Sezessionsbewegungen und Grenzverschiebungen

"Heute Morgen sind es ca. 193 Staaten"

von Christine Schweitzer

193 Staaten sind derzeit (2017) Mitglieder der Vereinten Nationen. Dazu kommt noch eine Reihe von Territorien, die sich auch als Staat verstehen, aber umstritten sind (Kosovo, Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Somaliland, Palästina u.a.) (1). Und es gibt zahlreiche weitere auf ethnischer Basis organisierte Bewegungen, die als eigene Nationen anerkannt werden möchten. Aktuell 43 solcher Quasi-Staaten und Nationen haben sich in der Unrepresented Nations and Peoples Organization (UNPO.org) zusammengeschlossen.

Seit es Kriege gibt – und ihr Entstehen fällt zumindest mit der Entstehung von Staaten als politischer Organisationsform zusammen, auch wenn es bewaffnete Auseinandersetzungen, wie die Ur- und Frühgeschichte uns lehrt, noch früher gab – ist die Kontrolle von Territorien ein wesentlicher Kriegsgrund. In früheren Jahrhunderten wurden unzählige Eroberungskriege geführt, die immer wieder zur Verschiebung von Grenzen und zur Entstehung riesiger Kolonialreiche geführt haben. Und auch in jüngerer Zeit haben wir solche Beispiele: Der 2. Weltkrieg wurde von Deutschland mit dem Ziel, sein Territorium zu vergrößern, begonnen, und der Irak versuchte 1990 dasselbe mit Kuwait.

Vor allem nach dem 2. Weltkrieg erlangten zahlreiche Staaten im Rahmen der Entkolonialisierung, oftmals nach erbittertem gewaltsamen oder gewaltfreiem (Indien) Widerstand, ihre Unabhängigkeit, allerdings zumeist in Grenzen, die von den Kolonialherren gezogen worden waren, nicht in Grenzen aus vorkolonialer Zeit. Angesichts des Siegeszugs der Nationalstaaten, also der Idee der politischen Organisation auf der Basis von Volkszugehörigkeit (2), haben viele der heutigen Konflikte eine Wurzel in diesen willkürlichen Grenzziehungen, die oft Volksgruppen mit gleicher Sprache und Geschichte auf mehr als einen Staat aufteilten. (3)

Der Südsudan ist das jüngste Beispiel einer erfolgreichen Sezession. Hätte die Bevölkerungsmehrheit in Schottland 2015 für die Unabhängigkeit gestimmt, dann wäre auch Schottland jetzt auf dem Wege dahin, ein eigener Staat zu werden. Eine große Zahl von EinwohnerInnen Kataloniens würde bekanntlich auch gerne diesen Weg gehen, der ihr aber – anders als im Vereinigten Königreich – von der Zentralregierung versperrt wird.

Eine besondere Form der Grenzveränderungen betrifft die Auflösung oder Aufspaltung von Staaten in zwei oder mehrere neue Staaten. Besonders nach dem 1. Weltkrieg fanden solche, teilweise ganz erhebliche, Grenzveränderungen in Europa und darüber hinaus statt – besonders die Auflösung und Aufteilung des Osmanischen Reiches und Österreich-Ungarns. Hier erlebten wir das jüngste Beispiel nach 1989 mit der Auflösung der Sowjetunion in 14 Staaten, Jugoslawiens in sieben (von denen der Kosovo als einziger nicht Mitglied der UN ist) und die Spaltung der Tschechoslowakei in zwei. Zeitweilig war um die Jahrtausendwende das Tempo der Entstehung neuer Staaten so groß, dass in UN-Kreisen der Witz kursierte: „Sie fragen, wie viele Staaten es gibt? Nun, heute Morgen waren es ca. 193.

Eine dritte Form von Konflikten, die mit Grenzen einhergehen, ist die Annexion bzw. der Anschluss eines Staates oder eines Teilgebiets eines Staates an einen anderen. Hier entsteht kein neuer Staat, sondern allein die Zugehörigkeit verändert sich. Die Krim ist das meistdiskutierte Beispiel aus der jüngeren Zeit, man möge sich auch an den Versuch Argentiniens 1982 erinnern, die Falklandinseln zu okkupieren..

Eine vierte Konfliktform betrifft Grenzverläufe – auch hier haben wir Beispiele in Europa. Gerade in diesem Jahr stritten sich Slowenien und Kroatien um den exakten Verlauf ihrer Grenze in einer Adriabucht; der Internationale Schiedshof fällte ein Urteil, das aber zu Ungunsten Kroatiens ausfiel, das daraufhin erklärte, den Schiedsspruch nicht anerkennen zu wollen. Ein bekannter weiterer Konflikt dieser Art ist der Streit zwischen Japan und China um bestimmte Inseln im südchinesischen Meer und der in diesem Friedensforum von Karl Grobe beschriebene Konflikt um Doklam im Himalaya zwischen Indien und China.

Sezession ist völkerrechtlich erlaubt
Völkerrechtler*innen (zu denen die Autorin nicht zählt) scheinen sich nicht ganz einig darin zu sein, wann Sezession völkerrechtlich erlaubt ist. Gewöhnlich wird angeführt, dass drei Elemente einen Staat ausmachen: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. (Letztere ist natürlich erst nach der Unabhängigkeit gegeben.) Unzweifelhafte Praxis ist, dass Sezession dann als erlaubt gilt, wenn eine deutliche Bevölkerungsmehrheit dafür ist (was heute oft durch Referenden versucht wird festzustellen), der Staat (die Staaten), von denen sich ein neuer Staat abspalten will, einverstanden ist/sind und die Vereinten Nationen zustimmen. Dies war z.B. alles im Falle der Abspaltung des Südsudan vom Sudan letztlich (nach langem, blutigem Krieg allerdings) gegeben. Osttimor ist ein Beispiel dafür, dass es auch ohne die Zustimmung des Staates geht, der bislang die Kontrolle ausübte, wenn der Konflikt in den Kontext der „Entkolonialisierung“ gestellt wird und die Vereinten Nationen sich einig sind.

Bei der Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit von Sezession werden oft die Begriffe „Souveränität“ und „Selbstbestimmungsrecht“ gegeneinander ausgespielt. Die einen pochen auf die Unverletzlichkeit der Grenzen und ihre Souveränität als Staat, die anderen argumentieren, dass sie als Volk/eine Nation ein Recht auf Selbstbestimmung hätten. Aber letztlich gibt es keine Regelungen, die die Veränderung von Grenzen oder die Entstehung neuer Staaten zu völkerrechtlichen Automatismen machen. Es kommt in jedem Fall auf die Verhandlung zwischen den Konfliktparteien an, darauf, einen neuen Konsens zu finden oder mittels Druck diejenigen, die nicht zustimmen, zur Duldung zu bringen. Das heißt: Sollen Kriege in diesen Konfliktkontexten vermieden werden, dann gilt es, Verfahren der Zivilen Konfliktbearbeitung einzusetzen.

Zivile Konfliktbearbeitung
Zwei solche Mechanismen wurden oben schon genannt: Eine Entscheidung durch die Vereinten Nationen und die Anrufung internationaler Schiedsgerichte. In Den Haag sitzt seit dem Jahr 1900 der Ständige Schiedshof, dessen Dienste sowohl von Staaten wie von der Privatwirtschaft genutzt werden können. Seine Urteile sind nicht zwingend, sondern beruhen auf der freiwilligen Bereitschaft der Konfliktparteien, sie zu akzeptieren.

Ein weiteres ganz wesentliches Element betrifft die Frage von Minderheitenrechten und Regelungen in Vielvölkerstaaten. (4) Dazu gehören zum einen klassische Minderheitenrechte (z.B. das besondere Wahlrecht der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein bei Landtagswahlen). Zweitens mag die Anerkennung von Rechten von sog. Patronagestaaten vonnöten sein. Das sind Situationen, in denen „Minderheiten über einen Patronagestaat verfügen, dessen Regierung sich auf internationaler oder zwischenstaatlicher Ebene als Anwältin der Interessen der Minderheit versteht und entsprechend agiert“ (Schneckener, s. Fußnote 4). Diese müssen mit einbezogen werden, um Konflikte in friedliche Bahnen zu lenken. Ein Beispiel war das Daytoner Friedensabkommen, das den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendete und dafür die Mitwirkung Serbiens und Kroatiens brauchte, die beide eine Klientel in Bosnien hatten. Als ein drittes Modell beschreibt Schneckener sog. „Konkordanzdemokratien“, d.h. Staaten, in denen mehrere Volksgruppen sich friedlich die Macht teilen –Schweiz und Belgien sind europäische Beispiele. Autonomieregelungen für bestimmte Regionen sind ein viertes bewährtes Mittel (Südtirol, Irakisch-Kurdistan).

Internationale Solidarität
Unabhängigkeitsbewegungen agieren heute i.d.R. nicht isoliert von einer internationalen UnterstützerInnenschaft. Manchmal handelt es sich dabei fast ausschließlich um Diaspora-Gruppen, aber es gab und gibt auch eine Reihe von solchen Bewegungen, die Unterstützung von Menschenrechts- und Friedensorganisationen erfahren. Dazu gehören, wiederum nur als Beispiele für viele weitere, Tibet, der Kampf der First Nations in den USA und Kanada und auch die schon erwähnten Kosovo und Ost-Timor. Solche Unterstützung ist sehr wichtig, um zum einen internationale Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Konflikt zu lenken und zum anderen, gewaltfreie Ansätze zu stärken. Zum Kosovo ist uns dies in den 1990er Jahren nicht gelungen – der gewaltfreie Widerstand aus der Zeit zwischen 1989 und ca. 1997 fand bei EU und UN wenig Interesse, denn alle Augen waren auf die gleichzeitigen Kriege in Bosnien und Kroatien gerichtet, und der Kosovo wurde vernachlässigt, ‚weil da ja nicht gekämpft wird‘. Eigentlich kein Wunder, dass die Aufständischen im Kosovo diese Nachricht verstanden und dann zu den Waffen griffen, hatten sie doch gesehen, dass nur die Waffe internationale Aufmerksamkeit sicherte ... . Es ist zu hoffen, dass inzwischen auch die Politik hier hinzugelernt hat.

Anmerkungen
1 Ausnahme ist der Vatikanstaat. Er ist allgemein anerkannt, aber nicht Mitglied der UN.

2 Der Nationalismus, also die Vorstellung von Nationen, ist historisch jung und entstand in Europa des 18. Jahrhunderts zunächst als kulturelle Bewegung für die Pflege der eigenen Sprache und Kultur; später kam im 19. Jahrhundert die Vorstellung „ein Volk - ein Staat“ hinzu. Nationen sind keineswegs naturgegeben, sondern letztlich das Ergebnis sozialer Bewegungen. Siehe u.a.  Hobsbawm, Eric J. (1991) Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Nach dem 1. und dann auch nochmal nach dem 2. Weltkrieg fand man noch eine andere „Lösung“ von nationalistischen Problemen – die Umsiedlung großer Bevölkerungsgruppen. Nach dem 1. Weltkrieg kam es so z.B. zu der beschönigend „Bevölkerungsaustausch“ genannten Vertreibung von Griechen aus der Türkei und Türken aus Griechenland (Vertrag von Lausanne 1923). Nach dem 2. Weltkrieg waren es vor allem deutsche Minderheiten in Osteuropa, die betroffen waren.

3 Die bekannte vergleichende Studie von Stephan und Chenoweth zu zivilem Widerstand fand allerdings eine sehr geringe Erfolgsrate bei Sezessionsbewegungen zwischen 1900 und 2006. Siehe Chenoweth, Erica und Stephan, Maria J. (2011): Why Civil Resistance Works. The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Colombia University Press

4 Schneckener, Ulrich (2003): Politiken der Anerkennung. Modelle zur Konfliktregulierung in ethnisch pluralen Gesellschaften: http://www.afk-web.de/fileadmin/afk-web.de/data/zentral/dokumente/nachwu...

5 Eine deutsche Menschenrechtsorganisation, die sich ausschließlich diesen Themen widmet, ist die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.