Buchbesprechung

Krieg im 21. Jahrhundert

von Christine Schweitzer
Hintergrund
Hintergrund

„Die Kriege der Gegenwart und der Zukunft lassen sich nur verstehen, wenn man die der Vergangenheit kennt und begreift, wenn man Krieg von anderen Gewaltformen unterscheiden kann, und wenn man sich der Vielfalt verschiedener Kriegstypen bewusst ist. Auch ohne ein Verständnis des Verhältnisses von Krieg und Politik sowie von Krieg und Gesellschaft wird man dem Phänomen nicht auf die Spur kommen.“ (S. 243) Mit diesen Sätzen umreißt der Friedensforscher Jochen Hippler, worum es ihm in seinem Werk „Krieg im 21. Jahrhundert“ geht. Es ist ein Anspruch, soviel sei vorweggenommen, den das Buch einlöst.

Jochen Hippler, vielen LeserInnen sicher noch als Professor am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) in Essen-Duisburg bekannt, ist seit 2019 Länderdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Pakistan. „Krieg im 21. Jahrhundert“ ist mehr, als der Titel verspricht: Es ist eine Geschichte des Krieges von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart. Es ist eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kriegsformen, enthält den Stand des Wissens über die verschiedenen Massenvernichtungswaffen, und es ist ein Abriss wichtiger Kriege der Gegenwart, vor allem denen im Nahen und Mittleren Osten. Abschließend wagt sich der Autor an einen – leider eher deprimierenden, aber überzeugenden - Ausblick in die nähere und mittelfristige Zukunft.

Die Geschichte des Krieges
Hippler beginnt mit einer Abhandlung über die Diskussionen darüber, ob Krieg ein Teil der menschlichen Natur sei, es ihn also schon immer gab und er deshalb auch einfach hingenommen werden muss, oder ob Krieg etwas ist, das erst recht spät in das menschliche Zusammenleben eingedrungen ist. Hippler sieht die erstere Auffassung als widerlegt an und sagt, dass wir es mit einem allmählichen historischen Prozess der Verdichtung von Gewaltformen zu tun haben, die in dem Moment als Krieg angesprochen werden können, als „durch Sesshaftigkeit, Landwirtschaft und Vorratshaltung, höhere Bevölkerungsdichten und die Herausbildung politischer Strukturen … entsprechende Anreize und Mittel zur Kriegführung geschaffen wurden“. (S. 21) Krieg definiert er dabei so, wie es die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung in Hamburg vorgeschlagen hat (zwei oder mehr Streitkräfte, von denen wenigstens eine staatlich sein muss, Mindestmaß an gelenkter Organisation auf allen Seiten, Kampf mit gewisser Kontinuität), fügt aber als viertes Kriterium das von anderen Forschungsinstituten benutzte Kriterium der Zahl von mindestens 1.000 Toten/Jahr hinzu.

In dem zweiten Kapitel befasst er sich u.a. mit sozialpsychologischen Grundlagen kollektiver Gewaltanwendung und mit kriegsbegründenden Ideologien. Dabei berichtet er von zwei Experimenten, die die Bereitschaft von Probanden zeigten, bis zu extremer Gewaltanwendung zu gehen, sofern sie in ein Setting geworfen wurden, das ihnen das nahelegte (Milgram und Stanford Prison Experimente). Bezüglich der Rolle von Religion und anderen Ideologien kommt er zu dem Schluss, dass „die Verharmlosung und Propagierung kriegerischer Gewalt sich … aus den gesellschaftlichen und politischen Realitäten entwickelt hat und dann alle Religionen – aber auch säkulare Ideologien – infizierte“ (S. 79).

Im folgenden Kapitel über die Geschichte des Krieges, die, so sei angemerkt, aus einer europäischen Perspektive geschrieben ist, skizziert Hippler verschiedene weltgeschichtliche Epochen: Die Kriege der antiken Großreiche, die Zeiten der sog. „Völkerwanderung“ und des Mittelalters, die Zeit der „Kabinettskriege“ nach dem 30-jährigen Krieg, die napoleonischen Kriege, koloniale und imperiale Kriege und die (heutige) Zeit der Industrialisierung der Kriege.

Als „Bausteine des Krieges“ behandelt der Autor anschließend verschiedene Themen: das Militär als eine „Bürokratie mit Kampfauftrag“ (S. 121), die Entwicklung des Luftkrieges sowie verschiedene Waffentypen (u.a. Atomwaffen, Drohnen und die Tendenz zur Automatisierung).

Wie eine russische Matrjoschka-Puppe
Danach folgen zwei Kapitel zu Kriegstypen und – wohl als Illustration zu dem vorher Entwickelten intendiert - den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten. Wesentlich sind dabei folgende Beobachtungen: Zum einen sei die Dichotomisierung von internationalen und Bürgerkriegen irreführend. Auch wenn in Europa die klassische populäre Vorstellung von Krieg immer noch die von zwei Heeren auf dem Schlachtfeld ist, ist diese Zeit längst vorbei. Im modernen Krieg gibt es nur selten Entscheidungsschlachten. Die meisten heutigen Kriege sind zugleich international und intern – sie haben eine internationale Komponente (man denke an die zahlreichen internationalen Truppen im Syrienkrieg) und eine Bürgerkriegskomponente. Dasselbe gilt für die Unterscheidung von „konventionellen“ und „unkonventionellen“ Kriegen: In vielen Kriegen haben Großmächte schon seit langem auf lokale Milizen oder private Sicherheitsfirmen zurückgegriffen, um den Krieg auf dem Boden zu führen, und sich entweder gar nicht mit eigenen größeren Einheiten oder nur mit Luftangriffen beteiligt. Das Konzept der „neuen Kriege“, wie es von Kaldor und Münkler in den 1990er Jahren in die Diskussion geworfen wurde, hält Hippler – m.E. zu Recht – für unsinnig. Keines der angeblichen Attribute solcher neuen Kriege ist neu – Milizen und Warlords gab es schon seit Jahrhunderten. Das Konzept des „Kriegs gegen den Terror“ demontiert Hippler als einen Propagandaausdruck, mit dem Kriege (u.a. gegen Afghanistan) legitimiert wurden, aber Terrorismus sei keine Kriegsform, sondern eine Methode, die sich sowohl in unkonventionellen Kriegen von Seiten von waffentechnisch unterlegenen Aufständischen findet wie auch in der Kriegsführung von Großmächten. Im letzteren Fall wird er nur i.d.R. so nicht benannt.

Das Weltsystem entwickele sich, so Hippler, erneut hin zu einer sehr multipolaren Welt, wie es sie auch schon in früheren Jahrhunderten gegeben hat. Eine Welt, die zudem von nationalistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen gekennzeichnet sein wird. In diesem Kontext „dürften die Gefahren einer Rückkehr zwischenstaatlicher – auch konventioneller – Kriege beträchtlich zunehmen“ (S. 284). Dabei denkt Hippler nicht so sehr an einen Krieg z.B. zwischen den USA und China oder Russland, sondern an Konflikte zwischen kleinen und mittleren Mächten, ohne aber auch solch einen „großen“ Krieg mittelfristig ausschließen zu wollen.

Ein ziemlich pazifistischer Blick
Schon in der Einleitung warnte Jochen Hippler, dass es sich bei seinem Werk nicht um ein „pazifistisches Manifest“ (S. 13) handele. Er bestreitet nicht, dass es legitime Kriege geben könne. Das gilt z.B. für „humanitäre Interventionen“. Er verweist aberdarauf, dass die meisten so bezeichneten Kriege dem in der Schutzverantwortung von der UN definierten Anspruch nicht genügen; trotzdem sollte ihnen nicht “pauschal jeder humanitärer Charakter abgesprochen werden“ (S. 197ff). Aber wer sich auf den letzten Seiten des Buches auf der Zunge zergehen lässt, welches Herangehen Hippler an die Frage der Legitimität von Kriegen vorschlägt (S. 295ff), wird finden, dass die von ihm vorgeschlagene Reihenfolge von Bewertung von Kriegen Krieg gründlicher delegitimiert, als es viele pazifistische Manifeste tun könnten: Im ersten Schritt müsse die Frage nach der völkerrechtlichen Legalität gestellt werden. Falls diese bejaht werden kann, folgt als zweiter Schritt die Frage nach seiner immanenten Sinnhaftigkeit: Viele Kriege werden ohne klare Zielformulierung geführt oder haben Ziele, die nicht erreicht werden können. Falls es doch solche klaren und erreichbaren Ziele gibt, muss im dritten Schritt gefragt werden, ob militärische Gewalt dazu beiträgt, sie zu erreichen. Auch hier lautet die Antwort in vielen Fällen wieder ‚nein‘. Diese ersten drei Fragen sieht er als völkerrechtliche und faktenorientierte, nicht als ethische Kriterien. Erst danach sollte als letztes die Diskussion um die Ethik von Gewaltanwendung folgen. Die allermeisten Kriege sind da dann aber schon ausgeschlossen.
Das faktenreiche Werk von Hippler konnte hier nur in wenigen Auszügen dargestellt werden. Das Buch genügt wissenschaftlichen Ansprüchen (Zitation, Quellenangaben, Literaturverzeichnis), ist aber – leider keine Selbstverständlichkeit im deutschsprachigen akademischen Raum – allgemeinverständlich geschrieben. Auch wenn bei ihm, das sei als kleine Kritik angemerkt, gewaltfreie Formen der Auseinandersetzung (ziviler Widerstand z.B.) nicht vorkommen, sondern er z.B. Aufstände allein im Gewaltkontext verortet: Das Buch sollte zur Pflichtlektüre aller werden, die sich als Teil von Friedensbewegung oder als Lehrende mit den Themen von Krieg und Frieden befassen.

Hippler, Jochen (2019) Krieg im 21. Jahrhundert. Militärische Gewalt, Aufstandsbekämpfung und humanitäre Intervention, Wien: Promedia-Verlag, ISBN 978-85371-457-7, 311 S., 22 Euro

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.