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Herrschende Politik und soziale Unordnung

von Werner Rätz
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Jede soziale Bewegung wird, sobald ihr Agieren gewisse Erfolge zeigt und eine erkennbare öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, Objekt staatlicher Politik. Dabei wird meist eine Strategie angewandt, deren beide Seiten sich organisch ergänzen: Es wird anerkannt, dass die Bewegung "wichtige Fragen" aufwirft und zumindest teilweise richtige Antworten anbietet. Insoweit wird ihr ein Kooperationsangebot gemacht. Wer darauf nicht eingeht, ist im besten Fall idealistisch verblendet und politikunfähig, im schlechteren handelt es sich um Wölfe im Schafspelz, die die gutwilligen Teile der Bewegung lediglich benutzen, um ihre verquasten systemfeindlichen Ideen zu verfolgen. Ist diese Spaltung in Gute und Böse erst mal gelungen, lassen sich die "Bösen" mit allen für notwendig erachteten Mitteln staatlicher Repression schon niederhalten!

Viele Abläufe der letzten Zeit zeigen, dass es eine solche Politik auch gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung gibt - und auch, dass sie sich sehr schwer tut.

Seattle hatte im Herbst 99 alle überrascht. Eine bunte (nie ausdrücklich eingegangene, aber real funktionierende) Koalition hatte die Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation WTO so empfindlich gestört, dass sie erfolglos auseinander ging. Entschlossene Aktionen auf der Straße, scharfe inhaltliche Kritik, Massendemonstrationen der US-Gewerkschaften mit sozialen Forderungen und eine populistische Wendung mancher Regierungen gegen die WTO führten alles in allem dazu, dass der Eindruck entstand, "die Bewegung" habe die WTO-Runde verhindert.

Eine Weile war offizielle Politik demgegenüber ziemlich ratlos und schweigsam. Aber schon beim EU-Gipfel in Nizza 2000 gab es massenhafte Schikanen bis hin zu Grenzschließungen, in Göteborg im Sommer 2001 wurde scharf geschossen. Es schien so, als sollte die ganze Bewegung eingeschüchtert und große Teile kriminalisiert werden. Dieser Eindruck verdichtete sich in Genua wenige Wochen später.

Aber gleichzeitig wuchs die Mobilisierung rasch, gerade Genua war ein zentrales Ereignis: Hunderttausende vor Ort, weltweite Sympathie, keine ernsthaften Spaltungen trotz eines unakzeptabel agierenden (und von Polizeiprovokateuren durchsetzten) "Schwarzen Blocks". Die Herrschenden hatten keine ernsthaften Integrationsangebote gemacht und die traditionellen Spaltungslinien in der Bewegung (gewaltfrei - militant, traditionssozialistisch - linksradikal, systemkritisch - reformistisch) verstärkten sich nicht. Das äußerst breite und heterogene Italienische Sozialforum rückte eher näher zusammen und erlangte ein Bewusstsein gemeinsamer Stärke. Dieser Prozess gewann noch an Kraft durch die überwältigende Mobilisierung zum 2. Weltsozialforum in Porto Alegre im Januar dieses Jahres, mit dem die kritische Bewegung endgültig ihre politische Dominanz über das seit Jahren von ihr herausgeforderte Weltwirtschaftsforum bewies.

Aber so wie die brasilianische Arbeiterpartei PT, die in Porto Alegre schon lange das Bürgermeisteramt inne hat, nunmehr Brasiliens Präsidenten stellt und dafür ihren weitgehenden Frieden mit IWF und Weltbank machen musste, sehen viele den ersten Schritt zur Abwendung von den (radikalen) Alternativen hin zur Flickschusterei innerhalb des Bestehenden auch im WSF schon angelegt: Die Dominanz der großen, der finanzkräftigen, der gut organisierten Verbände wird von BasisaktivistInnen skeptisch zur Kenntnis genommen, das Interesse mancher regierenden oder regierungsfähigen Kraft nicht so sehr als Erfolg der eigenen Botschaft denn als Gefahr für eben diese interpretiert.

Solcher Erfolg ist ja auch zwiespältig. Noch vor einem Jahr musste etwa ATTAC in der BRD regelmäßig betonen, wir seien keine GlobalisierungsgegnerInnen, sondern KritikerInnen, wir träten ein für eine Globalisierung von Gerechtigkeit und Solidarität. Zum 1. Mai dieses Jahres übernahm der DGB den Gedanken mit der Losung "Globalisierung gerecht gestalten". Und inzwischen steht genau diese Formulierung im Koalitionsvertrag von SPD und Grünen, um das durch und durch neoliberale Regierungsprogramm zu beschreiben.

Umarmung allüberall: Da hält der Bundespräsident eine Rede, in der er viele Stichworte der globalisierungskritischen Bewegung aufgreift und in typischer alter Rauscher Versöhnen-statt-spalten-Manier solange verdreht, bis sie inhaltsleer aufs Bestehende ebenso gut passen wie auf irgendwelche Wolkenkuckucksheime. Und statt Widerspruch erntet er sogar aus der Bewegung teilweise Zustimmung - ist es so schmeichelnd, "anerkannt" zu sein?

Die Fähigkeit zum Widerspruch ist schwach entwickelt im erfolgreichen Teil der Bewegung, für den ATTAC steht, zumindest in der BRD. Der Traum vom Konsens, von der Kraft des besseren Arguments, von der immer weiter wachsenden Bedeutung der eigenen Bedeutung, die irgendwann doch Politik werden muss, ist weit verbreitet. Auf die Frage, welche Ziele ATTAC in fünf Jahren verwirklicht haben sollte, antwortete ein führender Aktivist: "ATTAC stellt die meisten Abgeordneten im Deutschen Bundestag." Und ein anderer bekannte, er hätte sich vor zwei, drei Jahren nicht getraut, ein Buch in der verbalen Klarheit vorzulegen, wie es der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, vor wenigen Monaten veröffentlicht hat. Das Bemühen um politische und sprachliche "Anschlussfähigkeit", die Angst vor der Stigmatisierung "radikal" oder "idealistisch" oder "nicht politiktauglich" verhindert bei manchen die Einsicht in einfache Realitäten:

Die herrschende Politik ist geprägt durch ein völliges Scheitern der neoliberalen Variante des Kapitalismus. Wir haben es nicht nur mit einer vorübergehenden "Wirtschaftsschwäche" (so in einem Papier des DGB und verschiedener sozialer Organisationen) zu tun, sondern mit einer Krise des gesamten Modells. Das sagt nichts darüber, ob und wann die Herrschenden Auswege finden, aber es bedeutet, dass sie heute über keine Ressourcen verfügen, weder politische noch ökonomische, um der Globalisierungskritik ernsthafte Kooptationsangebote machen zu können. Das ist gut so, weil es die Gefahr mindert, unsinnige Diskussionen um die vermeintlichen Chancen regierungsamtlicher Reformpolitik führen zu müssen.

Schlecht ist, dass die Bewegung bisher nicht die Kraft findet, mit dem herrschenden Diskurs zu brechen. Solange wir mit der Gegenseite lediglich über Sinn und Inhalt von Begriffen und Forderungen streiten, sind wir mit ihr und allen dazwischen in einem zusammenhängenden Erklärungs- und Deutungsgeflecht verbunden. Das nützt sie kräftig aus, um unsere Rede zu verwirren und gleichzeitig zu übernehmen und mit ihren Inhalten zu füllen, bis sie ununterscheidbar geworden sind. Auf den ATTAC-Mailinglisten sind täglich beredte Zeugnisse dessen zu lesen.

So besteht die Gefahr, dass die globalisierungskritische Bewegung zwar nicht eingekauft, aber diskursmäßig eingefangen, mit ihrem eigenen Erfolg gezähmt wird. Dabei käme es darauf an, die Krise des kapitalistischen Akkumulationsmodells, die offenkundigen Erklärungsnotstände seiner Apologetik, die Perspektivlosigkeit seiner Propagandisten zu nutzen, um eine eigenständige, widerständige Erklärung der heutigen Welt und ihrer Ökonomie zu entwickeln und das Bild einer anderen Welt zu konkretisieren.

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Werner Rätz ist aktiv bei der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn und für diese im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, ebenfalls im Blockupy-Kokreis. Webseite: www.werner-raetz.de