Hilfe muss sich überflüssig machen

von Sarah LemppIngo Stützle

Für die Nichtregierungsorganisation medico international, die sich an vielen Orten der Welt engagiert, ist Hilfe Teil eines umfassenden solidarischen und politischen Handelns - so heißt es im Selbstverständnis. Über die Ambivalenz von Hilfe für Geflüchtete sprachen die AutorInnen mit Katja Maurer von medico international.

Sarah Lempp / Ingo Stützle (SL/IS): Wie ist die Fluchtbewegung nach Deutschland und die enorme Hilfsbereitschaft einzuschätzen?

Katja Maurer (KM): Die Bewegung der Geflüchteten nach Deutschland ist angesichts der akuten Bedrohung, der sie entfliehen, eine überwältigende Form der Selbsthilfe. Die Art, wie die Menschen das machen, zeigt die Möglichkeit von Selbstorganisation, von Solidarität und Widerstand auf. Für mich ist das insofern ein emanzipatorischer Prozess, der nicht dann aufhört, wenn die Menschen hier ankommen. Sie haben gemeinsam das menschenrechtsverletzende europäische Grenzregime zu Fall gebracht. Und es wird trotz aller politischen Verschärfungen des Asylrechts so nicht wieder auferstehen.

SL/IS: Und die freiwillige Hilfe?

Die Menschen, die hier Hilfe leisten, sind für mich Teil dieses emanzipatorischen Prozesses. Denn mit ihrem Handeln begeben sie sich an die Seite der Geflüchteten und stehen somit gegen Xenophobie und Rassismus. medico versucht in Katastrophen immer das Prinzip der Nachbarschaftshilfe hochzuhalten. Hilfe von außen, die nötig sein mag, sollte diese Hilfe nicht ersetzen. Ich halte die ehrenamtliche Arbeit für eine Form der Nachbarschaftshilfe. Was sich daraus entwickelt, ist eine offene Frage.

SL/IS: Wo sind die Unterschiede zwischen eurer Arbeit und dem, was derzeit alles in Deutschland geleistet wird?

KM: medico unterstützt Partnerstrukturen, die nicht nur konkrete Hilfe leisten, sondern sich auch mit den Ursachen für Armut und Ausgrenzung auseinandersetzen. Wir erleben dabei, dass viele Partnerinnen und Partner von uns als politisch Handelnde wahrgenommen werden wollen und nicht mehr als diejenigen, die Projekte nur umsetzen. Es ist eine Repolitisierung im Gange, die auf lange Sicht auch uns verändern wird.

SL/IS: Und in Deutschland?

KM: Wir unterstützen in Deutschland auch Partner, mit denen wir auf politischer Ebene schon lange kooperieren, und die nun in der augenblicklichen Situation auch finanzielle Mittel gebrauchen können. Dazu gehören unter anderem die Bundesarbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) und politische AktivistInnen, die schon seit vielen Jahren in den No-Border-Netzwerken arbeiten. Die sind derzeit unter anderem mit einem Bus auf der Balkanroute unterwegs, um die Selbstorganisation der Flüchtlinge zu unterstützen - unter anderem mit Generatoren zum Aufladen der Handys. Im Gegensatz zu vielen Ehrenamtlichen, die aufgrund der Bilder gerade erst begonnen haben, sich mit Flucht und Migration auseinanderzusetzen, sind das Gruppen, die eine ausgearbeitete politische Haltung haben, die ihre konkreten Tätigkeiten dann auch prägt.

SL/IS: Das fehlt den Ehrenamtlichen noch?

KM: Ja, aber auch sie werden doch sehr schnell auf die politischen Einschränkungen gestoßen: die Verschärfung des Asylrechts, die Wegverwaltung der Flüchtlinge und ihrer Rechte. Da kann auch ehrenamtliche Arbeit Formen von zivilem Ungehorsam annehmen, wenn ich allein an viele Fälle des Kirchenasyls denke, wo ganze Gemeinden Flüchtlinge vor Abschiebung schützen. Ich würde die ehrenamtliche Arbeit nicht mit Ansätzen wie der Tafel vergleichen, die eine starke Tendenz zur Entpolitisierung und Privatisierung von Hilfe aufweisen und dazu beitragen, dass Recht durch Wohltätigkeit ersetzt wird.

SL/IS: Ihr unterscheidet zwischen »rechtebasierter Solidarität« und »Wohltätigkeit«. Was wird derzeit in Deutschland geleistet? Wo ist das Problem?

KM: Zurzeit werden die Rechte von Geflüchteten auf unerträgliche Weise eingeschränkt. Hilfe für Flüchtlinge muss sich mit diesen Fragen auseinandersetzen und dazu Stellung beziehen, sonst ist sie nicht mal ein Heftpflaster auf die immer wieder aufgehende Wunde. Das ist Teil eines emanzipatorischen Prozesses, der sich unter den Helfenden vielleicht noch entwickeln wird. Die Ehrenamtlichen wissen ja selbst, dass sie auf Dauer mit Mitmenschlichkeit allein keine sinnvolle Unterstützung der MigrantInnen leisten können, die ihnen ein selbstständiges Leben ermöglicht. Aber als Augenzeugen der Diskriminierung, denen doch die Geflüchteten und Migranten in vielfältiger Form ausgesetzt sind, sind sie unersetzlich. Alle, die sich für geflüchtete Menschen engagieren, brauchen ein politisches Projekt, das über die Einzelfallhilfe hinaus geht, sonst wird die Frustration auch bei den Helfenden groß sein.

SL/IS: Ein politisches Projekt?

KM: Ja. Das besteht meiner Ansicht nach darin, dass die Geflüchteten ein Recht auf Rechte haben. Das ist auch der einzige Weg, um die Abhängigkeit von Hilfe zu überwinden. Wohltätigkeit ist ein Ausgangspunkt von Mitgefühl. Aber die Hilfe darf nicht dabei stehen bleiben. Im Gegenteil, sie reproduziert sich so nur selbst. Deshalb haben wir diesen Dreiklang aus Hilfe verteidigen, kritisieren und überwinden. Hilfe muss sich überflüssig machen. Das geht nur, wenn Hilfsbedürftige einklagbare Rechte haben und die Chance haben, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Nicht die ehrenamtliche Hilfe scheint mir das Problem zu sein, auch wenn da sicher viel Naivität und manchmal auch Paternalismus im Spiel sind. Für viel problematischer halte ich die Privatisierung und Fragmentierung der professionellen Hilfe, die - wenn sie kein politisches Konzept hat - sich häufig an der Wegverwaltung der Flüchtlinge beteiligt, statt sie ins Recht zu setzen.

Zwischen Ehrenamt und Solidarität
Bereits im August 2015 diskutierten Johanna Bröse und Sebastian Friedrich in der Zeitschrift ak 607 die Ambivalenz der ehrenamtlichen Hilfe für Geflüchtete: „Sicher: Die Integration der Geflüchteten kann nicht staatlichen Institutionen überlassen werden, sondern es ist vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe. Dennoch: Es sind staatliche Institutionen, welche die Ressourcen dafür zur Verfügung stellen müssen. Eine umfassende Lösung kann deshalb nur politisch erzwungen werden, wenn etwa individuelle Hilfe mit kollektiven Taten verbunden wird. Die aktuelle Flüchtlingsbewegung in Deutschland zeigt, wie politischer Widerstand aussehen kann. Solidarität von unten bedeutet: neben der kurzfristigen Unterstützung gemeinsam dafür zu kämpfen, dass sich langfristig die Frage nach der privaten Unterbringung von Schutzsuchenden und der Abfederung durch Ehrenamt nicht mehr stellt.

Laura Lambert, Manuel Liebig und Helge Schwiertz setzten die Debatte in ak 609 fort und fragten, wie aus der aktuellen Hilfewelle für Geflüchtete etwas Langfristiges entstehen kann: „Diese Verknüpfung von radikalen Maßnahmen und lebensweltlicher Unterstützung kann auf die Willkommensinitiativen angewendet werden, ohne dass diese ihre Offenheit gegenüber Menschen aus diversen sozialen Zusammenhängen verlieren sollten. Das Ziel muss immer den Kampf um gleiche soziale wie politische Rechte einschließen und das große Ganze im Blick behalten: Das aus der Diskussion geratene Massensterben im Mittelmeer, die anti-migrantische Politik im Inland und an den EU-Außengrenzen, Europas Verursacherrolle von Ausbeutung, Kriegen und Krisen. Die kommende Asylrechtsverschärfung könnte eine erste Zerreißprobe für die Willkommensinitiativen werden.“

 

Der Beitrag wurde der ak - analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 610 / 17.11.2015 entnommen. Die Debatte dort über Ehrenamt und Flucht soll fortgesetzt werden.

Ausgabe

Rubrik

Initiativen