Keiner kann gewinnen

Krieg gegen die Ukraine

von Otmar Steinbicker
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Die groß angekündigte ukrainische Gegenoffensive hat nach Einschätzung wichtiger Medien in den USA nicht zu einem Erfolg geführt. Während deutsche Medien überwiegend die Berichte der ukrainischen Regierung wiedergaben, wonach ihre Truppen hin und wieder wenige Quadratkilometer Land eroberten, hatte die „New York Times“ eigene Reporter vor Ort, die das Grauen dieses Stellungskrieges aus konkreter Beobachtung schilderten. Ihr Fazit: Die Ukraine verlor in der ersten Phase der Gegenoffensive mehr als 20 Prozent ihrer Panzer und Waffen. Seither agierten ihre Truppen vorsichtiger, versuchten weniger Vorstöße und konzentrierten sich vor allem auf das Abschießen von Artilleriegranaten. Zehntausende junge ukrainischer Soldaten seien gefallen und würden durch weniger gut ausgebildete oder ältere Soldaten ersetzt. (1)

Wie es auf russischer Seite aussieht, können westliche Journalist*innen nicht beobachten. Möglicherweise, so wird vermutet, hatten sie in letzter Zeit weniger Verluste, weil sie eher versuchten, ihre Stellungen zu halten, als weiteres Territorium auf breiter Front zu erobern. Verifizieren lässt sich das nicht.

Letztlich gibt es, so die Einschätzung der „New York Times“-Reporter von Mitte Juli, ein Patt. Das heißt, dass keine Seite siegen kann. Die konkreten Beobachtungen der Journalisten vor Ort bestätigen die Analyse der Rand Corporation vom Januar dieses Jahres. Dieser Think-Tank, der seit Jahrzehnten das Pentagon berät, war in einer 32 Seiten langen Studie zum Schluss gekommen, dass weder Russland noch die Ukraine den Krieg gewinnen können und daher irgendwann ein Waffenstillstand vereinbart werden müsse mit einer Grenzziehung entlang der Frontlinie. Das würde bedeuten, dass die Ukraine nicht nur die Krim, sondern auch die derzeit von Russland besetzten Gebiete im Osten und Süden abtreten müsse, das heißt etwa 20 Prozent ihres Territoriums von 1991. (2) Seit Erscheinen dieser Studie hat sich innerhalb des letzten halben Jahres die Frontlinie nicht signifikant verschoben. Nur die Zahl der Toten und Verwundeten auf beiden Seiten ist um Zehntausende gestiegen.

Auch US-Stabschef Mark Milley hatte bereits im November 2022 vor einem absehbaren Scheitern einer ukrainischen Gegenoffensive gewarnt und stattdessen zu Verhandlungen geraten. Sein Rat wurde von Präsident Biden in den Wind geschlagen. Am 27. Juli 2023 erinnerte die „Washington Post“ daran. (3)

Dass ein Krieg, der nicht gewonnen werden kann, ein verlorener Krieg ist, wissen wir aus 20 Jahren Afghanistankrieg. Dass aus einer solchen aussichtslosen Lage Konsequenzen zur Beendigung des Krieges gezogen werden, kann womöglich viele Jahre dauern.

Bis dahin bleiben Eskalationsrisiken: Der russische Beschuss von Odessa und ein mutmaßlicher ukrainischer Drohneneinsatz gegen Moskau in den letzten Tagen zeigen Richtungen auf, in die sich der Krieg weiterentwickeln kann, wenn er nicht beendet wird. Auch wenn es derzeit nicht so aussieht, dass es zum Extremfall, der von der Rand Corporation für möglich gehaltenen direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland bis hin zum Atomkrieg, kommt, so ist dennoch auch eine solche Entwicklung nicht völlig auszuschließen, solange der Krieg andauert.

Vonseiten der Bundesregierung ist bisher keine Bereitschaft zu erkennen, zu einem Kriegsende auf der von der Rand Corporation realistisch gezeichneten Linie beizutragen. In Berlin herrscht noch immer die Vorstellung, die Ukraine könne bei entsprechender Unterstützung mit Waffenlieferungen die russischen Truppen vollständig von ihrem Territorium vertreiben. Dass es sich dabei, wenn die Beobachtungen der „New York Times“-Reporter vom Patt an der Front zutreffen, um eine fatale Illusion handelt, die täglich neue Todesopfer fordert, wird offenbar nicht einmal in Erwägung gezogen.

Dass mittlerweile nicht nur die Ukraine und Russland von den Folgen des Krieges betroffen sind, sondern auch viele Länder des globalen Südens, sollte spätestens seit der russischen Aufkündigung des Getreideexport-Abkommens bekannt sein. Bei diesen Ländern dürfte jetzt China Punkte sammeln mit seiner Initiative im UNO-Sicherheitsrat für ein neues Getreideexport-Abkommen und seinen anhaltenden Bemühungen um eine diplomatische Verhandlungslösung zur Beendigung des Krieges. Die Bundesregierung blieb bei diesen Ländern mit ihren Versuchen, sie zu einer Positionierung gegen Russland zu bewegen, erfolglos.

Für ein Kriegsende ist jetzt die US-Regierung zuständig. Sie muss die Ukraine und die NATO-Verbündeten gegebenenfalls mit Druck davon überzeugen, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist und beendet werden muss. Dass ein nötiger Waffenstillstand keine durchdachte Friedenslösung darstellt, sondern entlang der Frontlinie am Tage der Verkündigung verläuft, versteht sich.

Anmerkungen
https://www.nytimes.com/2023/07/15/us/politics/ukraine-leopards-bradleys...
https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html
3 https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/07/26/ukraine-counteroffens...

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de