KDV und Desertion in den Balkan-Staaten

von Christof Tannert
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Die verschiedenen Kriege im ehemaligen Jugoslawien seit 1991 haben insgesamt über 200.000 Menschen das Leben gekostet, noch mehr zu Krüppeln gemacht, Millionen von Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben und gesamte Landstriche in der wirtschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen. Sie haben aber auch das Selbstverständnis und die Rolle mehrerer supranationaler Organisationen in Frage gestellt.

Vor allem haben sie den Regierungen der Welt und vielen einfachen Bürgern die Frage gestellt, was erlaubt ist, um einen Völkermord zu beenden. Viele junge Leute in den betroffenen Staaten stellten sich aber weniger diese Frage, sondern beantworteten sie für sich durch entschlossenes und mutiges Handeln: über 200.000 junge Männer aus Jugoslawien, Bosnien und Kroatien flohen während des Krieges außer Landes, um der Einberufung zu entgehen und so nicht an dem Töten und Morden anderer Menschen teilnehmen zu müssen. Sie riskierten dabei hohe Strafen, und in manchen Fällen war diese Entscheidung auch für sie tödlich. Manche wurden als Deserteure von Standgerichten erschossen.

Im sicheren Ausland angekommen, war es besser für diese Flüchtlinge, den Grund für ihre Flucht zu verschweigen, denn hier, in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sind Desertion und Kriegsdienstverweigerung kein Asylgrund. Flüchtlinge, die sich als Deserteure und Kriegsdienstverweigerer ausgaben, konnten nicht legal in die Staaten der EU gelangen und erhielten auch kein Asyl. Sie wurden oftmals wieder abgeschoben, in die Arme jener Behörden, die sie zum Töten zwangen.
 

Verbunden mit dem Protest gegen diese Art Politik forderte das Europäische Parlament schon 1993 "alle Mitgliedstaaten auf, durch die Unterstützung von Desertion und Militärdienstverweigerung die militärische Macht der Aggressoren im früheren Jugoslawien zu schwächen und klar zu machen, dass sie Deserteuren und Militärdienstverweigerern aus Aggressorenstaaten Asyl gewähren werden".

Die Forderungen dieser Entschließung des Europäischen Parlaments sollten von den Mitgliedstaaten nun endlich umgesetzt werden. Nötig wäre, dass jeder Kriegsdienstverweigerer und Deserteur in den Staaten der EU Asyl erhält und darüber hinaus Regierungen anfangen, Soldaten kriegführender Staaten zum Desertieren aufzufordern, ja dafür zu belohnen. Die Regierungen sollten ein Programm auflegen, das den Deserteuren den Beginn einer neuen wirtschaftlichen Existenz ermöglicht und sie auf ihre Rückkehr und zum Aufbau einer zivilen und demokratischen Gesellschaft vorbereitet. Wenn 50.000 Deserteure aus Jugoslawien dafür je 5.000 Euro erhielten, so würde diese Art Demobilisierung 250 Millionen Euro erfordern. Der aktuelle Einsatz der Bundeswehr wird vorsichtigen Schätzungen zur Folge das Dreifache kosten. Aufrufe zur Desertion wurden in der Vergangenheit sehr wohl praktiziert: die Alliierten haben im 2. Weltkrieg deutsche Soldaten an allen Fronten zum Desertieren aufgerufen. Solidarität, moralische und materielle Unterstützung für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, die der Verfolgung ausgesetzt sind, ist ein Gebot der Menschlichkeit, aber auch eine politische Tat, die für den Frieden in Europa eine wichtige Rolle spielen kann.

Nur wenn genaue Informationen und Erfahrungen über die Möglichkeit junger Wehrpflichtiger vorliegen, ihr Recht auf Kriegsdienstverweigerung wahrzunehmen, kann eine sachliche Diskussion über die Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren als Asylsuchende geführt werden.

Eine 1998 in der 3. aktualisierten Fassung in Broschürenform unter dem Titel "Das Menschenrecht Kriegsdienstverweigerung und das Europäische Parlament" vorgelegte Studie umfasst die folgenden Länder: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Jugoslawien, Kroatien und Mazedonien.

Zu jedem dieser Länder ist ein Kapitel in der Studie enthalten. Dieses ist in drei Abschnitte aufgeteilt. Der erste Abschnitt enthält allgemeine Informationen über die jüngere Geschichte des einzelnen Landes. Auch manche innen- und außenpolitische Aspekte, die die Situation der Kriegsdienstverweigerer erklären können, werden kurz angesprochen.

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der Armee und dem Wehrdienst. Armeestärke und Grunddaten wie z.B. das Alter der Wehrpflichtigen stellen wichtige Informationen dar. Dieser Abschnitt legt auch einen kurzen Rückblick auf die Entwicklungen der letzten Jahre vor, beschreibt die aktuelle Situation und wagt einen Blick in die Zukunft.
 

Im dritten Abschnitt schließlich wird auf das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und den Zivildienst eingegangen. Auch hier werden zuerst die Grundlagen und die Situation beschrieben, wie sie sich laut Gesetzen und Bestimmungen darstellen. Dann wird die Geschichte und aktuelle Situation, die oftmals von der von offizieller Seite beschriebenen abweicht, erläutert und auf Diskussionen und Entwicklungen eingegangen. Abschließend wiederum ein kurzer Blick in die Zukunft.

An alle Kapitel schließen sich die Adressen derjenigen Organisationen und Institutionen an, die Informationen geliefert haben. Es wurde durch die Versendung von Fragebögen an sowohl Nichtregierungsorganisationen (NRO) als auch an die jeweiligen staatlichen Stellen und deutschen Botschaften versucht, ein möglichst hohes Maß an Objektivität zu erreichen. Letztlich lieferten die staatlichen Stellen in den Ländern entweder sehr wenige und schwammige Informationen oder weigerten sich sogar, Informationen bekanntzugeben.

Zusammenfassung:

  •  In allen untersuchten Staaten existiert das Recht  auf Kriegsdienstverweigerung wenigstens auf dem Papier.
  •  In allen untersuchten Staaten existieren mehr oder weniger große Probleme bei der Wahrnehmung bzw.  Durchführung des Rechtes auf  Kriegsdienstverweigerung. Eine Wertung abzugeben, in welchen Ländern die gravierendsten Mängel zu  verzeichnen sind und wo die wenigsten, ist schwierig. Es entstand jedoch der Eindruck, dass es die albanische Regierung am ehrlichsten mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung meint.
  •  In allen untersuchten Staaten ist die Einführung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung nicht auf lokalen Druck oder lokale Initiativen zurückzuführen, sondern wurde meistens durch das Engagement internationaler Organisationen oder aufgrund internationalen Drucks eingeführt.
  •  In allen untersuchten Staaten mit der Ausnahme von  Mazedonien haben in den letzten Jahren Auseinandersetzungen stattgefunden und sind Soldaten desertiert bzw. haben Wehrpflichtige den Dienst an der Waffe verweigert.
  •  In keinem der Staaten der EU ist Desertion oder Kriegsdienstverweigerung als Asylgrund anerkannt.

Ich hoffe, dass diese Studie ein nützlicher Beitrag zur Diskussion über das Thema im Zusammenhang mit der Situation in den Staaten des westlichen Balkans ist.

Die vollständige Studie ist im Internet abrufbar: http://www.christof-tannert.de/kdv-studie/kdv-balkan.htm

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Krisen und Kriege
Christof Tannert war bis Juli 1999 Mitglied des Europäischen Parla/FONT><