Südchinesisches Meer

Kleine Inseln, großer Streit

von Karl Grobe

Von Europa aus sieht das Bündel der Konflikte in Südostasien klein aus. Streit um ein paar unbewohnte Inselgruppen, um deren Beherrschung sich ein halbes Dutzend Anrainerstaaten raufen, und das eher verbal als handgreiflich – in das Bewusstsein der EU-BürgerInnen dringt das alles nicht recht vor. Die Konflikte haben jedoch das Potential, militärisch zu eskalieren.

Umstritten sind zwei Inselgruppen, Spratly und Paracel. Die Spratly-Inseln (chinesisch: Nansha) umfassenüber 500 Inseln, Inselgruppen, Riffe, Sandbänke und Atolle im Südchinesischen Meer. Sie sind zum großen Teil tideabhängig, d.h. sie reichen nur bei Ebbe über den Meeresspiegel, und keine erreicht Höhen von mehr als fünf Meter über Normalnull. Vom Festland ist diese Inselgruppe, die sich über tausend Kilometer in nord-südlicher und 800 Kilometer ost-westlich erstreckt, weit entfernt. Die jeweils nächstgelegene Insel ist von Vietnam ungefähr 420 km entfernt, von Malaysia 160 km, von den Philippinen 80 km, von der Volksrepublik China 900 km und von Taiwan über 1300 km.

Spratley-Inseln
Erst in den siebziger Jahren sind diese Atolle und Sandbänke dauerhaftes Streitobjekt geworden. Erdöl und Erdgas sind gefunden worden oder werden unter dem Meeresboden vermutet – einzelne Öl-Multis haben sich bereits seit zwanzig Jahren Forschungs- und Förderrechte von einem oder mehreren Anliegerstaaten zusichern lassen –, und die wichtigste Schifffahrtsroute der Erde verläuft in unmittelbarer Nähe. Hier werden rund 35 Prozent des Welt-Handelsverkehrs transportiert – Erdöltanker und Erzfrachter für das rohstoffarme Japan, Riesen-Containerschiffe mit Autos, Elektronik, Textilien aus Japan, China und Südkorea. Und die Fischerei ist nicht unbedeutend. Chinas Marinechef, Wu Shengli, hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass bereits ein „kleinerer Zwischenfall Krieg auslösen“ könne. „Hier handelt es sich um den allerwichtigsten Seeweg der Welt“, weiß auch Kurt Campbell, Vordenker der Asien-Politik Obamas.

China beansprucht die Oberhoheit über den Archipel und beruft sich auf sechshundert Jahre alte, nie erloschene Rechte. 1947 legte die Republik China, noch beherrscht von Tschiang Kaischeks Kuomintang-Partei, eine Karte vor, auf der mit neun Strichen das gesamte Südchinesische Meer als Hoheitsgebiet der Republik umgrenzt war. Taiwan (Fortsetzer der Republik) und die Volksrepublik China halten an dieser Version fest; weder China noch Taiwan anerkennen das Urteil des Ständigen Schiedsgerichtshofs in Den Haag vom Juli 2016, der eben diese Ansprüche zurückwies – auf Antrag der Philippinen. Die Faktenlage hat sich nicht geändert.
Taiwan – die Republik China – kontrolliert die größte der Spratly-Inseln, Aba, die immerhin 450 x 275 Meter groß ist.
Die Volksrepublik China hat seit 1988 sieben Inseln besetzt, dort militärische Vorposten eingerichtet, Leuchttürme, Flugplätze und Hubschrauber-Landeplätze gebaut und durch Aufspülungen und Uferbefestigungen diese Inseln erheblich erweitert. „Nach amerikanischen Angaben übersteigt die flächenmäßige Ausdehnung der chinesischen Bautätigkeit in den vergangenen zwei bis drei Jahren alles, was andere Anrainer, wie etwa Vietnam, über Jahrzehnte im Südchinesischen Meer errichtet haben, um ihre territorialen Ansprüche zu untermauern“, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung im Juli 2016.

Vietnam hat derzeit 21 dieser Inselchen unter Kontrolle und unterhält dort 33 oder 34 Vorposten, in denen Militärs stationiert sind. Um die Dimensionen klarzumachen: Nur elf dieser Eilande haben eine Strandlänge von über 100 Metern. Die Philippinen beanspruchen neun oder zehn Objekte; feste Bauten haben sie dort nicht errichtet, verweisen aber darauf, dass manche Inseln innerhalb der internationalen 200-Meilen-Wirtschaftszone liegen. Worauf das Schiedsgericht in Den Haag dann auch zurückkam. Zu erwähnen sind noch die fünf bis sieben Atolle und Riffe, die Malaysia beansprucht, und die Forderung von Brunei nach Herrschaft über ein Objekt, das aber auch Malaysia als sein eigen betrachtet.

Paracel-Inseln
Innerhalb der Neun-Striche-Linie der Seekarte von 1947 liegen auch die Paracel-Inseln (chinesisch: Xisha). Die rund 130 Koralleninseln und Sandbänke liegen rund 400 Kilometer östlich der vietnamesischen Küste und etwa 350 Kilometer südlich der chinesischen Insel Hainan. Hier streiten China, Taiwan und Vietnam. Die Geschichte ist verworren genug, aber übersichtlicher als die der Spratlys. 1932 annektierte Frankreich den Archipel und gliederte ihn Französisch-Indochina ein. 1939 besetzte Japan den Archipel, verzichtete aber im Vertrag von San Francisco 1951 darauf. Vorher – 1947 – landeten chinesische Einheiten auf der größten Insel. Während der ganzen Zeit wurde eine Wetterstation weiter betrieben – von Französisch-Indochina und später von Vietnam. Das untergehende südvietnamesische Regime versuchte 1974, die Inselgruppe militärisch zu erobern, verlor die Seeschlacht jedoch. Es war der erste kriegerische Zusammenstoß beider Staaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der erste, in dem nicht nationalistische, sondern ökonomische Motive entschieden: Bei den Paracel-Inseln war tatsächlich Erdöl entdeckt worden, und die ersten Konzessionen waren zu vergeben.

 

Fokus: China
Unterdessen schaukeln sich die bisher fast ausschließlich regionalen Konflikte auf, als wäre dies nicht genug an Interessengegensätzen, in denen jeder gegen jeden anderen steht. Das Dilemma, das allen südostasiatischen Staaten gemeinsam ist, lautet: Sie wünschen und brauchen die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China, suchen gleichzeitig aber nach militärischem Schutz. So hat die parteieigene Pekinger Zeitung Global Times die Situation vor sieben Jahren treffend beschrieben. Seit zehn Jahren sind auch die USA unmittelbar involviert, seit nämlich Außenministerin Hillary Clinton im Juli 2010 den zehn regional direkt beteiligten Staaten der Asean-Gemeinschaft versicherte, auch für Washington sei die Kontrolle über die Schifffahrt (oder, wie es traditionell heißt, die Freiheit der Meere) von strategischem Interesse. Die Äußerung der US-Außenministerin reflektierte nicht nur die Wende der Washingtoner Politik in Richtung auf Asien (Barack Obamas „Pivot on Asia“). Sie war auch als Signal gegen China gedacht.

China, das keineswegs auf seine historischen Ansprüche zu verzichten gedenkt, hat sich bisher an die Einsicht Deng Xiaopings gehalten, dass dies Konflikt-Bündel zu verknäuelt sei, um es (wie den Gordischen Knoten, den Alexander der Große mit dem Schwert zerteilte) gewaltsam zu lösen. In zwei bis drei Generationen sei wohl eine diplomatische Lösung möglich. Das hat offenbar Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping, nebenbei auch Oberkommandierender, dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump so dargestellt.

Doch während Xi bei Trump in Florida war, verkündete der philippinische Präsident Rodrigo Duterte, er habe Truppen zum Schutz – vor wem? China? – unbewohnter philippinischer Inseln entsandt. Zugleich kursieren Satellitenaufnahmen eines chinesischen Kampfjets auf einer der Inseln, die Peking für seine Armee hatte ausbauen lassen. „Wir können sie nicht aufhalten, sie bauen die Inseln dort aus in der Überzeugung, dass dies ihre seien. China wird (dafür) in den Krieg ziehen“, hatte Duterte gewarnt. Aber er begrüßte zwei Wochen später einen chinesischen Flottenbesuch in Davao, seine Regierung äußerte öffentliche Kritik an internationalen Kommentaren über die angebliche Militarisierung des Inselkonflikts durch China, und Duterte deutete gemeinsame chinesisch-philippinische Marinemanöver an.

Drohgebärden
Der Ausbau chinesischer Seemacht beunruhigt die Staatsführer der Region; im April dieses Jahres lief Chinas erster Flugzeugträger vom Stapel, der Bau des nächsten wurde angekündigt. Operationsgebiet: das Südchinesische Meer. Nur bleibt es vielleicht nicht dabei. Seemacht gilt es auch in einem Streitfall mit Japan zu demonstrieren, der Auseinandersetzung um die Senkaku-Inseln, die von China und Taiwan unter dem Namen Diaoyu beansprucht werden. Zwischen 1890 und 1940 unterhielt ein japanischer Geschäftsmann dort eine Fischverarbeitungsfabrik, im Übrigen waren die Inseln unbewohnt. Ihre Inbesitznahme durch Japan im Zusammenhang mit den Eroberungskriegen gegen China nach 1894 war eigentlich durch den San-Francisco-Vertrag von 1951 kassiert (im Zusammenhang mit der Rückgabe Taiwans an China), worauf die Regierungen sowohl Peking als auch in Taipeh pochen, Fischerboote auffahren und von kleineren Kriegsschiffen eskortieren lassen. Aus Japan kommen andererseits Nationalisten, hissen die japanische Flagge und lassen sich von der „Selbstverteidigungsmarine“ schützen. Als ein Nachfahr des Fisch-Verarbeiters dem japanischen Staat drei der sechs kleinen Inseln zum Kauf anbot, erweiterte China umgehend seine Luftverteidigungszone um dieses Gebiet. Die üblichen Flottendemonstrationen werden von den Beteiligten fortgesetzt.

Es wäre vielleicht ein kleineres Problem, betriebe Japans Regierungschef nicht eine auf Großmachtstatus gerichtete Politik (neue Militärdoktrin vom September 2015, die den pazifistischen Grundgedanken des Verfassungsartikels 9 umgeht), die Abe ausdrücklich als „unvermeidliche Antwort auf eine wachsende Militärmacht Chinas“ kennzeichnet ­– und wären da nicht die USA kraft „Pivot on Asia“ und den Sicherheitspakt von 1960 mit Japan mit im Spiel. Unter einem Präsidenten, der berechenbare Außenpolitik betreibt, Risiken abwägt und die Interessen der USA, ob berechtigt oder nicht, vorzugsweise mit zivilen, diplomatischen Mitteln vertritt, ist Washington seit dem Vietnamkrieg in der Region eher ein Friedensgarant gewesen. Von der Trump-Administration kann man das nicht erwarten.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.