Hilfe für Kinder im Tschetschenien-Krieg

von Barbara Gladysch
Schwerpunkt
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Barbara Gladysch berichtet über ihre Reisen nach Tschetschenien und das Hilfsprojekt "Kleiner Stern", das sie zusammen mit Chris Hunter ins Leben gerufen hat. Er ist Quäker aus England, lebt in Moskau und ist Begründer und Leiter ist des "Centre for Peacemaking and Community Development CPCD" mit einem Büro auch in Moskau und später in Grosny. Das Büro von Grosny ist jetzt verlegt nach Nazran (Inguschetien): CPCD (gemeinnütziger Verein), Hotel Assa, Raum 203.

Beim meinem zweiten Besuch als Wahlbeobachterin nach dem Krieg im Januar 1997 gründete ich mit Chris Hunter und anderen Freunden in Grosny das Rehabilitationszentrum für traumatisierte Kinder, den "Kleinen Stern". Es waren die Gebäude (7 kleine Häuser) des ehemaligen Sanatoriums von Grosny, auf einem Hügel über der Stadt inmitten von Wald und Wiesen gelegen. Der gewählte Präsident Maschadow übergab die teilweise zerstörten Häuser dem CPCD zur freien Benutzung. Mit Hilfe von Geld- und Sachspenden vor allem aus Düsseldorf konnten die Gebäude instandgesetzt und möbliert werden. Schon im Mai 1997 wurde mit der Arbeit im "Kleinen Stern" begonnen. Bis zum Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im September 1999 konnte über 500 traumatisierten Kindern im "Kleinen Stern" therapeutisch geholfen werden.

Zwischen 1998 und 1999 war ich vier mal in Tschetschenien. Immer wieder konnte ich mich von der notwendigen und erfolgreichen Arbeit im "Kleinen Stern" überzeugen und die Abrechnung von Spendengeldern mit voller Zufriedenheit kontrollieren.
Der Kleine Stern in Grosny ist Anfang des 2. Krieges im Oktober 1999 zerbombt, zerstört, ausgelöscht worden.

Über 500 Kinder, die noch vom letzten Krieg "gezeichnet" waren, die nicht in erster Linie körperlichen, sondern seelischen Schaden erlitten haben, Kinder, die gesehen, gehört, gefühlt haben, was Todesangst bedeutet, wie ihre nächsten Familienmitglieder, Freunde und Fremde vor ihren Augen gequält, verschleppt, ermordet wurden, Kinder, die die brutalen Erlebnisse und Eindrücke nicht vergessen, nicht verarbeiten konnten, brauchten dringend therapeutische Hilfe. Diese Hilfe bekamen die Kinder von Fachkräften in Grosny im "Kleinen Stern".

Diese Hilfe brauchen sie jetzt erst recht, denn sie erleben zum zweiten mal innerhalb von kurzer Zeit die Grausamkeiten eines Krieges - hautnah.

Die sieben Therapeutinnen und die Mitarbeiter von CPCD verließen als Flüchtlinge Tschetschenien. Sie fanden einen Raum für ihr CPCD-Büro im Hotel Assa in Nazran und begannen Ende September mit ihrer Arbeit in 4 Flüchtlingslagern in Inguschetien: Eines in Sleptvoskaja (in der Nähe von Nazran). Dort leben in Eisenbahnwaggons ca. 7.000 Menschen. Die drei anderen Flüchtlingslager sind in Karabulak. Davon besteht eines auch aus Eisenbahnwaggons mit ca. 6.000 Flüchtlingen. Die beiden anderen Lager sind Zeltstädte mit jeweils 1.000 bis 2.000 Menschen.

Die meisten Flüchtlinge sind Frauen, alte Menschen und Kinder. Alle sind in einem bedenklichen Gesundheitszustand und in großer seelischen Notlage. Es fehlt an Nahrung, Kleidung, Hygiene ... und an notwendiger Wärme zum Überleben. Kinder und alte, schwache Menschen verhungern und erfrieren.

Dann kommt die Angst hinzu, Angst vor dem nächsten Tag. Angst um das eigenen Leben, Angst um das Leben der Angehörigen, Angst vor den russischen Soldaten, vor ihrer Unberechenbarkeit - Angst eigentlich vor allem. Ein Beispiel:

Am 20.12.1999 haben russische Soldaten 40 Eisenbahnwaggons vom Flüchtlingszug in Sleptvoskaja abgekoppelt und nach Sernovodsk (Tschetschenien) geschleppt. Die Flüchtlinge, die in den hunderten Eisenbahnabteilen zusammengepfercht leben, sollten gegen ihren Willen wieder zurück nach Tschetschenien - in das Kampfgebiet.

Viele von ihnen sprangen während der Fahrt aus den Waggons oder fanden vor der Abfahrt noch irgendwo einen Unterschlupf in Inguschetien. Die Tschetschenen erinnern sich gut (die Alten aus eigener Erfahrung, die Jungen vom Erzählen) an die Massendeportationen zu Stalins Zeiten 1944, als die Tschetschenen - auch in Eisenbahnwaggons - nach Kasachstan verschleppt wurden.

Russische Soldaten verbreiten Furcht und Schrecken: sie sind häufig betrunken, schießen mit Gewehren unmotiviert in die Luft und wollen sich somit "Respekt" verschaffen.

CPCD kaufte Anfang Oktober 1999 große Zelte, die in den 4 Flüchtlingslagern aufgebaut wurden.
 

tDiese Zelte sind Mittelpunkt der Lager geworden: sie gehören den Kindern. Hier können die Kinder den ganzen Tag über sich aufhalten: die Zelte werden zwar nicht beheizt; trotzdem ist es dort wärmer als z.B. in den Eisenbahnabteilen.

In den großen Zelten wird gesungen, gespielt, getanzt. In den kleineren Kinderzelten wird gemalt, gebastelt und auch unterrichtet.

Die 7 Therapeutinnen vom "Kleinen Stern" haben bald Verstärkung bei ihrer Arbeit bekommen: Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen haben sich ihnen angeschlossen, so dass zur Zeit 20 Pädagoginnen den Kindern zur Verfügung stehen.

Der Umgang mit diesen Kindern ist auch insofern eine therapeutische Arbeit, weil die Kinder aus der Enge und Problematik ihrer Familie herausgehen und Freiraum für sich in Anspruch nehmen können. Sie tun etwas: spielen, lachen, zugucken, ausprobieren, tanzen, Musik machen, singen, schreiben, lesen, rechnen, malen, basteln - mit vertrauten Menschen in Ruhe sprechen, weinen, sich trösten lassen ...

Das ist die Fortsetzung der Arbeit vom "Kleinen Stern" - jetzt in den Flüchtlingslagern von Inguschetien. Wie lange diese Arbeit noch andauert, wissen wir heute noch nicht. Wir rechnen aber mit einer langen Zeit ...

In Düsseldorf konnte ich ca. 70.000 US-Dollar für den "Kleinen Stern" in Grosny "erbetteln".

Jetzt werden dringend Geldspenden gebraucht für die Arbeit des "Kleinen Sterns" in den Flüchtlingslagern, für die tschetschenischen Kinder in Inguschetien.

Die Mitarbeiter von CPCD, die ich alle persönlich kenne, kaufen die notwendigsten Sachen für die Kinder: Kleidung, Schuhe, Decken, Nahrungsmittel, Spiel- und Schulmaterialien, Vitamine.

In den Osterferien 2000 werde ich voraussichtlich nach Inguschetien fahren.

Geplant ist, dass die tschetschenische Kindertanzgruppe Wainakh, (die Kinder dieser bekannten Volkstanzgruppe leben zur Zeit noch verstreut in Inguschetien) in Deutschland eine Tournee machen, um von ihrem Land, ihrem Volk, ihrer Kultur Zeugnis zu geben.

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Barbara Gladysch, Jahrgang 1940, Begründerin 1981 von „Mütter für den Frieden“, „Kinder von Tschernobyl“ e.V. 1991, früher Projekte in Belarus, Bosnien und Kosovo; jetzt nur noch in Tschetschenien: „Kleiner Stern“; in Deutschland: Beratung und Unterstützung von Flüchtlingen, die von Abschiebung bedroht sind; „save me“-Kampagne in Düsseldorf; pensionierte Sonderschullehrerin, Großmutter von zwei wunderbaren Enkelkindern.