Neuerscheinung im Berghof-Friedensforschungsinstitut

Konflikt als System verstehen

von Christine Schweitzer

Zivile Konfliktbearbeitung ist keine einfache Aufgabe. Trotz des enormen Anwachsens des Methodenrepertoires in den vergangenen zwanzig Jahren herrschen bei Konfliktanalyse wie bei der Planung von Interventionen oftmals schlichte lineare Modelle vor: A ist die Ursache von B, oder: Wenn ich C tue, dann kommt D heraus. In Wirklichkeit sind Konflikte aber multidimensional, was eine Erklärung dafür ist, warum die ungeplanten Auswirkungen einer Intervention die geplanten oftmals an Zahl und Intensität übertreffen – mit einem Wort, warum viele Interventionen von nur so begrenzter Wirksamkeit sind. „Die Verbindungen zwischen Ursachen, intervenierenden Variablen und Folgen von Konfliktdynamiken sind immer noch bei Weitem unter-erforscht. In komplexen Konfliktszenarien kann es schwierig sein, zwischen Ursachen und Folgen zu unterscheiden, und die Grenzen zwischen beiden werden unscharf, wenn nicht sogar verschwommen. … Zum Beispiel kann das Ziel, die Taliban militärisch zu zerschlagen, wie es in Afghanistan nach dem 11. September geschah, als ein perfektes Beispiel dafür herhalten, wie nicht-systemisches Denken zugleich einen kurzsichtigen militärischen Sieg und eine politische Niederlage hervorbrachte. Systemisch analysiert, hat die Intervention, die Stabilität schaffen sollte, eine neue Regierung ins Amt gebracht, aber gleichzeitig dazu beigetragen, das Land und sogar die gesamte Region zu destabilisieren.“ (1)

Das private Berliner Berghof-Friedensforschungsinstitut (www.berghof-peacesupport.org) (2) hat vor einigen Jahren unter der Bezeichnung „systemischer Ansatz“ einen neuen Ansatz für die Konfliktanalyse und die Planung von Konfliktintervention beschrieben. Es geht Berghof dabei nicht darum, eine neue Schule der Konfliktbearbeitung zu gründen, sondern einen konzeptionellen Rahmen vorzuschlagen, der dabei helfen soll, die Komplexität und Dynamiken von lang andauernden Konflikten und von Friedensprozessen besser zu verstehen. Der systemische Ansatz ist dabei letztlich ein kognitiver Ansatz, d.h. es geht nicht um materielle Systeme, sondern darum, wie Akteure, d.h. Menschen, Konflikte wahrnehmen und wie sie darüber kommunizieren. Das Ergebnis sind höchst komplexe ‚Landkarten‘ von Elementen, die in einem Konflikt eine Rolle spielen, und wie diese miteinander verbunden sind. Für die Konfliktintervention ist entscheidend, die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen im System zu verstehen, wobei stets gilt: Das Ganze ist mehr als seine Teile. Ambivalenz und die Tatsache, dass unterschiedliche Akteure widersprechende Sichtweisen und Interpretationen des Konfliktes haben, sind wesentliche Elemente systemischen Denkens. Seine Basis hat der systemische Ansatz in der Systemtheorie, wie sie in der Psychotherapie, besonders bei Aufstellungen (man denke an Familienaufstellung), in der Kybernetik und der Organisationsberatung Anwendung findet. Auch in der Konfliktanalyse werden systemische Ansätze schon seit längerer Zeit angewendet, aber im Feld des Peacebuilding und der Konflikttransformation ist systemisches Denken verhältnismäßig neu. (3)

Berghof hat erstmals 2006 seine Ergebnisse in einer Studie zusammengefasst (4); jetzt ist unter dem Titel „The Non-Linearity of Peace Processes. Theory and Practice of Systemic Conflict Transformation“ eine zweite Aufsatzsammlung zu dem Thema erschienen, die einzelne Aspekte des systemischen Ansatzes weiter entwickelt und vertieft. Einer Einführung in das Thema von Daniele Körppen und Norbert Ropers folgen insgesamt 13 Aufsätze zum Konzept und zur Anwendung systemischen Denkens. Beispiele umfassen u.a. den Friedensprozess in Mozambique, den gescheiterten Friedensprozess in Sri Lanka, wo der frühere Direktor des Berghof-Instituts Norbert Ropers mehrere Jahre tätig war, und Israel-Palästina. Es ist unmöglich, den gesamten Inhalt des Buches angemessen zusammenzufassen. Stattdessen soll hier nur auf drei relevante Begriffe hingewiesen werden:

Peter T. Coleman und Kollegen stellen das Konzept von „attractors“ vor. Damit sind Denkweisen gemeint, die quasi als mächtige Schubladen für die Interpretation von Ereignissen dienen. In hoch eskalierten und lang anhaltenden Konflikten wird letztlich alles, was die Gegenseite tut, unter dem Rahmen dieses Konfliktes gesehen und entsprechend eingeordnet. Es wird grundsätzlich das Schlimmste angenommen, selbst ernst gemeinte Friedensangebote werden so als Täuschung oder Verrat interpretiert. Komplexität bricht zusammen, es gibt nur noch eine Deutung. Die Gefahr ist besonders groß, wenn die Konfliktparteien eine konfliktuelle Geschichte miteinander haben, so dass alte Interpretationsmuster wiederbelebt werden können. Einen solchen Konflikt zu bearbeiten, erfordert, die Dynamiken des Systems zu verändern. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, wobei es letztlich darum geht, einer neuen Interpretation des Konfliktes zur Dominanz zu verhelfen.

Oliver Ramsbotham beschreibt unter dem Begriff des Radikalen Widerspruchs (radical disagreement) “den Krieg der Worte”. Wie Konfliktparteien übereinander und über den Konflikt sprechen, wird gewöhnlich als schlichte Begleiterscheinung des Konflikts abgetan. Ramsbotham argumentiert anhand des Beispiels des israelisch-palästinensischen Konflikts demgegenüber, dass das Sprechen über den Konflikt ernstgenommen werden muss und zum Ansatz von Konfliktbearbeitung werden kann, nämlich wenn es gelingt, einen konstruktiven Dialog über strategische Sichtweisen (Blick in die Zukunft anstatt in die Vergangenheit) zu initiieren.

Ein dritter interessanter Begriff, der in dem systemischen Ansatz Anwendung findet, ist der des „Tetralemmas“. Dieser Begriff geht davon aus, dass es in jedem zweipoligen Konflikt grundsätzlich vier Möglichkeiten gibt, nicht nur zwei, wie der Begriff des Dilemmas es nahelegt: Position“A“, Position „B“, Position „A und B“ (Kompromiss) und „weder A noch B“. (Ropers, S. 160 f). Dies anzuerkennen, eröffnet den Blick auf die Komplexität des Konfliktsystems und mag gleichzeitig Hinweise auf mögliche Lösungen geben.

Die Publikation richtet sich in erster Linie an Jene, die, wie die Herausgeber, das Berghof Institut, Forschung und Reflektion mit Konfliktbearbeitung als externe Parteien verbinden. Davon gibt es insbesondere im englisch-sprachigen Raum eine große Zahl. Aber auch für „reine“ PraktikerInnen, besonders jene, die im Bereich von Dialogförderung oder Trainings tätig sind, dürften die hier vorgestellten Verfahren von Interesse sein. Wer sich nicht  vom Vorwort abschrecken lässt („In brief, systemic thinking as such is largely abour mobilising and utilising epistemology for ontology“, S. 7), wird feststellen, dass die Beiträge zwar anspruchsvoll, aber durchaus verständlich geschrieben sind. Die Publikation von 2006 zu kennen, ist für die Lektüre sicherlich hilfreich, weil es die allgemeine Grundlage für den systemischen Ansatz in der Konfliktbearbeitung legt, aber keine Bedingung. Wer in die Systemtheorie mit diesem neuen Werk ‚einsteigt‘, wird aber auch auf ihre oder seine Kosten kommen.

Anmerkungen
1) Körppen, Daniela; Ropers, Norbert und Giessmann, Hans J. (Hrsg.) (2011) The Non-Linearity of Peace Processes. Theory and Practice of Systemic Conflict Transformation. Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich, ISBN 978-3-86649-406-0, 274 S., PREIS? 33 € , S. 8, Übersetzung CS

2) Genaugenommen gibt es heute drei Institutionen unter dem Namen Berghof: die Berghof Foundation for Peace Support, das Berghof Conflict Research Centre und die Berghof Foundation.

3) Der systemische Ansatz ist u.a. eng verwandt mit dem Konflikt-Transformationsansatz von John Paul Lederach, der Transcend-Methode von Johan Galtung und dem Reflecting on Peace Practice Project von Mary Andersons Team.

4) Wils, Oliver; Hopp, Ulrike; Ropers, Norbert; Vimalarajah, Luxshi und  Zunzer, Wolfram(2006) The Systemic Approach to Conflict Transformation. Concepts and Field of Application. Berlin: Berghof Foundation for Peace Support. [Online] bei  http://www.berghof-peacesupport.org/publications/systemic_conflict_trans... [4.12.2008]

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.