Erinnerungen an die Anfänge des FriedensForums - 1989/90

Jubiläum: 35 Jahre FriedensForum (1989 – 2024)

von Martin Singe
Schwerpunkt
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Vor 35 Jahren erschien im Juni/Juli 1989 das erste Heft des „FriedensForums“ als Ausgabe 4/89. Es schloss sich nahtlos an die vorangegangenen Ausgaben des Rundbriefes des Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung (KA) an, der zunächst in unregelmäßigen Abständen bzw. seit Beginn 1983 vierteljährlich, später ca. alle zwei Monate als reguläre Zeitschrift veröffentlicht wurde. Das Netzwerk-Büro hat dankenswerterweise alle Zeitschriften, auch die ersten Rundbriefe des KA, seit 1983 digital erfasst – eine Relektüre der Ausgaben aus dieser Zeit ist empfehlenswert. (1)

Die KA-Rundbrief-Redaktion bestand 1989 aus drei Personen, Gregor Witt, Christine Schweitzer und Martin Singe, die zunächst auch die Redaktion des FriedensForums bildeten. Bis heute arbeiten die beiden Letztgenannten in der Redaktion des FriedensForums (ein Überalterungsproblem oder ein schönes Zeichen für Kontinuität? Oder gar beides?). Der „Rundbrief“ wurde bis 1989 in Verantwortung des KA veröffentlicht, ebenso wie die ersten Ausgaben des FriedensForums bis Heft 1/90. Ab Heft 2/90 erschien das FriedensForum dann in Kooperation mit dem neu gegründeten „Netzwerk Friedenskooperative“, das nach der KA-Auflösung im Dezember 1989 entstanden war, sowie dem „Förderverein Frieden“.

Der KA ist bei vielen in Erinnerung als Organisator der Großdemos mit jeweils über 300.000 Menschen gegen die „Nachrüstung“ im Bonner Hofgarten 1981 und 1983 sowie der Demo auf der Bonn-Beueler Seite anlässlich des Besuches von Reagan im Sommer 1982. Seltener erinnert werden die Aktivitäten in den Jahren danach, wie die Großdemo 1986 am Stationierungsort der Cruise Missiles im Hunsrück mit über 100.000 Menschen oder die erneute Großdemo im Hofgarten 1987, als Kohl mit dem Beharren auf Nicht-Einbeziehung der Pershing I-a-Atomraketen in die Genfer Verhandlungen den möglichen INF- Abrüstungsvertrag für die Mittelstreckenraketen (Pershing IIA, Cruise Missiles sowie SS20) zunächst gefährdete. Zwischendurch gab es u.a. den „Friedensherbst 1984“ mit verschiedenen Themen und Aktionen sowie 1985 eine größere Aktion am NATO-Bunker in Linnich.

1989/90 gerieten mit den Umbrüchen im Osten, dem Mauerfall im November 1989 und schließlich mit der Auflösung des Warschauer Paktes im März (militärisch) bzw. Juli 1991 (politisch) alte Gewissheiten, Überzeugungen und Trennlinien ins Wanken. Große Chancen taten sich auf für ein ganz neues Miteinander und Vereinbarungen gemeinsamer Sicherheit zwischen West und Ost. Aber auch verhängnisvolle Entwicklungen zu neuen Trennlinien warfen ihre Schatten voraus. Das FriedensForum 1/90 hatte den Schwerpunkt „Europa – grenzenlos friedlich?“ gewählt, in dem die Hoffnungen dieser echten Zeitenwende zum Ausdruck kamen. Etliche Artikel beschäftigten sich mit der Zukunft von DDR und BRD, der Blockauflösung und Entmilitarisierung der deutschen Staaten, den Fragen zu einem Bau des Gemeinsamen Hauses Europa. Perestroika und Glasnost unter Gorbatschow hatten viele Hoffnungen geweckt. In den Rundbriefen von 1989 gab es u.a. auch einen Schwerpunkt „Sowjetunion“, und im Mai 1989 wurde eine deutsch-sowjetische Friedenswoche veranstaltet. Begegnungen zwischen westlichen und östlichen Friedensgruppen wurden gesucht, um an Friedensideen und -projekten „von unten“ zu arbeiten, aber auch um Szenarien künftig möglicher friedenspolitischer Entwicklungen auf internationaler Ebene zu entwerfen. In Sachen weiterer Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses waren die Würfel ja noch lange nicht gefallen.

Konkrete Kampagnen der Friedensbewegung gab es ebenfalls in diesen Zeiten – mit inhaltlich weiten Spannbreiten. So sammelte z.B. die BoA-Kampagne massenhaft Unterschriften für eine „Bundesrepublik ohne Armee“, sicher damals – bzw. bis heute – die radikalste und konsequenteste auf Deutschland bezogene Forderung der Friedensbewegung. Andererseits gab es – trotz des INF-Vertrages zur Abrüstung der atomaren Mittelstreckenraketen von 1987 – Modernisierungspläne der USA für die taktischen Atomwaffen in der Bundesrepublik (Artillerie, Lance- und Honest-Raketen) sowie Pläne für die Stationierung neuer see- bzw. luftgestützter Atomwaffen. Hiergegen wendete sich die Bewegung mit einer „Veto-Kampagne“ gegen neue nukleare Modernisierung bzw. Aufrüstung.

Die Artikel der Ausgaben von Ende 1989 und von 1990 beschäftigten sich immer wieder mit Fragen der Zukunft der beiden deutschen Staaten. Wie sollte es weitergehen? Ein gemeinsamer Bund, ein Vertrag zwischen zwei eigenständigen Staaten, eine Vereinigung, Blockfreiheit und Austritt aus der NATO? Viele Treffen und Diskussionen von Friedensgruppen aus Ost und West fanden statt. Die vielen verschiedenen Friedens-, Demokratie- und Menschenrechts-Gruppen der DDR, die die friedliche Revolution und Ablösung des alten Regimes erreicht hatten, forderten selbstbewusst demokratische Reformen, Freiheit und Selbstbestimmung. Als sich eine Einigung beider Staaten abzeichnete, wurde zumindest noch eine Verfassungsdebatte gefordert, um eine gemeinsame neue Staatsgründung und Staatszielebestimmung vornehmen zu können. Doch alles kam anders, mit wahnsinniger Geschwindigkeit wurde die DDR „kohlonialisiert“ und wirtschaftlich und politisch in die BRD einverleibt – ohne jegliche ernsthafte Verfassungsdebatte.

In der Umbruch-Zeit zwischen November 1989 und Anfang 1990 wurden vom Westen – u.a. von US-Außenminister Baker und von Genscher – Gorbatschow und der Sowjetunion gegenüber die heute hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit umstrittenen Zusagen gemacht, dass sich die NATO keinen Zentimeter nach Osten ausweiten würde. Jedoch wurde die Chance zum Bau eines Gemeinsamen Hauses Europa, einer kooperativen Sicherheitsarchitektur, einer „Partnerschaft für den Frieden“ unter Einbeziehung der Sowjetunion/Russlands Anfang/Mitte der 1990er Jahre dann leichtfertig verspielt. Fehler wurden auf beiden Seiten gemacht, aber die Einbeziehung der gesamten mit der DDR vereinigten BRD in die NATO und dann die extensive NATO-Osterweiterung unter Ausschluss Russlands waren sicherlich die gravierendsten Fehlentscheidungen des Westens, durch die eine wirklich gesamteuropäische Friedensordnung verbaut wurde. Neue Ost-West-Konfrontation, Kündigung von Rüstungsbegrenzungsverträgen und neue auch atomare Aufrüstungen waren die Folgen. Die langfristigen Auswirkungen der damaligen fatalen politischen Weichenstellungen sehen wir heute u.a. im Krieg in der Ukraine, der bei Aufbau eines echten Gemeinsamen Hauses Europa hätte vermieden werden können.

Anmerkung
1 Erste Ausgabe Rundbrief: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/ausgaben?page=23

Ausgabe

Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".