondern auch psychische und andere indirekte Formen von Gewalt, einschliesslich Beleidigungen oder Verleumdungen. Der Abbau von Gewalt in jeglicher Form und an beliebigem Ort gehört (wie die Menschenrechte unteilbar sind) zu gütekräftiger Einsatzbereitschaft. Damit ist die Bereitschaft verbunden, selbst einen Beitrag zur Überwindung von Unrecht zu leisten, auch dann, wenn er persönlich etwas kostet. Ein Gedanke dahinter ist der, dass auch das Hinnehmen von Unrecht, das Schweigen, das Nichtwiderstehen, eine Beteiligung am Unrecht bedeutet und insofern auch die gütekräftig Handelnden bislang nicht ohne eigenen Anteil am Unrecht sind, wenn dieses schon eine Weile geschieht. Weiterhin ist es einleuchtender, wenn von anderen nicht mehr erwartet wird als das, wozu man selbst auch bereit ist. Und ein eigener Beitrag kann die gewünschte Zielsetzung klarer und plausibler machen, wenn sie bereits teilweise realisiert wird. Ausserdem kann durch eigene beispielhafte Beiträge ein Katalysatoreffekt entstehen, der weitere Schritte bei anderen zur Folge hat.

Beziehung:
Die gütekräftig Handelnden können (nach eigener Vorstellung) den Erfolg ihrer Aktivitäten nicht selbst herbeiführen; vielmehr gibt es in der gütekräftigen Kommunikation (wie wohl in allen menschlichen Beziehungen) Elemente der Unverfügbarkeit. Die Betroffenen sehen hier als wesentlichen Faktor in dem gesamten Geschehen eine unverfügbare Kraft oder Macht. Dies ist einerseits auch den inneren Haltungen zuzurechnen. Andererseits gehört es zur allgemeinen Erfahrung menschlicher Freiheit und menschlicher Beziehungen. Es gibt kommunikative Kräfte, deren Wirkung nicht von den einzelnen Beteiligten herbeigeführt werden kann (z.B. Liebe), sondern die aus der besonderen Beschaffenheit der Kommunikationssituation zutage treten. Gütekräftig Tätige schreiben den Erfolg ihrer Aktivitäten einer solchen Dynamik zu.

Verhalten:
Die Betroffenen verhalten sich so, dass die andere Seite eine Botschaft vernehmen kann und sie ihr Verhalten dann aus eigener Entscheidung dauerhaft ändert. Das gütekräftige Verhalten kann je nach Situation sehr unterschiedlich sein, vorwiegend wird es aus kommunikativen und demonstrativen Handlungen bestehen, die die eigene Dialogbereitschaft über die Verwirklichung eines für beide besseren Rechts klarmachen und die Situation und deren Bewertung durch die gütekräftig Handelnden deutlich machen. Eine breite Palette von Aktionsmethoden, die aus konstruktiven Aktionen und aus Widerstandshandlungen bestehen, ist bis heute in politischen Auseinandersetzungen entwickelt worden. Sie schliessen Möglichkeiten der Eskalation ein, die auch z.B. politischen Druck erzeugen können.

(1) Christliche Basisbewegung, gegründet von Lanzo del Vasro

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