Lehren für eine pazifistische Politik

von Mohssen Massarrat
Hintergrund
Hintergrund

Der folgende Artikel ist ein Kapitelausschnitt eines längeren Beitrages des Verfassers, der im Sommer im Osnabrücker Jahrbuch für Frieden und Wissenschaft 2000 zum Thema: "Der Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Lehren für pazifistische Perspektiven" veröffentlicht wird.

Und die Pazifisten? Haben sie auf die konkrete Situation vor und während des Krieges richtig reagiert, haben sie alles getan, um den Schulterschluss zwischen den Intellektuellen und Schriftstellern mit den Nato-Geostrategen zu verhindern und die Verunsicherung vieler, die trotz ihrer pazifistischen Grundhaltung glaubten, aus "verantwortungsethischen" Gründen den Nato-Krieg hinnehmen zu müssen, zur Kenntnis genommen und sich bemüht, politisch rechtzeitig und angemessen darauf zu reagieren? Haben die Pazifisten versagt?

Die aufklärerische Funktion pazifistischer Argumentationsmuster, den Nato-Krieg mit Blick auf die zu erwartende Verschlimmerung der menschenrechtlichen Situation - die sich leider bewahrheitet hat - grundsätzlich abzulehnen, war wichtig, sie reichte jedoch keineswegs aus, um der Inszenierung des menschenrechtlichen Notfalls die Legitimation zu entziehen. Als besonders verhängnisvoll halte ich die hartnäckige Weigerung, sich auf die Debatte um den menschenrechtlich begründeten Notfall einzulassen, zumal rückblickend sich die Auseinandersetzung mit dieser historisch bedeutsamen Frage in der konkreten Vorkriegssituation als Schlüssel für eine Antikriegskampagne herausstellte. In einer Situation, in der die Inszenierung des menschenrechtlichen Notfalls gelungen ist, verpuffen gut gemeinte und begründete Prognosen über die Schaffung neuen und größeren Unrechts durch den Krieg ins Leere. Nicht Vernunft, nicht Moral, nicht gute Argumente und auch nicht historische Erfahrungen, sondern nur noch dumpfe Gefühle und Emotionen bestimmen in derartigen Situationen das politische Geschehen. Im Kosovo wurde nicht zum ersten Mal die Kriegslegitimation durch eine Inszenierung herbeigeführt und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Im postkolonialen Zeitalter der Globalisierung werden hegemonialpolitische und geostrategische Interessen mit subtileren Rechtfertigungsmustern durchgesetzt werden. "Humanitäre Intervention", eine Neuauflage des "gerechten Krieges", scheint sich als ein besonders wirksames, gesellschaftliche Kräfte mobilisierendes Kriegsrechtfertigungsinstrument herauszustellen, dessen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch in der Zukunft die USA, die Nato, Russland und andere Staaten bedienen werden, um ihre nationalen Interessen durchzusetzen.
 

Grund genug für die Pazifisten, um sich mit dem behaupteten oder vermeintlich eingetretenen menschenrechtlichen Notfall offensiv auseinanderzusetzen. Dies impliziert, diesen Notfall als grundsätzliche Möglichkeit, die ausnahmsweise auch mit Gewalteinsatz beendet werden muss, einerseits nicht auszuschließen, sondern in Betracht zu ziehen, und ihn andererseits, wo und von wem er auch immer aus Gründen eigener politischer Interessen inszeniert wird, ganz konkret und mit allen verfügbaren Möglichkeiten zu entlarven. Ein Unterlassen dieses Schritts spaltet die Pazifisten unweigerlich in "Gesinnungs- und Verantwortungspazifisten" und ebnet so erst recht den Weg für eine breite Legitimation von Interessen geleiteten Kriegen. Die eine Gruppe von Pazifisten wird dann als weltfremde und gewissenlose Utopisten an den Rand gedrängt, da sie angeblich aus ideologischen Gründen nur das Prinzip von Gewaltfreiheit hochhalten, und die "verantwortlich" handelnden Pazifisten lassen sich leichtfertig in das Kriegsbefürworter-Bündnis integrieren, weil sie meinen, so ihrer eigenen Verunsicherung am besten gerecht zu werden. "Während prinzipieller Pazifismus die Selbstverpflichtung auf die Gewaltfreiheit der Mittel zum obersten Maßstab erhebt, orientiert sich Verantwortungspazifismus vor allem an der Frage, wie Gewaltfreiheit im Zusammenleben der Menschen erreicht und gesichert werden kann. Er stellt sich deshalb die Frage, wie in Situationen manifester Gewaltausübung dieser Gewalt ein Ende gesetzt werden kann. Dadurch tritt die Frage nach dem Einsatz militärischer Mittel als äußerster Notmaßnahme in den Blick", so der brandenburgische Bischof Wolfgang Huber (Huber, 2000). Diese hier unverkennbar begründete Bereitschaft, Krieg im Notfall zu legitimieren, rührt durchaus nicht immer aus dem Opportunismus und dem mangelnden Durchblick, sondern auch daher, dass überzeugende Alternativen zur Überwindung eigener situativer Verunsicherung fehlen. Andererseits müssen sich dennoch die "Verantwortungspazifisten" ernsthaft die Frage stellen, ob sie wirklich verantwortlich handeln, wenn sie den Behauptungen interessierter Großmächte über den vermeintlichen menschenrechtlichen Notfall ungeprüft und blind folgen müssen, und ob sie dann nicht ohne Not die Rolle der willigen Helfer der Kriegstreiber übernehmen und ihnen das Antlitz der "humanitären Intervention" verleihen. Die wirklich verantwortlich handelnden Pazifisten, die ich als politische Pazifisten bezeichne, müssen neben ihrer prinzipiellen Überzeugung, dass Krieg Menschenrechtsverletzungen nicht beendet, sondern selbst verursacht bzw. neue hinzufügt,
 

(a) angesichts von Holocaust und Ruanda dazu bereit sein, einer Diskussion über den Gewalteinsatz im wirklich äußersten Notfall nicht aus dem Weg zu gehen und ihre Bereitschaft signalisieren, ihn - wenn er wirklich eingetreten ist - auch hinzunehmen, und (b) auf eine äußerst restriktive Definition des Notfalls hinzuwirken und kompromisslos darauf zu bestehen, dass der menschenrechtliche Notfall (c) nach Maßgabe klarer Kriterien und auf der Grundlage überprüfbarer Fakten ausschließlich durch völkerrechtlich einwandfreie Instanzen festgestellt und (d) ebenso ausschließlich durch eine von der UNO organisierte bzw. legitimierte Truppe beendet wird. Mit anderen Worten müsste das propagandistische Täuschungsmanöver der Kriegsbefürworter, Pazifisten schauten weg und retuschierten die Realität des Völkermords, um ihr eigenes Weltbild zurechtzubiegen, durch eine konstruktive Gegenstrategie wirkungslos gemacht und die Inszenierung eines "menschenrechtlich bedingten Notfalls" um so wirksamer verhindert werden. Nicht die Pazifisten müssen beweisen, dass sie verantwortlich handeln, sondern umgekehrt müssten die Verfechter der "humanitären Intervention" glaubwürdig den Nachweis erbringen, dass der menschenrechtliche Notfall tatsächlich vorliegt. Es ist absehbar, dass dazu eigene Wege und Möglichkeiten der Friedensbewegung, einschließlich insitutioneller Voraussetzungen unverzichtbar sind, um einerseits künftige Inszenierungen des menschenrechtlichen Notfalls rechtzeitig zu Fall zu bringen und andererseits - sollte sich eine militärische Intervention der UNO als notwendig erweisen - diese zivilgesellschaftlich zu kontrollieren.

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Hintergrund
Mohssen Massarrat ist Professor i. R. der Universität Osnabrück mit wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkten in den Bereichen Wirtschaft und Gesellschaft, Internationale Beziehungen, Krieg und Frieden, Mittlerer und Naher Osten und Mitbegründer der Initiative Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO).