Gütekraft und Versöhnung

von Martin Arnold

Gütekraft bezieht in Kampf oder Streit die Grundlagen der Beziehung zwischen Menschen wirkungsvoll ein: Wer gütekräftig vorgeht, erkennt die Grundbedürfnisse des Gegners so wie die eigenen an und sucht in einem Prozess der Entfeindung, der Entängstigung und der Ermutigung beherzt und beharrlich die Verständigung mit ihm (Robert Antoch). Dies erfordert u.a. Paroli Bieten ohne Drohung oder Gewalt, Vertrauen Aufbauen in der Überzeugung von Gerechtigkeit und Wahrheit der eigenen Sache, Mut und zielbewusste Ausdauer (Burkhard Bläsi).

Politik der Versöhnung: ein Beispiel
Am 20. November 1977 brach Anwar El Sadat ein arabisches Tabu: Als Staatsoberhaupt Ägyptens betrat er israelischen Boden. In Jerusalem sagte er vor dem Parlament Israels: "Wir alle, Muslime, Christen und Juden, beugen uns vor Gott ... Die Lehren und Gebote Gottes sind Botschaften der Liebe, der Verlässlichkeit, der Sicherheit und des Friedens."

Es gehörte ein ungeheurer Mut dazu. Israel gab es für arabische Staaten offiziell gar nicht. Sadat galt als der große Verräter, Syrien ordnete Staatstrauer an, Ägypten wurde lange Jahre von den arabischen Nachbarn isoliert. Undurchdringlich erschien die Mauer von Leid, Bitterkeit, Misstrauen, Angst und Hass auf beiden Seiten, kaum noch vorstellbar, noch schlimmer als heute.

In der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem schrieb er: "Lasst uns all den Leiden des Menschengeschlechts ein Ende setzen!" Als Moslem fühlte er sich nicht nur den Arabern, sondern dem "Menschengeschlecht" verpflichtet. Und er las die Geschichte auch aus der Sicht der Leidenden. "Dieses die Menschheit umgreifende Gedächtnis des Leidens ist deshalb so wichtig, weil es unsere Neigung korrigiert, unser Leid für so außerordentlich zu halten, dass es jedes Opfer und jedes Leid auf Seiten der anderen rechtfertigt." (Geiko Müller-Fahrenholz. Sein neues Buch "Versöhnung statt Vergeltung" bringt Beispiele von dem Besuch Sadats bis zur Zweierbeziehung zum Sprechen und entwickelt das Konzept der Versöhnungsarbeit.)

Sadat schlug mit seiner Reise eine Bresche in jene furchtbare Mauer. Sein Glaube und die Überzeugung richtig zu handeln gaben ihm den Mut. Er ebnete den Weg zum ersten Friedensschluss eines arabischen Staates mit Israel. Vielleicht wurde er wie Gandhi wegen seines Einsatzes für Versöhnung ermordet. Er ermöglichte in dem noch heute kochenden Konflikt eine Teilregelung, die zwischen Israel und Ägypten bis heute hält.

Konfliktlösung, Konfliktregelung, Versöhnung
Mit Konfliktlösung meinen Friedensforscher meist Auflösung, Ende des Konflikts. Das ist selten in der Politik. Manche Konflikte werden durch "Dissoziation" (Johan Galtung) "gelöst": Durch Wegziehen zu "netteren" Nachbarn. Bei "Assoziation", der anderen Form der Konfliktbearbeitung, wirken beide Seiten zusammen; erst Versöhnung schafft dann Lösung, Beendigung des Konflikts. Konfliktregelung meint ein Verfahren, das z. B. dem Konflikt zerstörerische Tendenzen nimmt, indem es den Umgang mit dem Streitgegenstand und der Konfliktparteien mit einander festlegt.

Versöhnung ist schwierig, darum wird oft nur Konfliktregelung gesucht. Obwohl diese auch strukturelle Gewalt verfestigen kann, ist sie oft wertvoll. Gerade in der Politik ist aber auch die Güte der Beziehung wichtig.

Viele AutorInnen sehen Versöhnung als Aufgabe für die Zeit nach dem Kampf und nach einer Konfliktregelung an, sozusagen um den Konflikt dann "wirklich" zu lösen. Es ist gut, Erfahrungen zusammenzutragen und zu erforschen, wie nach dem Schlagen ein Sich-Wieder-Vertragen dauerhaft werden kann.

Die mutige Versöhnungstat Sadats jedoch geschah inmitten eines heiß schwelenden Konflikts und nicht nach dessen Einhegung. Sie geschah in einer Haltung, wie sie auch für gütekräftiges Handeln typisch ist.

Eine Kraft, die Gewalt überwindet
Manila, Hauptstadt der Philippinen, Februar 1986: Panzertruppen rücken gegen Camp Aginaldo vor. Dort rebellieren Soldaten, sie haben sich nach massiver Wahlfälschung von Diktator Marcos losgesagt. Dieser glaubt alle Macht in seiner Hand. Doch über einen unabhängigen Sender ruft Kardinal Sin die Bevölkerung auf, auf die Straße zu gehen, um die bedrohten Soldaten zu schützen. Unbewaffnete sollen Soldaten schützen! Binnen kurzem ist das Camp von vielen Tausenden umringt. Seit fast zwei Jahren haben sich viele bewusst für die Gütekraft als Widerstandsform gegen die Diktatur entschieden und in gütekräftiger Vorgehensweise ausbilden lassen. Den anrollenden Panzern stellen sie sich direkt in den Weg. Die Panzerfahrer stoppen vor der Menschenmenge, warten auf Befehle. Äußerste Spannung. Die Menschen, zum Schutz der Rebellen gekommen, sprechen die Soldaten an, schenken ihnen Blumen und bringen ihnen zu essen. Schon Monate vorher waren immer wieder Soldaten angesprochen worden, als Teil des Volkes Marcos-Befehlen gegen das Volk nicht zu gehorchen. Die Menge wird aufgefordert, sich zu zerstreuen, und bedroht: Es könnte Tote geben. Die Menschen jedoch bleiben, hoffen auf ein Wunder. Sie singen und beten weiter, sprechen mit den Soldaten. Nachmittag, fünf Uhr: Die Panzer rollen zurück. Jubel. - Zwei Tage später - die meisten Truppen sind von Marcos abgefallen - versuchen rebellierende Soldaten, einen Sender einzunehmen, über den sich Marcos an die Öffentlichkeit wendet. Marcos treue Scharfschützen verteidigen den Sender, während die Rebellen vorrücken. Schüsse fallen. Da tauchen Menschen auf und stellen sich den Rebellen in den Weg: Tötet eure Kameraden nicht! Die Rebellen halten. Am Sender verhandeln die in Gütekraft Geschulten mit den Scharfschützen, ebenfalls nicht mehr zu schießen. Ergebnis: Sie schließen sich dem Widerstand an. "Versöhnungsszenen!" kommentiert der Dokumentarfilm, als die Soldaten sich die Hände reichen, die kurz vorher noch auf einander geschossen haben.

"People Power": die Kraft, bei der Frauen entscheidende Rollen spielten, war stärker als die geballte Staatsgewalt. Viele der Beteiligten hatten noch kurz vorher selbst nicht geglaubt, dass sie die Diktatur stürzen würden. Marcos trat am nächsten Tag ab.

Es gab und gibt viele Versuche mit und ohne Erfolg, Konflikte in ähnlicher Weise anzugehen. Klare Begriffe für die Vorgehensweisen und Haltungen der Beteiligten haben sich noch nicht eingebürgert. Das gütekräftige Vorgehenskonzept der Philippinen heißt "Alay Dangal", es erfordert die Bereitschaft zu dem Risiko, Personen, die feindlich auftreten, offen zu begegnen um sich mit ihnen von gleich zu gleich zu verständigen, d. h. zuallererst, ihre Würde zu achten.

Vermutlich wurde die brutale Diktatur den Verteidigern des Senders als feindlich gegen das Volk gezeigt, so dass die Männer die Gewehre senkten und sich mit den Feinden von vorher solidarisierten. Den Raum zwischen beiden hielten Menschen begehbar, die nicht nur gegen die Diktatur waren wie die Rebellen, sondern die entschlossen gegen einen anderen Feind arbeiten wollten: Gegen die zerstörerische Spirale der Gewalt, d. h. nicht gegen Personen, sondern gegen Verhaltensweisen. Mit Arbeit an sich selbst, unerlässlich, hatten sie begonnen. Nun gingen sie dazwischen, als die Gewalt begann.

Gewaltfreiheit - Würde anbieten - Gütekraft
Es wäre daher nicht falsch, die philippinischen Aktivitäten zur Beendigung der Diktatur "gewaltfrei" zu nennen. Das Wort passt jedoch nicht richtig. Denn nicht Ablehnung von Gewalt allein kennzeichnete die Gruppen, sondern mehr noch eine bestimmte Art des Vorgehens gegen Gewalt: "Alay Dangal" bedeutet "Würde anbieten". Wer Gewalt anwendet, dem wird ein verbindliches Angebot gemacht: das Unrecht in der Gewalt zu erkennen, damit aufzuhören und sich würdig zu verhalten, die eigene Würde zurück zu gewinnen. Dies geschieht aus dem Bewusstsein eigener Würde des Anbietenden bei diesem Tun. Dies erfordert oft Mut. Das Bewusstsein eigener Würde gibt Mut. Die philippinischen Engagierten haben sich nicht mit dem Wort "Gewaltfreiheit" zufrieden gegeben. Ähnlich Mohandas K. Gandhi in Südafrika und Indien: 1906 nannten Journalisten Gandhis ungewohnte Kampfweise "passiven Widerstand". Gandhi fand dies unpassend für das, was sie in Wahrheit ausmacht: Aktivität, Entschlossenheit, Energie; so schuf er ein neues Sanskrit-Wort mit der Bedeutung Gütekraft: Satjagrah (engl. Schreibweise: satyagraha). Satjagrah wird auch mit "Festhalten an der Wahrheit" übertragen, weil - wie bei Versöhnungsprozessen - bei diesem Konfliktaustragungskonzept die Wahrheit eine zentrale Rolle spielt. Gandhi selbst sagte auch "Seelenkraft". International heißt es zunehmend "truthforce" statt "nonviolence". Die Frage einer treffenden Bezeichnung ist wichtig. Denn das eingebürgerte Wort Gewaltfreiheit teilt der Allgemeinheit nur mit, was nicht getan wird - viele meinen daher, so etwas sei wirkungslos -, statt die aktive Dynamik, um die es geht, auszudrücken.

"Würde anbieten", Gütekraft ist der Kern der Versöhnung. Dieses Wort ist vielen noch ungewohnt - wie es mit "Gewaltlosigkeit" und "Gewaltfreiheit" einst der Fall war. Die Gütekraft ist mächtiger, als dass sie erst zum Zuge kommen könnte, wenn die Waffen bereits schweigen: Häufig konnten mit gütekräftigem Vorgehen die Waffen zum Schweigen gebracht, Diktaturen und Gewalt beendet werden. Birgit Berg hat viele Beispiele gesammelt und deren Orte zu einer Weltkarte zusammengestellt. Wie und unter welchen Bedingungen diese Kraft wirkt, ist jedoch noch wenig bekannt und soll genauer erforscht werden.

Friedensforscher Karlheinz Koppe: "Das entscheidende Element einer Kultur des Friedens könnte in der Tat das sein, was unter dem Begriff der ´Gütekraft` bereits wirkt, wenn auch noch nicht erkannt ist." Die Deutsche Stiftung Friedensforschung hat gerade ein Gütekraft-Forschungsprojekt bewilligt. Weitere sind vorgesehen. Es werden Menschen gesucht, die sich an der Erkenntnisgewinnung beteiligen wollen. Wer Konflikte erlebt, also jedeR, kann mitwirken.

Näheres aus der Arbeitsgruppe Gütekraft, auch von Antoch, Bläsi, Berg und Koppe: www.guetekraft.net
 

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