Über Entspannung und Abrüstung in Zeiten von Gewaltkonflikten und Aufrüstung

In welcher Währung notiert der Frieden?

von Thomas Roithner
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Es gehört seit Jahren zum kleinen Einmaleins in der internationalen Politik, dass sich die Welt in Machtübergängen befindet und sich neue Allianzen formieren. Die gute Nachricht: Wir haben Regeln und Institutionen, um damit umzugehen. Die schlechte Nachricht: Diese werden zunehmend weniger beachtet. Vertrauen als zentrale Währung der Weltordnung schwindet, und das Durchsetzen von nationalen und Bündnis-Interessen ist Trumpf.

An Friedensplänen und postulierten Kernpunkten für Frieden in der Ukraine hat es besonders seit 2022 von Seiten der transatlantischen Politik und Diplomatie nicht gemangelt. Eine Reihe von Friedensplänen sehen in der letzten Realisierungsphase keinen ganz kleinen Brocken: Emmanuel Macron sprach 2022 von einer neuen Sicherheitsarchitektur, Italiens Außenminister Luigi di Maio schlug am Ende des Weges einen Europäischen Sicherheitspakt vor, und auch der vielbeachtete Vorschlag zum Verhandlungsfrieden von Peter Brandt, Hajo Funke, Harald Kujat und Horst Teltschik skizziert in der abschließenden Phase die Aushandlung einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung. Eine Reihe von Fahrplänen – auch US-amerikanische wie jene von Richard Haass und Charles Kupchan – misst der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Rolle zu. Nur genau dazu braucht es die Stärkung von Instrumenten und Institutionen von Frieden und Sicherheit in Gesamteuropa.

Institutioneller Pluralismus
Der zur Charta von Helsinki 1975 führende Entstehungsprozess hatte nicht nur ein geopolitisches Schönwetterprogramm. Der Kerngedanke: alle KSZE-Staaten zwischen Vancouver und Wladiwostok sitzen am Tisch, und es wird im Konsensprinzip entschieden. Der Vorteil ist gleichzeitig ein Nachteil: Konsens heißt, dass ein Staat blockieren kann, und ja, nicht jeder Knatsch wird gerade wertschätzend ausgetragen. Dennoch hat die OSZE vor dieser Phase des Krieges in gut zwei Jahren über 3000 lokale Waffenruhen vermittelt. Die Erfolgsbilanz hat weitere Schönheitsfehler. Im Jahr 2021 verfügte die OSZE über ein Jahresbudget von 138 Millionen Euro einschließlich der Operationen im Feld. Während in Deutschland dreistellige Milliardenbeträge für Aufrüstung debattiert werden, so wendet Österreich neben vergangenen Budgeterhöhungen in den nächsten vier Jahren rund 18 Milliarden Euro auf. Rüstungsbudgets sind auch Ausdruck politischer Prioritätensetzungen. Österreich orientiert – wie auch andere EU-Staaten – Sicherheit stark an der EU. Trotz aktiver Amtssitzpolitik – allein in Wien sind etwa 40 internationale Organisationen angesiedelt – verbleibt die OSZE hinter ihren Möglichkeiten bzw. wird ihr keine zentrale Rolle zugedacht. Freiwillige Solidarleistungen Österreichs für die OSZE betrugen 2021 gerade mal 6 % der Kosten eines einzigen Pandur-Panzers. Österreich plant die Anschaffung von 225 Stück. Alle Staaten sitzen in der Generalversammlung und alle haben sich nach der UN-Charta auf ein völkerrechtliches Gewaltverbot, Instrumente friedlicher Streitbeilegung oder territoriale Integrität verständigt. Europäische Sicherheitspolitik hat heute einen Fokus auf Abschreckung, Aufrüstung, Waffenlieferungen und Sanktionen. Jüngste SIPRI-Daten zu Waffentransfers und Militärausgaben zeigen Europa hochdynamisch. Möglichkeiten multilateraler und inkludierender Institutionen bleiben ausbaufähig. Von ihrer Stärkung oder Reform im Sinn des Gewaltverbots ganz zu schweigen. Immer öfter ist von „regelbasierter internationaler Ordnung“ die Rede, ohne zu erklären, was diese vom Völkerrecht unterscheidet. Die Vereinten Nationen sind nicht nur für die Prävention und Transformation von gewaltsam ausgetragenen Konflikten von zentraler Bedeutung, sondern auch für Maßnahmen gegen den Klimawandel und den damit verbundenen Risiken. Besonders die Betroffenen müssen mit an den Verhandlungstisch.

Rüstung
In den letzten Jahren sind zahlreiche Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge aufgekündigt worden oder erodiert. Der Vertrag über das Verbot von Mittelstreckensystemen (INF-Vertrag) ging 2019 perdu. Die USA wie Russland sind aus dem Vertrag über den Offenen Himmel (Treaty on Open Skies) 2020 und 2021 ausgestiegen und der Vertrag über die Begrenzung strategischer nuklearer Kapazitäten (NewSTART) wurde von Russland 2023 ausgesetzt. Aus dem 1992 zwischen den KSZE-Staaten in Kraft getretenen Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ist – nach vielfachen gegenseitigen Vorwürfen – Russland 2023 ausgetreten, und die NATO-Staaten haben diesen ausgesetzt. Ab den späten 1990ern wird der Mangel an Vertrauen und Transparenz zunehmend sichtbar. Die Sicherheitslage für Europa wird folglich instabiler und die Weltuntergangsuhr steht heute auf 90 Sekunden vor Mitternacht. Zentrale Fragen über Obergrenzen von Waffensystemen und Truppen und wie dies glaubwürdig kontrolliert werden kann, werden sich spätestens nach Ende des Krieges gegen die Ukraine wenden. Im OSZE-Rahmen erzielte und mittlerweile erodierte Verträge werden in ihrer Intention eine Wiederbelebung erfordern.

Humanitäre Abrüstung
Neben der Drohung mit Atomwaffen, der wiederkehrenden Debatte über die EUropäisierung bestehender Nuklearpotenziale oder der Ausdrehung der nuklearen Teilhabe der NATO trat 2021 der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft. Im Mittelpunkt steht die menschliche Sicherheit und nicht ausschließlich die Sicherheit von Staaten. Nicht nur die ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat mit Atombombenarsenalen sind gefragt, sondern jeder Staat in der UN-Generalversammlung hat eine Stimme. Demokratisierung wurde umfassend verstanden, und zivilgesellschaftliche Akteure und Wissenschaft nahmen in Debatten einen wichtigen Platz ein. Diese Erweiterung des humanitär begründeten Abrüstungsdiskurses ermöglichte nicht nur den Atomwaffenverbotsvertrag (2021), sondern auch das Verbot von Antipersonenminen (1999) und das Übereinkommen über Streumunition (2010). Ende April diskutierten in der Wiener Hofburg über 140 Staatenvertreter*innen unter aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft, wie eine Regulierung autonomer Waffensysteme ausgestaltet werden kann.

Vertrauen
Vertrauensbildung ist dem KSZE- und OSZE-Prozess eingeschrieben. Intention war stets, dem Gegenüber zu versichern, dass keine Absicht besteht, Konflikte militärisch auszutragen. Die „Wiener Dokumente“ über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) der frühen 1990er-Jahre sind rechtlich nicht bindend und fokussieren den Austausch, Information und Beobachtung von Waffen, Personal, Doktrinen oder Budgets. Russland nimmt seit 2022 nicht mehr teil. In einer auf Sieg und Niederlage zugespitzten Ukraine-Debatte sind Diplomatie, Abrüstung in Europa, inkludierend wirkende Institutionen und Vertrauensbildung aus dem Zentrum gerückt. Weitsichtige Friedensfahrpläne suchen heute die Stärkung jener Instrumente und Akteure, die menschliche Sicherheit verfolgen. In einem großen Bild geht es gemäß der UN-Charta darum, die „kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“. Schon längst sollten wir ausrechnen, in welcher Währung der Frieden eigentlich notiert.

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Thomas Roithner ist Friedensforscher und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Er arbeitet gemeinsam mit Pete Hämmerle im Rahmen des Internationalen Versöhnungsbundes (Österreichischer Zweig) als Co-Kampagnenleiter für #ZivilerFriedensdienstÖsterreich. www.thomasroithner.at