"sans papier" in Deutschland

Illegalisierte: Stimmen aus dem Off

von Daniel Josten

Ihre Anzahl anzugeben, ist nahezu unmöglich. Deshalb schwanken Angaben darüber immens, wie viele Menschen sich in der Bundesrepublik aufhalten, ohne über die dafür nötigen Papiere zu verfügen: Sind es nun 100.000 oder weit über eine Million? Öffentlich wird häufig ein verzerrtes Bild gezeichnet: Die Medien verweisen gerne skandalträchtig auf unterweltliche Verquickungen mit Schlepperbanden. So geraten Flüchtlinge allzu oft unter den Generalverdacht eines illegalen Grenzübertritts, was der Situation meist nicht gerecht wird (vergl. Hutter 2003, S. 224). Aus Sicht der Obrigkeit handelt es sich in erster Linie um ein ordnungspolitisches Problem, das amtlich beackert werden muss, indem Analysen angefertigt und Strategien entwickelt werden. Während von hier die entscheidenden Impulse dafür ausgehen, wie der Mainstream die Sache zu sehen hat, leisten dazu – noch in weit bescheidenerem Ausmaß – auch illegalisierte MigrantInnen selbst ihren Beitrag: Sie mischen in Diskursen mit, wenn ihnen die öffentlich Rede auch oft verwehrt bleibt.

Eigene Interessen vertreten oder Protest ausdrücken, das können sie noch am ehesten in Alltagssituationen. Davon bekommt die Öffentlichkeit natürlich eher selten etwas mit. Denn Papierlose müssen sich im Hintergrund halten und können sich nur in diesem begrenzten Rahmen an Debatten beteiligen. Doch auch aus dem privaten Umfeld und über Strukturen solidarischen Beistands können ihre Ansichten den Weg in die öffentliche Auseinandersetzung finden – wenn auch selten laut und deutlich. Menschen ohne Papiere stehen nicht die für Demokratien eigentlich als üblich geltenden Wege zur Verfügung, ihre Stimmen in der Öffentlichkeit zu erheben.

Doch die Stimmen Papierloser sind in Europa vor allem seit den 1990er Jahren trotzdem zunehmend vernehmbar (vgl. Jugendclub Courage Köln e. V. et al. 1997, S. 13f, 18f, 21ff, 42f; Kieser 2008, S. 14). Sie streiten für ein menschenwürdiges Leben am selbst ausgewählten Ort und greifen diverse Aspekte auf: Armut in Herkunftsländern, die Problematik der Abschiebepraxis, Unterkunfts- und Lebensunterhaltsfragen, medizinische Versorgung, Rassismus, die leichte Ausnutzbarkeit ihrer rechtlosen Lage, den Ausschluss von Sozial- und Gesundheitsversorgung, die Deutung irregulärer Migration als Problem und das parteipolitische Vorgehen, Zugewanderte als Spielball anzusehen.

Aber der Wirkungsradius dieser Aktivitäten bleibt bisher noch deutlich begrenzt. Dennoch konnte grenzüberschreitende Anteilnahme für das Thema wachgerufen werden. Wer Möglichkeiten findet und den Mut aufbringt, öffentlich das Wort zu ergreifen, kann mitunter zumindest zeitweise eigene Anliegen publik machen und Probleme kommunizieren, etwa bei den unter dem Stichwort Kirchenasyl bekannt gewordenen Protestaktionen (vgl. AutorInnenkollektiv 2000, S. 8f, 11, 99, 106f, 115, 118, 120f; Stobbe 2004, S. 106; Pries/Sezgin (Hg.) 2010, S. 43f).

In der Bundesrepublik kann der Umgang mit Papierlosen leicht zu einer verbotenen Handlung werden – zu einer Hilfestellung in Sachen illegalem Aufenthalt. Dennoch kommt es vor, dass Menschen ohne Papiere das Wort öffentlich ergreifen können, besonders wenn legale Kreise anonyme Deckung bieten und etwa Publikationen ermöglichen (vgl. Díaz/Arnold 2001; Kieser 2001, S. 52, 65; Moreno/Bayer 2005; Berkenbusch/Haustein/Kühne/Renner (Hg.) 2008, S. 37ff, Bicker 2009).

Abschiebungen konnten durch öffentliche Aktionen durchaus schon verhindert werden, wobei Erfolg offensichtlich umso eher in Aussicht steht, je breiter die solidarische Hilfestellung legal ansässiger Personenkreise ausfällt. Amtliches Vorgehen erscheint dabei eher willkürlich, und geltende Gesetze werden tendenziell dann milde ausgelegt, wenn im jeweiligen Einzelfall ein großer Unterstützungsaufwand betrieben wird.

Doch den Unterstützenden gegenüber, die einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus besitzen, ist die Vertretung eigener Meinungen für Papierlose ebenfalls oft schwierig und nur eingeschränkt möglich. Allzu schnell geraten Illegalisierte in derartigen Strukturen in eine passive KlientInnen-Position. So bleibt ein Risiko, dass Entscheidungen an ihnen vorbei getroffen werden. Dies war beispielsweise bereits der Fall, als sich während einer Hilfsaktion für Illegalisierte beteiligte Kirchengliederungen nicht einig waren.

Abgemeldete melden an
Wo Menschen ohne Papiere Beachtung finden, kommen sie zumeist als diejenigen vor, die eben nicht dazu gehören.

In beinahe allen Bereichen des Lebens sind Menschen ohne Papiere gegenüber anderen Teilen der Bevölkerung benachteiligt. So ist etwa die Wohnsituation Illegalisierter oft heikel, denn Papierlosen Unterkunft zu gewähren, ist schlichtweg nicht erlaubt. Viele Beratungsstellen haben mit Illegalisierten zu tun. Hier taucht vor Ort immer wieder die Frage auf: Was dürfen sie und was dürfen sie nicht? Doch mittlerweile diskutieren Institutionen verschiedener Städte auf kommunaler Ebene immerhin zaghaft über dieses und andere mit der Illegalisierung zusammenhängende Probleme, wie etwa die Frage der medizinischen Versorgung.

Vorstellungen nationaler Zugehörigkeit bestimmen nach wie vor die politisch gewollte Besserstellung als alteingesessen betrachteter Bevölkerungsteile. Zugleich halten sie für einen Standortnationalismus her, der mit flexibleren Regeln der Zuwanderung unter ökonomischen Gesichtspunkten einhergeht. Am Beispiel undokumentierter Migration tritt die so betriebene gesellschaftliche Unterschichtung besonders klar hervor: Für die als einheimisch geltenden Teile der Bevölkerung bleiben auf diese Weise die Aufstiegsmöglichkeiten gewährleistet. Die Ökonomie baut verstärkt auf Billiglohn-Prinzipien auf. Sie nutzt dabei auch die Lage illegalisierter MigrantInnen aus, um Löhne zu drücken. Die Anwesenheit von Illegalisierten stellt so sicher, dass billige Arbeitskraft verfügbar ist. Durch die strenge Gesetzgebung wird also eine Minderheit erzeugt, die durchaus gesellschaftliche Bedeutung hat, insofern sie einen Bedarf an kostengünstig verfügbarer Arbeitskraft deckt.

Die Anwesenheit von Menschen ohne Papiere macht deutlich, dass die gewollte Wirkung der Grenzkontrollen und restriktiven Gesetze nicht erzielt wird: Migration nach Gutdünken zu leiten, ist nahezu unmöglich. Denn Netzwerkbildung sozialer Zusammenhänge macht längst nicht am Schlagbaum halt. Sie erschließt sich in Zeiten der Globalisierung zunehmend Möglichkeiten, kosmopolitisch zu agieren.

Antirassistisch ausgerichtete Gruppierungen, die sich mit der Thematik befassten oder Illegalisierte kannten, vernetzten sich in den späten 1990er Jahren. Unter der Überschrift „Kein Mensch ist illegal“ erging ihr Appell an die Öffentlichkeit, Papierlosen unter die Arme zu greifen. In der Folge meldeten sich bei den beteiligten Zusammenschlüssen immer mehr Illegalisierte und von Illegalisierung Bedrohte. Die Thematik konnte durch die Aktivität des Netzwerks zeitweise eine große – auch mediale – Öffentlichkeit erreichen. Über Grenzen hinweg vernetzen sich AktivistInnen: So entstand etwa eine Zusammenarbeit mit der „Sans Papiers“ genannten Bewegung in Frankreich.

Die Stimmen aus dem Off fordern Mitsprache ein. Sie melden als vorhandener Teil der Bevölkerung selbst- und verantwortungsbewusst ihre Gesellschaftsmitgliedschaft an: „Ich arbeite jetzt schwarz und zahle somit auch keine Steuern für die Region. Aber wenn ich hier eine richtige Aufenthaltserlaubnis bekäme, könnte ich auch normal arbeiten und Steuern zahlen. Ich möchte gerne wie ein ganz normaler Mensch in Deutschland leben. Keine Angst vor Polizeikontrollen und wegen der Krankenhäuser haben.“ „Berlin ist zu meiner Stadt geworden. Ich würde sehr gerne hier normal arbeiten und leben“ (beide zit. n. Berkenbusch/Haustein/Kühne/Renner (Hg.) 2008, S. 38 bzw. S. 43).

 

Literatur:
AutorInnenkollektiv 2000: Ohne Papiere in Europa, Berlin/Hamburg

Berkenbusch, A./Haustein, S./Kühne, F./Renner, B. (Hg.) 2008: Geschlossene Gesellschaft, Burg Giebichenstein Hochschule für Kunst und Design, Halle

Bicker, B. 2009: Illegal, München

Díaz, V./Arnold, A. 2001: Unter Deutschen leben. Interview mit einer Latina ohne Papiere, In: Ohne Papiere/ila 250, www.ila-bonn.de/artikel/250unter.htm (zuletzt: 18. 7. 2011)

Hutter, F.-J. 2003: No rights, Berlin

Jugendclub Courage Köln e. V. et al. 1997: „... ich möchte nicht mehr sitzen hier für Deutschland!“ Reader zur Ausstellung über Flüchtlinge und Abschiebehaft in Deutschland, Köln

Kieser, A. 2001: Rentabel und verfolgt. Illegale und die deutsche Debatte über Einwanderung, In: Tolmein, O. (Hg.): Besonderes Kennzeichen: D, Hamburg, S. 48-71

ders. 2008: „Wer nicht mitfährt, wird verhaftet“, In: Stadt Revue, Ausgabe 01/08, Köln, S. 14

Moreno, M./Bayer, S. 2005: Sie nahmen mir die Freiheit. Geständnisse einer Illegalen, München

Pries, L./Sezgin, Z. (Hg.) 2010: Jenseits von ,Identität oder Integration‘, Wiesbaden

Stobbe, H. 2004: Undokumentierte Migration in Deutschland und den Vereinigten Staaten, Göttingen

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Hintergrund
Daniel Josten, Jahrgang 1976, studierte zunächst Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Interkulturelle Kommunikation und Bildung“ in Köln und legte dort 2011 eine Doktorprüfung im Fach Sozialwissenschaften ab. Vom Autor erscheint im Frühjahr 2012 das Buch: „Die Grenzen kann man sowieso nicht schließen.“ Migrantische Selbstorganisation – zivilgesellschaftliches Engagement zwischen Ausschluss und Partizipation, Westfälisches Dampfboot, Münster.