Israel nach der Wahl

von Christian Sterzing
Hintergrund
Hintergrund

Fragte man nach den Wahlen und der wenig aufschlussreichen Regie­rungserklärung in Israel nach dem friedenspolitischen  Kurs des neuen Ministerpräsidenten Benyamin Netanyahu, so wurde - auch von offi­zieller diplomatischer Seite - auf den bevorstehenden Besuch des Über­raschungssiegers in Washington verwiesen: Erst nach den Gesprächen mit US-Präsident Bill Clinton werde Genaueres von ihm zu erfahren sein, z.B. ob sich die israelischen Streitkräfte - wie von Schimon Peres versprochen - bald aus Hebron zurückziehen werden, ob es weitere Verhandlungen mit Syrien geben wird und wie die nächsten Verhand­lungsschritte mit Yassir Arafats Autonomieregierung aussehen werden.

Dies zeigt nicht etwa, daß die israelische Politik in Washington gemacht wird. Es macht vielmehr deutlich, welche Hoff­nungen von vielen Israelis in den mäßi­genden Einfluss der amerikanischen Nahost-Politik auf den israelischen Re­gierungschef gesetzt werden. Die Ent­scheidung für _Bibi" Netanyahu war keine gegen den Friedensprozess mit den Palästinensern, sondern eine gegen Pe­res und seine Art und Weise, eine politi­sche Lösung des israelisch-palästinensi­schen Konfliktes zu suchen. Es war ein "Sieg der Angst", kein Votum gegen den Friedensprozess - obwohl es sich letztendlich als ein solches herausstellen könnte.

Der Wahlsieg Netanyahus markiert kei­neswegs einen Erdrutsch in der israeli­schen Wählerschaft. Der Sieg war hauchdünn - genauso wie der Wahlsieg Yitzchak Rabins 1992. 26.000 Stimmen mehr für Peres und er hätte die neue Regierung - z.T. mit den gleichen Ko­alitionspartnern wie Netanyahu -  gebil­det. Die Wahl

Shimon Peres startete in diesen Wahl­kampf mit einem Vorsprung von etwa 16%. Als Friedensnobelpreisträger genoss er weltweit Anerkennung und galt als Garant für die Fortsetzung des sensi­blen Friedensprozesses mit den Palästi­nensern. Mit Jordanien war ein Frie­densvertrag zustande gekommen und das Verhältnis zu einigen arabischen Ländern konnte normalisiert werden. Peres hatte Israel aus seiner diplomati­schen Isolation herausgeführt. Außerdem konnte er eine glänzende wirtschaftliche Bilanz vorweisen, um die ihn jeder an­dere Regierungschef beneiden mußte: Der Friedensprozess hatte in der israeli­schen Wirtschaft einen Boom ausgelöst, die Arbeitslosigkeit war gering, die In­flation hatte man im Griff.

Ein Schlüsselwort für die überraschende Wahlniederlage des Friedensnobel­preisträgers Shimon Peres lautet Sicher­heit. Mit der Anerkennung der PLO, den Oslo I und Oslo II-Abkommen sowie dem palästinensischen Autonomiepro­zeß in den besetzten Gebieten war es Rabin und Peres in den vergangenen Jahren zwar gelungen, überraschende Fortschritte in Richtung auf eine politi­sche Regelung des israelisch-palästinen­sischen Konfliktes zu erzielen, doch die israelischen WählerInnen hatten nicht das Gefühl, daß durch diesen Friedensprozess ihre persönliche Sicherheit ver­bessert werde. Die Serie von Selbst­mordanschlägen im Frühjahr ließ viele Israelis fragen: Was nützt uns der ganze Friedensprozess, wenn durch den zu­nehmenden Terror mein Leben unsiche­rer wird? Der verzweifelte Versuch von Peres, durch die Aktion _Früchte des Zorns", die Luftangriffe auf den Südli­banon, sein Image als harter Verfechter der nationalen Sicherheit aufzubessern, ging gründlich schief: militärisch hat die Aktion keinerlei Verbesserung der Si­tuation an der nördlichen Grenze ge­bracht, politisch hat Israels Ansehen - besonders nach dem verheerenden An­griff auf den UN-Stützpunkt Kana - er­heblich gelitten und diplomatisch hat die Aktion nur zu einer Aufwertung Syriens und des Iran geführt.

Da nützte es auch nichts mehr, daß sich Peres im Wahlkampf immer mehr als Hardliner zu profilieren versuchte, wäh­rend sein Konkurrent bemüht war, im­mer wieder zu versichern, daß er den Friedensprozess fortführen werde - wenn auch anders. Netanyahu betonte einer­seits seine Vertragstreue und seinen Verhandlungswillen, andererseits ver­kündete er, daß die Sicherheit der Is­raelis für ihn im Vordergrund stehen werde. Eine Likud-geführte Regierung werde nicht nur die Siedlungaktivitäten auf der Westbank und im Gaza-Streifen fortsetzen, sondern im Kampf gegen den Terrorismus unnachsichtig volle Hand­lungsfreiheit auch in den von israeli­schen Sicherheitskräften geräumten au­tonomen palästinensischen Gebieten be­anspruchen. Eine Rückgabe der Golan-Höhen an Syrien verbietet sich nach Ansicht des neuen Ministerpräsidenten aus Sicherheitsgründen ohnehin.

Das Wahlergebnis zeigt darüber hinaus einen markanten Differenzierungspro­zeß in der israelischen Gesellschaft. Aufschlußreich ist weniger der angebli­che "Riss" in der Wählerschaft, der in dem knappen Ergebnis der Ministerprä­sidentenwahl zum Ausdruck kommt, als vielmehr die fortschreitende Zersplitte­rung des israelischen Parteienspektrums, in der sich eine zunehmende Fragmen­tierung der israelischen Gesellschaft manifestiert. Die beiden großen Parteien - die Arbeitspartei und der Likud-Block - verloren knapp ein Viertel ihrer Stim­men. Gewinner der Wahlen sind die kleinen Parteien, vor allem jene Klien­telparteien, die sich -unabhängig von ei­ner spezifischen friedenspolitischen Ausrichtung - die Interessenvertretung bestimmter Bevölkerungsgruppen zur primären politischen Aufgabe gemacht haben. Alle Versuche der großen Par­teien, durch Integration von Vertretern z.B. der russischen Neueinwanderer, der orientalischen Juden und der palästinen­sischen Minderheit in ihre Wahllisten diesem Trend der drohenden politischen Fragmentierung entgegenzuwirken, sind kläglich gescheitert.

Viele Beobachter interpretieren diesen Aspekt des Wahlergebnisses als be­drohliches innenpolitisches Warnsignal. Zum einen hat der "Schmelztiegel Is­rael" an innerer Bindungs- und Integra­tionskraft verloren - eine Entwicklung, die nicht zuletzt auch eine Folge des Friedensprozesses darstellt. Zum ande­ren sehen viele in dieser Entwicklung Anzeichen einer grundlegenden Wacha­blösung: Verlierer sind insbesondere die westlich geprägten "Alt-Parteien". Die Arbeitspartei - vor allem auch Schimon Peres - gilt als Repräsentant der alten Pioniergeneration und der bürgerlichen Mittelschichten, kurz: zum aschkenasi­schen Establishment, ohne Affinität zur religiös geprägten Lebenswelt der ori­entalischen Juden und ohne Sensibilität für die sozialen Probleme der Einwan­derergenerationen. Daß gerade mit "Bibi" Netanyahu ein Kandidat gewählt wurde, der in keiner Weise religiöse Bindungen hat, wie kein anderer eine amerikanische Sozialisation aufweist und einen extrem amerikanisierten Wahlkampf führte, ist nur eine der vielen Widersprüchlichkeiten dieses Wahlergebnisses.

Die Regierung

Von der starken Rolle eines direkt ge­wählten Ministerpräsidenten war bei der Regierungsbildung Netanyahus wenig zu spüren. Die Schwierigkeiten bereite­ten ihm weniger die Koalitonspartner - die Einwandererpartei, die Partei des Dritten Weges, die Nationalreligiöse Partei, Shass, eine religiöse Partei ori­entalischer Juden,  und die Thora-Liste, eine orthodoxe Partei aschkenasischer Juden, aber ohne Portefeuille in der Re­gierung - als die eigene Partei. Der Li­kud-Block ist keine gewachsene homo­gene Partei, sondern ein schwer be­herrschbares Konglomerat aus kleineren Parteien und rivalisierenden Flügeln, ehemaligen früheren Abspaltungen und einzelnen Persönlichkeiten. Netanyahu mußte mit der Benennung des als gemä­ßigt geltenden David Levy zum Au­ßenminister und des Rechtsauslegers Ariel Scharon - unter Menachem Begin als Verteidigungsminister Architekt des Libanon-Feldzugs 1982 - zum Infra­strukturminister Wahlschulden abzahlen - auch dies eine an amerikanische Usan­cen erinnernde Praxis. Gerade die Auf­nahme Scharons in das Kabinett, gegen die sich Netanyahu bis zuletzt gewehrt hatte, hat noch einmal deutlich gemacht, welchen innenpolitischen Zwängen Ne­tanyahu unterworfen ist.

Das Rätselraten über den künftigen Kurs der Regierung ist somit eher Ausdruck der Hoffnung auf realpolitische Zwänge, denen auch Netanyahu sich vielleicht nicht entziehen kann, als der Unklar­heiten, die Netanyahus programmati­sche Erklärungen bisher hinterließen. Das Regierungsprogramm spricht eine klare Sprache: Frieden ja, aber zu unse­ren Bedingungen; Verhandlungen ja, aber nicht über das, worüber die Palästi­nenser verhandeln wollen.

Am 4. Mai noch wurden von Peres und Arafat formell die gemäß dem Oslo-Ab­kommen vorgesehenen Verhandlungen über den endgültigen Status der palästi­nensischen Gebiete eröffnet. Die Rege­lung der zentralen Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts steht auf der Tagesordnung. Netanyahu hat von sei­nen Verhandlungspartnern "Verhandlungen ohne Vorbedingungen" gefordert, allerdings hielt ihn dies nicht davon ab, die Verhandlungsergebnisse vorab zu definieren: Der endgültige Status der besetzten Gebiete? Auf jeden Fall kein palästinensischer Staat! Die Zukunft Jerusalems? Auf jeden Fall bleibt Jerusalem die ewige Hauptstaat des jüdischen Staates! Wie könnte eine Rückkehrregelung für die palästinensi­schen Flüchtlinge in die palästinensi­schen Gebiete aussehen? Israel wird sich "dem Recht auf Rückkehr" arabi­scher Bevölkerungsteile (Anführungsstriche im Original der neuen Regierungsleitlinien!) widerset­zen. Was tun mit den israelischen Sied­lungen in den besetzten Gebieten? Keine Aufgabe, sondern Ausbau! Frie­den mit Syrien? Ja, aber kein Rückzug von den besetzten Golan-Höhen.

Dabei könnte sich die neue Regierung in Angelegenheiten der palästinensischen Selbstverwaltung durchaus flexibel er­weisen. Das Selbstverwaltungskonzept für die besetzten Gebiete ist nämlich keineswegs ein Produkt der sozialde­mokratischen Friedenspolitik der Ra­bin/Peres-Regierung. Vielmehr hat schon 1977 Menachem Begin vor den Camp-David-Verhandlungen einen er­sten 26-Punkte-Plan vorgelegt: Die Autonomie-Regelung diente allen Li­kud-Regierungen nicht etwa als Über­gangsstadium zu einem eigenständigen palästinensischen Staat, sondern immer als Ersatz dafür. Im Camp-David-Ab­kommen fand dieses Konzept dann sei­nen Niederschlag - als Preis (neben der Rückgabe der Sinai-Halbinsel)

für die Aufrechterhaltung der israeli­schen Souveränität über die besetzten Gebiete. Schon damals stieß diese Vor­stellung einer palästinensischen Auto­nomie bei allen arabischen Staaten - au­ßer Ägypten - und der PLO auf heftigen Widerstand und wurde als "Bantustan"-Konzept bezeichnet.

Die Perspektiven

Auch ein israelischer Ministerpräsident ist in ein Geflecht internationaler Politik eingebunden, das seine Handlungsspiel­räume begrenzen kann. Die USA-Reise Netanyahus Anfang Juli zeigte jedoch nicht - wie von vielen erhofft - konkrete Perspektiven für eine Fortsetzung des Friedensprozesses auf, sondern der neue ungeliebte israelische Regierungschef hat - sofern überhaupt vorhanden - ame­rikanischem Druck widerstanden und ist seiner Linie treu geblieben: Lippenbe­kenntnisse zum Friedensprozess, materi­ell-politisch eine kompromisslose Hal­tung. Der Friedensprozess wird deshalb wohl bald auf der Stelle treten. Gerade darin hat die neue israelische Regierung durchaus Erfahrung: Nachdem die Re­gierung des ehemaligen Likud-Premiers Yitzchak Schamir nach dem zweiten Golfkrieg 1991 unter großem interna­tionalen Druck zur Teilnahme an der Madrider Friedenskonferenz gedrängt werden konnte, dümpelten die Folge­verhandlungen jahrelang ergebnislos vor sich hin. Schamir gab nach seiner Ab­wahl unumwunden zu, daß Israels Ver­handlungsmaxime darin bestanden habe, jedwede Regelung so lang wie möglich hinauszuzögern. Der Außenminister hieß damals David Levy und der Ver­handlungsführer Israels war ein politi­scher Newcomer: Benyamin Netanyahu.

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Christian Sterzing ist MdB von B90/Die Grünen.