Eine kommentierte Chronologie der Ereignisse

Lehrstück Mannheim-Schönau

von Initiative Freie Flüchtlingsstadt
Hintergrund
Hintergrund

Initiative Freie Flüchtlingsstadt

Die Angriffe gegen Flüchtlinge in Mannheim-Schönau gingen von unse­ren "normalen" Nachbarn aus. Die Schönau und die "Politik" von Stadt­oberen und Polizei werden zum erschreckenden Lehrstück, wie der "alltägliche Rassismus" zu Pogromstimmung eskalieren kann. Über die Konsequenzen - auch aus der weitgehenden eigenen Hilflosigkeit - für die antirassistische Arbeit und die Solidarität für Flüchtlinge müssen nicht nur die Mannheimer Initiativen nachdenken (d.Red.).

Im Februar 1992 wurde in einer leer­stehenden Kaserne in Mannheim (MA)-Schönau ein Sammellager für ca. 250 Asylsuchende eröffnet. Die Schönau ist ein alter Arbeitervorort im Mannheimer Norden. Bei der Landtagswahl 1992 hatten hier die "Republikaner" mit ca. 17% ihr bestes Mannheimer Ergebnis. Schon länger weist die Schönau eine hohe Kriminalitätsrate auf, was v.a. auf die hier zu findende Drogen-Dealer- und Zuhälter-Szene zurückzuführen ist. Zu­mindest in Teilen der Bevölkerung stieß das Sammellager von Anfang an auf hohe Ablehnung, wobei als Begründung eine - zwar unhaltbare, aber ins rassisti­sche Bild passende - Verquickung der Flüchtlinge mit eben diesen Szenen konstruiert wurde.

26.-27. Mai: Die Vergewaltigung einer 16jährigen Deutschen stachelt einen ras­sistischen Bürgermob auf. Obwohl die Vergewaltigung nachweisbar nicht von einem Heimbewohner begangen wurde, läßt sich das so lautende und im Selbst­lauf entstandene Gerücht auch durch Dementis von Polizei und Medien nicht mehr aus der Welt schaffen. V.a. deut­sche Männer ziehen nun Abend für Abend vor das Heim.

28. Mai: Seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht dieser offene Rassismus im Anschluss an ein "Vatertagsfest". 500 Leute belagern in Pogromstimmung und auf Lynchjustiz aus der ehemaligen Kaserne. "Asylantenschweine raus", "Ausländer raus", "Nur ein toter Neger ist ein guter Neger", "Ihr brennt heute noch"; das ist die Stimmung, die sich hier nur verbal und in einigen Flaschenwürfen äußern kann. Eine CDU-Stadträtin sagt: "Die wollen Opfer sehen". Nur ein verstärkter Polizeieinsatz kann die Flüchtlinge "schützen". Festzuhalten ist, daß diese Aktion nicht von organisierten Faschos oder Hools (Hooligans) - wie noch in Hoyerswerda - initiiert wurde, sondern daß sich der - fast ausschließlich deut­sche - Spießer ohne "Anleitung" selber erhob. Zu diesem gesellt sich an diesem Abend auch Mannheims OB Widder und taucht vor dem Heim auf. Er mischt sich unter den gewalttätigen Mob, "um sich die Klagen der Schönauer über die Asylbewerber anzuhören" (Mannheimer Morgen 30. 5. 92), und um diese zu be­ruhigen. Ins Heim, zu den bedrohten Flüchtlingen, geht er nicht.

29. Mai: So werden Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern. In einem Brief an die "beunruhigten Bürgerinnen und Bürger vor der Landesunterkunft für Asylbewerber" fordert der OB zur Beru­higung auf. Wer in seiner Sicht die ei­gentlichen Täter sind, macht er deutlich, als er den Schönauern "Sofortmaßna­hmen" gegen "Provokationen und Lärm­belästigun­gen" seitens der Heim­bewohner ankün­digt. Dem deutschen Männerpöbel si­chert er zu, daß keine alleinstehenden Männer mehr ins Heim aufgenommen werden sollten. Der Brief liest sich in toto etwa so: Bleibt ruhig, der Staat vertritt eure Anliegen besser!

30. Mai-2. Juni: Die Szenen vor dem Heim wiederholen sich allabendlich. Er­ste kleinere Soli-Demos für die Flücht­linge, die sich gleichzeitig gegen den Mob wenden, werden vorläufig nur be­schimpft.

2.-5. Juni: Ab dem 2. Juni organisieren Frankfurter Anti-RassistInnen Wachen vor dem Heim. Diese werden dann vom Bürgermob schon aggressiver angemacht und z.T. angegriffen. Als sie sich wehren, greifen Bullen ein und verhaf­ten, wie an den folgenden Abenden, die ihre Solidarität mit den Flüchtlingen be­kundenden Freundinnen und Freunde. OB Widder, der alles inzwischen zur "Chefsache" machte, die Stadtverwal­tung, die Polizei, die Medien basteln sich ihre Täter zurecht: "Linke Reisechaoten".

6. Juni: So funktioniert auch die Poli­zeistrategie im Zusammenhang der Demo am Pfingstsamstag. Schon die ganze Woche über wurde in Bezug auf die geplante Demo Stimmung gemacht. Die am Mittwoch für Samstag, 18.00 Uhr angemeldete Demo wurde am Freitagnachmittag verboten. Gerichtli­che Klagen dagegen wurden abgewie­sen, am Samstagmittag in zweiter In­stanz. Mehrere Versuche unsererseits, erst mit dem zuständigen Ordnungsamt, dann, ab Freitagabend, mit der Einsatz­leitung der Polizei selbst zu verhandeln, um die Lage zu entschärfen und den po­litischen Inhalt wieder unterzubringen, scheiterten. So kam das erste "Gespräch" am Samstag, gegen 16.00 Uhr zustande. Das einzige, was in den Gesprächen raus kam, war, daß eine "militärische Lösung" her solle (so Ein­satzleiter Grentrup fünf Minuten vor dem Beginn der etwa dreistündigen Prügelorgien am Pfingstsamstag). Diese "Lösung" war offensichtlich schon lange geplant (s.o.). Ein Bulle an einer Stra­ßensperre gegen 16.00 Uhr: "Fahrt nur auf den Paradeplatz, da werden wir euch schon in die Parade fahren". Das Ergebnis ist bekannt: mindestens 15-20 Verletzte, einige schwer, über 140 Ver­haftungen, z.T. schon an den Straßen­sperren an allen wichtigen Zufahrtsstra­ßen Mannheims, Einkesselungen noch und nöcher, das Jugendzentrum (JUZ) wird gestürmt . . .

7.-12. Juni: Die Straße direkt vor dem Haupttor des Sammellagers wird inzwi­schen, seit dem 2.6., jeden Abend ab 17.00 Uhr von den Bullen abgesperrt. Das bedeutet für die Flüchtlinge unmit­telbar einen gewissen "Schutz". Ande­rerseits macht es deutlich, daß die Si­tuation keineswegs entspannt ist, wie OB Widder in zwei weiteren Briefen an die "Lieben Mitbürgerinnen und Mit­bürger auf der Schönau" (gemeint sind natürlich wieder nicht die Flüchtlinge) glauben machen will. Rassistischer Protest hat sich an die Polizeisperren verlagert und wird im Straßenbild sicht­bar. Aus vorbeifahrenden Autos werden an einer anderen Ecke des Heimes rassi­stische Parolen gegröhlt ("Wir kriegen Euch", . . .); an der Straba-Endhalte­stelle, mitten in Schönau, tauchen Bür­ger mit Knüppeln bewaffnet auf; Linke werden, wahlweise, von Bullen kontrol­liert oder verhaftet oder auch von ju­gendlichen Hool-Gangs in Seitenstraßen verprügelt.

Eine für den 13.6. auf der Schönau ge­plante Demo wird am 12.6., wiederum für das gesamte Stadtgebiet geltend, verboten. OB Widder bittet am 12.6. die Bevölkerung, am folgenden Tage zu Hause zu bleiben, "womit Sie die Arbeit der Polizei erheblich unterstützen". Es wird ein Klima der verschärften Repres­sion gegen jeglichen Widerstand ver­breitet. So veröffentlicht der MM am 13.6. die Namen der DemoanmelderIn­nen samt ihrer Adressen.

13. Juni: Ausnahmezustand in MA und im Zusammenhang der Demo: Straßen­sperren an fast allen Zufahrtsstraßen nach MA; Straba-Haltestellen werden von Bullenwannen samt Prügelbesat­zung kontrolliert; Hubschrauber über der Stadt; der HBF ist quasi umstellt; fast 200 Verhaftungen an allen diesen Stellen und im "ganz normalen" Stra­ßenbild; das Pumuckl (linke Kneipe) wird kuzzeitig gestürmt; als den Bullen Bekannter schleicht mensch teilweise nur noch durch die Stadt . . . Schließ­lich: doch eine Demo, von den allzeit präsenten Bullen toleriert, an der sich teilweise ca. 2500 Leute beteiligen; sie geht durch die Innenstadt, viele auslän­dische Menschen sind dabei oder be­kunden ihre Solidarität. Eine kleinere Demo (ca. 300 Leute) in Sandhoven, ei­nem der Schönau benachbarten Stadt­teil. Viele Leute sind aber gar nicht nach MA gekommen. Ca. 300 wurden in Karlsruhe festgehalten, andere schon auf der Autobahn oder an Straßensperren zur Umkehr genötigt.

Hier endet die Chronologie zunächst, denn auf der Schönau hat sich nichts be­ruhigt. Wir werden zudem eine Menge aufzuarbeiten haben. Es ist eine Situa­tion da, wo wir drohen aufgerieben zu werden zwischen einem breiter werden­den gesellschaftlichen rassistischen Grundkonsens, aktivem rassistischen Bürgermob auf der Straße, staatlicher Repression und - bisher zum Glück in MA nicht relevant aufgetauchten - orga­nisierten Faschos. Nicht zuletzt müssen wir klären, wie wir mit den Flüchtlingen zusammen was machen können.

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