Gemeinsame Sicherheit

Ist der Nahe und Mittlere Osten noch zu retten?

von Andreas Buro

Ein Blick auf die vielfältigen Konflikte, die sich im Nahen und Mittleren Osten bündeln und verzahnen, erweckt Zweifel, ob und wann eine friedliche Lösung des Kampfes fast aller gegen fast alle möglich werden könnte. Bei den Kriegsakteuren spielen die Leiden der Zivilbevölkerung kaum eine Rolle. Humanitäre Legitimationsargumente klingen zynisch. Wie immer wird für militärisches Töten weit mehr Geld ausgegeben als für menschliche Hilfe. (1) In Stichworten die Konfliktfelder:

Der Islamische Staat (IS) kämpft brutal gegen fast alle anderen Akteure, vertreibt und mordet sogar auch sunnitische Familienverbände. Der IS fand zumindest zeitweise Unterstützung durch die Türkei und bei sunnitischen Kräften des Irak, ebenso bei religiösen Stiftungen in Katar und Saudi-Arabien.

Da den USA und deren Mitstreitern bislang Bodentruppen fehlen, versuchen sie, die Freie Syrische Armee (FSA) mit der irakisch-kurdischen Peshmerga (möglichst ohne PKK/PYD) zum gemeinsamen Kampf gegen Damaskus und den IS zu bewegen. Das wird gerade am Beispiel Kobane zum Ärger von Ankara erprobt. Doch die FSA ist keine einheitliche Kraft. Jüngst liefen bereits von den USA bewaffnete FSA-Gruppierungen zu dem IS über. Die Peshmerga wird jedoch voraussichtlich nicht gegen Damaskus kämpfen, sondern sich wie bisher auf die Verteidigung der kurdischen Regionen im Irak konzentrieren. Sie haben z.B. den Staudamm bei Mossul befreit.

Die syrische Regierung kämpft gegen die eigene Bevölkerung mit allen Akteuren in Syrien. An Brutalität steht sie dem IS nicht nach, auch wenn das medial nicht mehr so vermittelt wird. Sie ist mit der Türkei verfeindet, wird aber von Iran, Russland und der Hisbollah im Libanon unterstützt.

Die USA und Russland stehen auf verschiedenen Seiten des Konflikts.

Die USA liegen ferner im Streit mit Iran – vordergründig wegen des iranischen Nuklearprogramms. Das eigentliche Ziel der USA war die Zerschlagung der schiitischen Brücke (Iran, Irak, Syrien, Hisbollah) mit dem Ziel, Iran so weit zu schwächen, dass ein Regimewechsel möglich würde.

Die Türkei hat den Friedensprozess mit den Kurden zum Erliegen gebracht. Erneute gewalttätige Auseinandersetzungen innerhalb der Türkei drohen. Das wirkt sich auch auf Ankaras feindliche Haltung gegenüber den syrischen Kurden aus. Unter dem Druck der USA muss Ankara Konzessionen machen und FSA und irakisch-kurdische Peshmerga als Unterstützer für Kobane durchlassen.

Die israelische Regierung torpediert mit der Zerstörung des Gaza-Streifens die Bildung einer gemeinsamen palästinensischen Regierung von Fatah und Hamas und blockiert mit ihrer Siedlungspolitik eine Zwei-Staaten-Lösung. Am Tempelberg toben derzeit Schlachten, die leicht zu einer dritten Intifada führen können, deren Ausdehnung über Palästina hinausgehen könnte.

Konflikte zwischen und innerhalb der religiösen Lager
Das schiitische Lager (Iran, Irak, Hisbollah) ist verfeindet mit dem sunnitischen Lager (Saudi-Arabien, Katar, Emirate, Türkei und sunnitischen Teilen des Irak) Dort geht es vorrangig um Regionalmacht-Rivalitäten zwischen Riad und Teheran.

Doch auch in den einzelnen angeblich religiösen Lagern bestehen erhebliche Differenzen, so z.B. zwischen Saudi-Arabien und den Moslembrüdern in Ägypten. Dazu kommen erhebliche innerstaatliche Spannungen, wo große Minderheiten oder gar Mehrheiten von den herrschenden Eliten unterdrückt werden.

Der Sturz des gewählten Präsidenten Mursi durch das ägyptische Militär und die brutale Verfolgung der Moslembrüder und anderer Oppositioneller verbunden mit einer zunehmenden anti-demokratischen Politik erzeugt wachsende militante Gegenwehr, wie sie sich nicht nur auf dem Sinai zeigt.

Die Vermittlungsversuche der Vereinten Nationen erfuhren keine wesentliche Unterstützung durch die Kontrahenten. Das Prestige und das Gewicht der UN als Friedensvermittler wurden dadurch sichtlich geschwächt.

Angesichts der so verworrenen Konflikte, deren Kontrahenten alle auf Gewalt setzen, wäre gegenwärtig eine Aufforderung, die Waffen ruhen zu lassen und sich zum gemeinsamen Dialog zu treffen, wohl in den Wind gesprochen. Einzelschritte in Richtung auf Verständigung sind zunächst erforderlich. Allerdings werden diese Zeit brauchen.

Was jedoch sofort begonnen werden kann, ist der Ausbau der humanitären Hilfe. Die Menschen in Syrien und die Flüchtlinge in den angrenzenden Ländern benötigen dringend umfassende Hilfe, sonst steht ein Genozid durch die Kälte des Winters und durch Epidemien bevor. Keiner kann sagen, er hätte dies nicht gewusst. Die Hilfe sollte, so weit möglich, in gemeinsamer Koordination geschehen, um dadurch bereits Dialog-Strukturen zu fördern. Eine Absicherung durch die UNO und ihre Organisationen dürfte notwendig werden.

Die Arbeit an folgenden Einzelschritten erscheint vordringlich:
Die USA müssen ihren Streit mit dem Iran über dessen Nuklearprogramm endlich beenden und die Sanktionen aufheben. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ein Zusammenwirken mit dem Ziel einer Befriedung in Nah- und Mittelost. Die Differenzen, ob eine solche Kursänderung betrieben werden soll, reichen weit in die US-Innen- und Parteipolitik. Das gilt umso mehr, als Obama in den jüngsten Wahlen die Mehrheit auch im Senat verloren hat.  Eine schnelle Entscheidung ist kaum in Sicht.

Die beiden konkurrierenden Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien sollten im Dialog prüfen, ob sie sich auf eine Politik der Koexistenz verständigen können. Religiöse Differenzen dürften dabei nur eine vordergründige Rolle spielen. Gelänge dies, so würde in der Region eine generelle Deeskalation der Konfrontation eintreten können.

Im Inneren des Iraks ist eine konsequente Politik der Aussöhnung zu betreiben. Sunniten dürfen nicht länger von der Gestaltung der Politik ausgeschlossen werden und sollten an den Einnahmen aus Öl- und Gasförderung angemessen beteiligt werden. In diesem Zusammenhang sind auch die kurdischen Tendenzen zur Bildung eines eigenen Staates zu behandeln. Dabei geht es wiederum auch um die ungleiche Verteilung der Öl- und Gasressourcen im Irak.

Russland und die USA sollten als globale Akteure einen Dialog führen, welche Ziele sie in der Region erreichen wollen und wo mögliche Gemeinsamkeiten liegen könnten. Auch für Moskau ist der IS wegen seiner Ausstrahlung auf islamische Gruppierungen in Russland bedrohlich.

Die türkische Regierung hat gerade ihren Aussöhnungsprozess mit den türkischen Kurden abgebrochen. Sie wird sich entscheiden müssen, ob sie die Chance einer großen Aussöhnung mit den Kurden nutzen will, oder ob sie diese nur als Hilfstruppen gegen Assad einsetzen möchte, um später das syrisch-kurdische Grenzgebiet Rojava zu dominieren und die dortigen Autonomiebestrebungen zu unterbinden. Eine Aussöhnung mit den Kurden würde dagegen eine Weiterentwicklung des für die Zukunft Syriens wichtigen multi-ethnischen und multi-religiösen Experiments in Rojava ermöglichen.

Eine Dialog-Zentrum schaffen
Bei der Bearbeitung der vielen erwähnten Konflikte sind viele Dialoge einzuleiten. Dazu fehlt ein angemessenes Dialog-Zentrum, das es Konfliktpartnern weltweit ermöglichen würde, diskret zusammen zu kommen, um nach Lösungen für ihre Konflikte zu suchen. Das wäre nicht billig. Im Vergleich mit den Kosten für weitere Aufrüstung wären dies allerdings nur Peanuts und – weit nützlicher. Deutschland, das bei vielen Akteuren einen Vertrauensvorschuss geniest, sollte dazu die Initiative ergreifen.

Es ist nicht auszuschließen, dass die angedeuteten Einzelschritte bereits zu einer Art containment des IS führen. Die IS-Unterstützung vom Ausland her würde sich verringern, und zwar nicht nur die materielle, sondern auch die geistige. Wäre dann ein solcher IS noch so attraktiv für junge Menschen aus fremden Ländern? Eine Stagnation im Siegeszug des IS könnte seine Vorbildfunktion z. B. in Afrika schwächen. Würde zum IS ein beständiges Dialog-Angebot – vermutlich sehr diskret – eingerichtet, so ist nicht auszuschließen, den IS, wie vermittelt auch immer, in eine Lösung einzubeziehen. Wie diese aussehen könnte, ist heute noch unklar.

Eine Dauerkonferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Nah- und Mittelost
Zur Unterstützung eines solchen Prozesses wäre ein Aufruf zur Beendigung von Gewalt und zur Aufnahme des Dialogs durch die UN-Vollversammlung hilfreich. Allerdings dürfte dies kein einmaliger Akt sein, sondern müsste zu einer Art Weltabstimmung ausgebaut werden. Institutionen und Gruppierungen in allen Ländern wären aufzufordern, ihre Stimme abzugeben. Das könnte unter ständiger Berichterstattung über eine lange Zeit geschehen und einen erheblichen moralischen Druck aufbauen.

Der nächste Schritt sollte dann die Einberufung einer Dauerkonferenz im Sinne der früheren Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sein, nun allerdings für Nah- und Mittelost (KSZNMO). An ihr sollten alle Konfliktakteure teilnehmen können, also auch Damaskus und der IS. Vorbedingungen für die Teilnahme von einzelnen Akteuren, wie sie früher immer wieder erhoben worden sind, dürften nicht akzeptiert werden. Die UNO als Vertreterin der oft zitierten Weltgemeinschaft sollte die Moderation übernehmen, nicht aber eine der Großmächte. Bei den Verhandlungen würde es nicht nur um die aktuellen Konflikte gehen. Viele gemeinsam oder bilateral interessierende Probleme sollten in verschiedenen „Körben“ behandelt werden. Wenn die Verhandlungen über einem Korb stagnieren, können sich Erfolge vielleicht bei anderen Körben ergeben und so zu weiterer Kooperationsbereitschaft motivieren.

In dem hier skizzierten Prozess wird es auf absehbare Zeit keine „Gemeinsame Sicherheit“ im strengen Sinne geben. Wohl aber könnte Sicherheit dadurch entstehen, dass die Konfliktakteure von der Konfrontation zum Dialog übergehen und vielleicht zu einer Kooperation gelangen, die gegenseitige Gewaltanwendung ausschließt oder diese doch wesentlich reduziert.

 

Anmerkung
1 Für Ergänzungen und Korrekturen danke ich Clemens Ronnefeldt, Mehmet Sahin und Otmar Steinbicker.

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