Nahost-Konflikt

Ist die Zwei-Staatenlösung gescheitert?

von Clemens Ronnefeldt

Am 19. Mai 2012 schrieb Uri Avnery:
"Israel steuert auf einen Eisberg zu, auf einen größeren als einer von denen, die auf dem Weg der Titanic schwammen. Er ist nicht verborgen. Alle seine Teile sind von weitem sichtbar. Und wir segeln geradewegs mit Volldampf auf ihn zu. Wenn wir den Kurs nicht ändern, wird sich der Staat Israel selbst zerstören – er wird sich erst in ein Apartheidstaats-Monster vom Mittelmeer bis zum Jordan verwandeln und später vielleicht in einen binationalen Staat mit arabischer Mehrheit vom Jordan bis zum Mittelmeer".

Grundlage für eine Zweistaaten-Lösung waren die "Osloer Vereinbarungen". Das 1995 zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO geschlossene "Oslo-II-Agreement" sieht die Aufteilung des Westjordanlands in drei Typen von A-, B- und C-Zonen vor.

Die großen palästinensischen Städte wie Ramallah und Nablus bilden die Zone A, in der die gesamte Zivilverwaltung und die Verantwortung für die Sicherheit an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übertragen wurden. Weil die israelische Armee - sofern sie dies für notwendig erachtet - immer wieder auch in die Zone A eindringt, hat die ursprüngliche Intention einer wachsenden palästinensischen Selbstverwaltung weitgehend an Bedeutung verloren.

In der Zone B mit den kleineren palästinensischen Städten und Dörfern ist die PA für die Zivilverwaltung zuständig, während die Kontrolle der Sicherheit vollständig bei der israelischen Armee liegt. Zone C, die mit 62% den größten Teil des Westjordanlands umfasst, untersteht nach wie vor komplett der israelischen Zivil- und Militärverwaltung. Bis spätestens zur Jahrtausendwende hätte der Staat Palästina sowohl in den A, B als C-Territorien - mit der Möglichkeit eines minimalen Gebietstausches - und über einen Korridor mit dem Gazastreifen verbunden, errichtet werden sollen.

Realitäten in der Westbank im Jahre 2012
Die israelische Zivilbehörde mit dem Hauptquartier in der Siedlung Beit El bei Ramallah regelt de facto alle Bereiche des Lebens in der Zone C wie Baugenehmigungen, Brunnenbau oder Stromleitungen. Für PalästinenserInnen werden diese in der Regel nicht ausgestellt. Verschärft wird die Situation noch dadurch, dass z.B. der Familie Nassar vom Friedensprojekt "Zelt der Nationen", zwischen Bethlehem und Hebron gelegen, Abrissbefehle für ihre bescheidenen Stallungen und Gebäude zugestellt wurden. Von medico international geschaffene "elektrische Insellösungen" durch kleine Solar- und Windkraftanlagen wurden von israelischer Seite zerstört.

"OCHA", das UN-Büro zur Koordination humanitärer Angelegenheiten in den besetzten Palästinensergebieten, schätzt, dass derzeit in der Zone C etwa 150 000 PalästinenserInnen und etwa 325 000 israelische SiedlerInnen leben.

Im Januar 2012 veröffentlichten Hohe Beamte der Europäischen Union in Brüssel einen internen Bericht, dem zufolge die C-Zone aufgrund ihrer wachsenden Isolation eine stärkere Unterstützung durch die EU benötigt.

Die Siedlerbewegung geht seit Jahren zunehmend aggressiv gegen die ansässige lokale palästinensische Bevölkerung vor, entwurzelt tausende von Olivenbäumen, zündet Ernten und Schafställe an oder überfällt Bauern bei der Ernte.

Um Konflikte zwischen palästinensischen Bauern und Siedlern zu verhindern, greift das israelische Militär meist auf eine Notstandsverordnung der ehemaligen britischen Mandatsmacht zurück, wonach bestimmte Gebiete zur "geschlossenen militärischen Zone" erklärt werden können - mit dem Ergebnis, das diese Gebiete von palästinensischen BewohnerInnen nur mit der ausdrücklichen Erlaubnis des zuständigen israelischen Befehlshabers betreten werden dürfen.

In Ostjerusalem, besonders in Silwan, wurden hunderte von Häuserabrissbefehlen zugestellt und etliche Häuser bereits dem Erdboden gleich gemacht, um die demographische Zusammensetzung der Hauptstadt zugunsten der jüdischen Seite zu verändern.

Im November 2011 berichtete die israelische Journalistin Amira Hass, dass Israel im südlichen Westjordanland "unter den Augen der internationalen Gemeinschaft offen und unverhüllt ethnische Säuberungen" praktiziere.

1967 lebten im Jordantal etwa 250 000 PalästinenserInnen; heute sind es weniger als 50 000. Sie sind entweder aus dem Land vertrieben worden, besonders die Mittelklasse, oder sie wurden in die Zone A oder B vertrieben, wo heute etwa 95% von ihnen leben.

Professor Jeff Halper vom "Israelischen Komittee gegen die Zerstörung von Häusern" befürchtete im Mai 2012, dass die israelische Regierung die Zone C - mit dem Einverständnis der Palästinensischen Behörde - annektieren wird. In dieser Zone C leben heute weniger als 5% der palästinensischen Bevölkerung, ca. 150 000 Menschen, die vom Staat Israel "absorbiert werden könnten", so Jeff Halper.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich seit "Oslo 1995" die Zahl der SiedlerInnen im Westjordanland mehr als verdoppelt hat und ein zusammenhängendes palästinensisches Staatsgebiet nicht mehr möglich ist, scheint derzeit eine lange für möglich gehaltene Zwei-Staaten-Lösung, wie sie etwa in der "Genfer Initiative" von 2003 vorangetrieben worden war, nahezu ausgeschlossen.

Anerkennung des Staates Palästina
Während - wie aufgezeigt - die Möglichkeit der realen Schaffung eines Staates Palästina derzeit gegen Null tendiert, hat umgekehrt Palästina auf dem Weg der staatlichen Anerkennung international einige Fortschritte gemacht.

Im Jahre 1988 wurde der Staat Palästina in Algier vom damaligen Palästinensischen Nationalrat ausgerufen.  

Nach international verbindlichen Kriterien (Vertrag von Montevideo von 1933) muss ein Staat drei Kriterien der Staatlichkeit erfüllen: 1. Territorium, 2. Volk, 3. Regierung.

Nachdem mit dem Gazastreifen und dem Westjordanland (zumindest in Teilen) ein Territorium schon länger vorhanden ist, es zweifellos auch ein palästinensisches Volk gibt, brauchte die Erfüllung des dritten Kriteriums am längsten. Erst im Jahre 2011 bescheinigten EU, Weltbank und Internationaler Währungsfonds, dass Palästina über eine funktionsfähige Regierung verfügt.

Am 23. November 2011 stellte Präsident Abbas, dessen Amtszeit abgelaufen ist und der derzeit als Vorsitzender der PLO agiert, einen Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationen (UN). Dieser Antrag auf Vollmitgliedschaft läuft noch, von den 15 Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates werden neun Stimmen für die Annahme des Antrages gebraucht, es darf keine einzige Veto-Stimme geben. Da die US-Regierung ein Veto angekündigt hat, befindet sich aktuell der Prozess in einer politischen Sackgasse. Erst nach einem positiven Beschluss des Sicherheitsrates gibt dieser eine Empfehlung an die UN-Vollversammlung zur Aufnahme.

In der UN-Vollversammlung erklärten aktuell rund 130 Staaten Palästina als Staat anzuerkennen, eine Zweidrittelmehrheit wäre somit bei einer Abstimmung gegeben. Die Bundesregierung hat Anfang 2012 die "Generaldelegation Palästinas" in Berlin in "Diplomatische Mission Palästinas" aufgewertet: Salah Abdel Shafi darf sich seither offiziell "Botschafter" nennen.

Zur Ein-Staat-Lösung
Da israelische Regierungen seit 1967 eine Zweistaatenlösung konsequent durch Siedlungsbauten verunmöglichen, bleibt vermutlich in Zukunft nur eine Ein-Staat-Lösung. Innerhalb einer Generation könnte die Gesamtzahl der PalästinenserInnen im Gazastreifen, in der Westbank und die rund 20-prozentige palästinensische Minderheit mit einem israelischen Pass in Israel die Zahl der jüdischen Israelis aufgrund der höheren Geburtenrate übersteigen. Dass beide Konfliktparteien prinzipiell in Frieden miteinander leben können, beweist seit mehreren Jahrzehnten als ein Beispiel das gemeinsame israelisch-palästinensische Dorf Neve Shalom/Wahat al-Salam (Oase des Friedens).

Auf der Grundlage der beschriebenen demographischen Verhältnisse würde bei einer Ein-Staat-Lösung nicht nur der jüdische Charakter des Staates Israel verloren gehen, sondern die palästinensische Seite bei Wahlen in einem überschaubaren Zeitraum die Regierung stellen. Dieses Szenario will verständlicherweise die israelische Regierung unter allen Umständen vermeiden, hat sich allerdings selbst durch ihre Siedlungspolitik in eine doppelte Sackgasse gebracht: Eine Räumung von Siedlungen im Zuge einer Zwei-Staatenlösung würde zu einem innerisraelischen Bürgerkrieg führen, eine Ein-Staat-Lösung zur Aufgabe der bisherigen Grundlagen des jüdischen Staates.

Gemäß der aktuellen Kräfteverhältnisse des Konfliktes würde die Ein-Staat-Lösung derzeit eher in Richtung "Apartheid-Staat" tendieren als zur Variante eines binationalen Staates mit zwei gleichberechtigten Bevölkerungsteilen mit gleichen demokratischen Bürgerrechten.

Alternativen jenseits der Zweistaaten- oder Ein-Staat-Lösung
Möglicherweise liegen gangbare Lösungen, die ein einigermaßen befriedigendes Maß an Perspektiven für beide Konfliktparteien enthalten, jenseits der gängigen Denkvorstellungen wie Zweistaaten- oder Ein-Staat-Lösung.

  • Das föderale Bundesmodell von "Federation of Israel-Palestine"
    Die Gruppe "Federation of Israel-Palestine", eine zivilgesellschaftliche Gruppe von Palästinensern und Israelis, die sich auf neue mögliche Ideen zur Lösung des Konflikts konzentriert, unterstützt ein föderales Bundesmodell. "Im vergangenen Jahr plante die Gruppe, symbolische Wahlen für 300 Bezirke in Israel und Palästina abzuhalten und so eine dritte, die „Bundesregierung“ eben, zu bilden. Palästinensische Anti-Normalisierungsgegner verhinderten dies jedoch – was auch die Schwierigkeit deutlich macht, alternative Ideen auf breiterer Basis einzuführen" (1).
  • Parallel-States-Project der Lund-Universität
    Israelische und palästinensische Akademiker, die an der schwedischen Lund-Universität geforscht haben, bringen eine zunächst utopisch klingende Variante in die Diskussion. In ihrem  "Parellel-States-Project" schlagen sie zur Lösung des Jahrhundert-Konflikts zwei parallele Staatsstrukturen auf einem gemeinsamen Territorium vor. Diesem Ansatz zufolge gäbe es zwei Staaten, Israel und Palästina, mit jeweils eigenen Pässen, eigenen Flaggen, eigenen Nationalhymnen, allen Symbolen und Äußerlichkeiten der beiden Staaten - mit der weltweit einzigartigen Variante: einem gemeinsamen Territorium. Beide Regierungen von beiden Parallelstaaten, die auf nationaler Identität beruhen, würden die Bereiche Religion, Kultur und Nationalität ihrer Bürger unabhängig von deren Wohnort verwalten und zusammen die Bereiche Sicherheit, Infrastruktur und andere gemeinsame Belange koordinieren.

Auf Grundlage der Wasser-Situation, der Arbeitsmarktlage und zahlreicher anderer Faktoren wäre eine solche derzeit noch unrealistisch erscheinende Lösung vorstellbar und könnte für beide Seiten zu einer Gewinner-Gewinner-Lösung führen. Noch scheint die Zeit nicht reif dafür - was sich allerdings sehr bald ändern könnte. Der vor nicht allzu langer Zeit noch nicht für möglich gehaltene Verzicht sowohl der Führungen von Fatah und Hamas auf militärische Gewalt und die Verfolgung ihrer Ziele mit Mitteln des ausschließlich gewaltfreien Widerstandes ermöglichen auch für die israelische Seite neue Perspektiven.

Ein-Staat-Vorschlag von Sari Nusseibeh
Noch einen Schritt weiter als die Nahost-ForscherInnen der Lund-Universität geht Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem, von 2001 bis 2002 Statthalter der PLO in Jerusalem, in seinem jüngst erschienenen Buch "Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost", München 2012: "Wir müssen die gegenwärtige Realität neu zeichnen, um sowohl der palästinensischen als auch der israelischen Öffentlichkeit eine alternative Vision der Zukunft zu liefern, die so überwältigend ist, dass die Bedeutung des heutigen politischen Gerangels verblasst" (S.164). Dazu stellt Sari Nusseibeh grundlegende Fragen wie: "Wozu sind Staaten gut?"
Auf Seite 16f schreibt er: "Als Gedankenexperiment möchte ich eine Maßnahme vorschlagen, die so anstößig ist, dass sie zu ihrer eigenen Aufhebung führen könnte, ... In diesem Sinne schlage ich vor, dass Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser in dem so vergrößerten Israel akzeptiert, dass dieser Staat jüdisch bleibt und sie im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht politischen Rechte erhalten. Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational, und es würde für das Wohl aller Araber in diesem Land gesorgt. Angesichts der Forderung Israels, als jüdischer Staat anerkannt zu werden, und so lange es sich weigert, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft zu gewähren, sind die vollen Bürgerrechte, wenn auch ohne aktives und passives Wahlrecht, deren beste Option - sie könnten dann die bürgerlichen Vorteile der de facto Ein-Staaten-Lösung genießen, ohne beschuldigt zu werden, die Jüdischkeit des Staates zu verwässern oder zu 'besudeln'. Auf jeden Fall würde es ihnen unter solchen Bedingungen weitaus besser gehen als in den vierzig Jahren Okkupation oder in einem anderen denkbaren Szenario: der israelischen Hegemonie über verstreute, 'autonome' palästinensische Enklaven."
Sari Nusseibeh beendet sein visionär-revolutionäres Buch im Geiste Gandhis mit den Sätzen: "Am Ende des Prozesses oder auf halber Strecke könnte die Palästinensische Autonomiebehörde der politische Fixpunkt aller Palästinenser und damit in einer föderalistischen Zukunft der gleichwertige Partner des israelischen Staats sein. Doch wie auch immer das 'Endspiel' am Schluss gestaltet werden wird, sollte man sich tunlichst daran erinnern, dass jegliche Partnerschaft dieser Art auf den komplementären Prinzipien von Freiheit und Gleichheit beruhen muss, das heißt, auf dem Prinzip, dass beide Seiten den Freiraum erhalten, ihr Entwicklungspotenzial auszuschöpfen, ohne dass das Entwicklungspotenzial des Partners beschnitten wird. Erst wenn sich dieses (zweiseitige) Prinzip durchsetzt, kann man sicher sein, Gerechtigkeit in ihrer unter den herrschenden Bedingungen bestmöglichen Form erreicht zu haben."

Anmerkung
1 http://www.audiatur-online.ch/2012/06/06/jenseits-der-zwei-staaten-loesung/

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege
Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.