Die Praxis Gewaltfreier Aktion – ein Machtpotenzial

Legitimität Zivilen Ungehorsams

von Renate Wanie
Schwerpunkt
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Zunehmend mehr Menschen sind weltweit in den letzten Jahrzehnten mit gewaltfreien Aktionen in Widerstandsbewegungen aktiv. Wie z. B. mit Massenprotesten in Heiligendamm 2007 gegen die undemokratische Politik des Weltwirtschaftsgipfels der G8-Staaten oder mit der Besetzung von öffentlichen Plätzen in Ägypten 2011 für politische Reformen. Vielfältige Aktionsformen haben sich in den letzten Jahren entwickelt, wie die spektakulären Internetaktionen des chinesischen Künstlers Ai Weiwei gegen Korruption und Machtwillkür der chinesischen Regierung im Jahr 2011 oder Protestformen von Menschen der jungen Generation im Jahr 2023, die sich z. B. auf einem Autobahnzubringer auf die Fahrbahn kleben und eine dringend notwendige Änderung der Klimapolitik fordern.

Der klassische Kern gewaltfreien Widerstands ist die „Gewaltfreie Aktion“ (GA), eine traditionsreiche Methode der politischen Konfliktbearbeitung. „Die gewaltfreie Aktion hat das Ziel, einen Konflikt so zu dramatisieren, dass sein Vorhandensein und die Unzulänglichkeit der herrschenden Konfliktregelungsmechanismen nicht länger ignoriert werden können. Das Ziel der gewaltfreien Aktion ist es, in Diktaturen und Formaldemokratien die psychischen und die sozialen Bedingungen zu schaffen, unter denen erneut oder erstmals über Verhandlungen und demokratische Abstimmungen die Konflikte dauerhaft oder vorläufig geregelt werden“. (1) Ziel der Gewaltfreien Aktion ist es nicht, die Gegner*innen zu besiegen oder zu vernichten, sondern auf die Veränderung des gegnerischen Willens hinzuarbeiten.

Die Konzepte der Gewaltfreien Aktion (GA) und eine der Methoden wie der Zivile Ungehorsam wurden stetig weiterentwickelt, beeinflusst durch vielfältige soziale Bewegungen sowie die Friedens- und Konfliktforschung. Als bedeutendste Vordenker*innen mit Einfluss im deutschsprachigen Raum können u.a. Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Gene Sharp, Theodor Ebert, Hildegard Goss-Mayr und Gernot Jochheim angesehen werden. In der Gegenwart ist für die junge weltweite Klimabewegung, wie Ende Gelände, Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Letzte Generation, die Aktionsform Ziviler Ungehorsam fast eine Selbstverständlichkeit. Ihren Forderungen soll öffentlich Nachdruck verliehen werden, damit z. B. die Vereinbarungen des internationalen Pariser Klima-Abkommens von 2015 auch tatsächlich in die Tat umgesetzt werden. 

Ziviler Ungehorsam, eine gewaltfreie Aktionsform als Motor für Veränderung?
GAen artikulieren nicht nur Protest oder konstruktive Alternativen, sie greifen kämpferisch und direkt ins bestehende soziale und politische System ein. GAen wollen die Probleme so dramatisieren, dass sie nicht länger ignoriert werden. Denn: „Demonstrationen als solche führen nicht unmittelbar soziale Veränderungen herbei, zeigen aber den politischen Gegnern häufig ihren Verlust an Massenlegitimation und motivieren zu Reaktionen, sei es des Entgegenkommens oder der Unterdrückung.“ (ebd.) Die Wirkmächtigkeit von Demonstrationen und Protestaktionen ist sehr stark vom gesellschaftlichen und politischen Umfeld abhängig. Auch Repressionsmaßnahmen können eine Folge sein, um die Aktivist*innen einzuschüchtern. Der chinesische Künstler Ai Weiwei erhielt wegen seiner spektakulären Internetaktion eine Gefängnisstrafe, aktuelle Klimakleber*innen erfahren Polizeigewalt bis hin zu Präventivgewahrsam.

Das Konzept der GA bedeutet nicht einfach Gewaltverzicht oder Konfliktvermeidung, sondern ein aktives, widerständiges Eingreifen in eine politische Auseinandersetzung, um gesellschaftliche Konflikte auszutragen. Gewaltfreiheit ist ein Prinzip politischer Aktion, das Gewalt ablehnt und die Überwindung von Gewalt erreichen will. Auch um Gegenmacht aufzubauen, und im politischen Raum handlungsfähig zu werden, ist die GA ein wirksames Mittel. Doch allein der Wunsch, gewaltfrei zu handeln, reicht nicht aus: Trainings in GA bieten die Möglichkeit, konkrete Verhaltensweisen und Beurteilungskompetenz für die politische Aktion einzuüben. Auf der Basis gemeinsamer Überzeugungen, konsensualer Übereinkünfte und der Solidarität einer Gruppe öffnet sich ein Raum für gemeinsames, gewaltfreies Handlungsvermögen. Nach dem Verständnis der politischen Philosophin Hannah Arendt liegt darin ein Machtpotenzial: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ (2)

Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion
Die Erfolge der GA beruhen nicht nur darauf, den Gegner zu überzeugen, sondern auch auf der Ausübung von Druck und Gegenmacht. Der Friedensforscher Theodor Ebert hat in einem 3-stufigen Eskalationsschema ein gewaltfreies Konzept dargestellt. Je nach Analyse der politischen Situation können die Akteur*innen auf jeder Stufe verschiedenartige Aktionsformen sozialen Drucks einsetzen, die in unterschiedlicher Weise gesellschaftliche Wirkung zeigen. Neben dem Protest (z. B. Demonstrationen) und der legalen Nichtzusammenarbeit (z. B. wirtschaftlicher Boykott), stehen dramatisierende Aktionen Zivilen Ungehorsams (z. B. Straßenblockaden) auf der dritten Eskalationsstufe und greifen direkt in das bestehende soziale System, in die Funktionen gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse, ein. (3) Anordnungen oder Gesetze des dominierenden Systems werden missachtet (z. B. Eindringen in den Atomwaffenstützpunkt in Büchel/Eifel oder aktuell Straßenblockaden der „Letzten Generation“). Es gibt viele Möglichkeiten, die Probleme zu dramatisieren, dem politischen Gegner die Legitimation zu entziehen und ein Unrecht abzuschaffen. Dabei bleibt auf allen Eskalationsstufen und in allen Phasen des Konfliktes die Bereitschaft zu Gespräch und Verhandlungen bestehen. Parallel kann außerdem auf jeder Stufe mit konstruktiven Ideen und Projekten zur Veränderung beigetragen werden.

Blick in die Geschichte
Wichtige Schlüsselaktionen des Zivilen Ungehorsams, die schlaglichtartig ein Problem deutlich machten oder zur Abschaffung des kritisierten Unrechts beitrugen, waren 1930 Gandhis Salzmarsch in Indien, 1955 der von M.L. King initiierte Busboykott von Montgomery und hierzulande 1983 die Aktionen und Blockaden der Friedensbewegung gegen die geplante Atomraketenstationierung. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren haben politische Philosoph*innen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas ihre Argumente für den Zivilen Ungehorsam als legitime Protestform dargelegt. Habermas‘ Plädoyer: Auch im demokratischen Rechtsstaat können legale Regelungen illegitim sein und ziviler Ungehorsam als begrenzte Regelverletzung legitim. (4)

Anmerkungen 
1 Ebert, Theodor: Lexikalisches Stichwort „Gewaltfreie Aktion“, in: Steinweg, Reiner, Laubenthal, Ulrike (Hrsg. 2011): Gewaltfreie Aktion. Erfahrungen und Analysen. Frankfurt/M, S. 159-168 
2 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München 1970, S. 45 
3 https://www.soziale-verteidigung.de/system/files/gewaltfreiheit_-_uebera...
4 Habermas, Jürgen: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz, Peter (1983): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt a.M., S. 207-228

 

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