Der türkisch-kurdische Konflikt

Licht am Ende des Tunnels?

von Andreas Buro

Seit 2012 gibt es wieder Gespräche zwischen dem Kurdenführer Abdullah Öcalan und der Regierung in Ankara, vertreten durch den türkischen Geheimdienst. Nach dem Brief Öcalans vom Februar 2013 mit der Aufforderung an die PKK, ihre Guerilla aus der Türkei in den Irak zurückzuziehen, eröffnet sich eine ernsthafte Chance, den türkisch-kurdischen Konflikt zu einer friedlichen politischen Lösung zu bringen. Von beiden Seiten wurde zum Ausdruck gebracht, man wolle den bewaffneten Konflikt beenden und eine friedliche, politische Lösung finden. Schon früher hatte der türkische Staatspräsident Gül die Lösung der Kurdenfrage zur wichtigsten Aufgabe des Staates erklärt, allerdings ohne folgenreiches Handeln seitens der Regierung zu bewirken.

Meine gegenwärtige Hoffnung wird getrübt durch die Erinnerung an das Jahr 2009. Wie ich haben damals viele gehofft, es würde gelingen, den blutigen türkischkurdischen Konflikt endlich zu einem friedlichen Ende zu bringen. Wir haben von dem Fenster der Möglichkeit, dem "window of opportunity", gesprochen, haben gehofft, es würde genutzt werden, und haben davor gewarnt, die Gelegenheit verstreichen zu lassen. Damals haben wir immer wieder auf die Road Map des Dossiers zum Konflikt aus dem Monitoring-Projekt hingewiesen und friedenspolitisch kühne Schritte angemahnt. Doch diese Schritte wurden nicht getan, und das Fenster schloss sich mit allen Folgen der Verhärtung auf beiden Seiten.

Zur Orientierung angesichts der ständigen Terrorismusbeschuldigungen gegenüber den Kurden sei noch einmal an den Urgrund des Konflikts erinnert. Er besteht seit etwa 90 Jahren. Damals im Jahr 1923 wurde der türkische Nationalstaat gegründet. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges mussten das Feld verlassen. Türken und Kurden hatten gemeinsam für einen souveränen Nationalstaat gefochten. So lange die Kämpfe dauerten, betrachtete die türkische Seite die Kurden als Brudervolk. Als der Sieg errungen war, vergaß sie die Brüderlichkeit und versuchte, die Kurden einer Zwangsassimilierung zu unterwerfen. Zu erinnern ist, dass die im Ersten Weltkrieg siegreichen Alliierten das kurdische Siedlungsgebiet rücksichtslos auf die Türkei, Syrien, den Irak und Iran aufgeteilt hatten.

Die logische Folge war das Aufkommen nationalistischer Tendenzen bei den Kurden und dem entsprechend die Befürchtung in den vier Staaten vor deren separatistischen Bestrebungen, was zur verstärkten Repression gegenüber den jeweiligen kurdischen Bevölkerungsanteilen führte. Seit der Staatsgründung haben Kurden immer wieder rebelliert. Meist wurden die Aufstände blutig niedergeschlagen.

Der Militärputsch der türkischen Generäle von 1980 war von äußerster Grausamkeit geprägt. Diese richtete sich besonders gegen alle oppositionellen Kräfte. 1984 begann die kurdische Guerilla-PKK mit bewaffneten Angriffen auf türkische Einrichtungen. Die sich daraus entwickelnden Kämpfe reichen bis in die Gegenwart.

Dabei ist offensichtlich geworden, dass ein militärischer Sieg für keine Seite erreichbar ist. Wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, kann sie zu einem wirkungsvollen Antrieb für eine politische Lösung werden. Dennoch drängt sich gegenwärtig die Frage auf, wird es diesmal gelingen? Ich stelle Fragen. Hat jemand ernsthafte Worte des Bedauerns der Vergangenheit auf türkischer oder kurdischer Seite geäußert? Bleibt nicht die kemalistische Assimilations- und Unterdrückungspolitik als gerechtfertigt stehen? Wird sie wenigstens ansatzweise in Frage gestellt und der türkische Nationalismus problematisiert?

Liest man den höchst interessanten Brief Öcalans, so erhält man den Eindruck, als wären auf kurdischer Seite keine Fehler gemacht worden. Wäre nicht auch hier eine selbstkritische Betrachtung angebracht? Selbstkritische Betrachtung heißt nicht, schmutzige Wäsche zu waschen, sondern heißt, aus der Vergangenheit zu lernen. Dieser Aufgabe müssen sich beide Seiten stellen.

In den Medien lese ich immer wieder die Formel vom kurdischen Aufstand, der 40.000 Menschenleben gefordert habe. Dadurch werden die Kurden fast wie selbstverständlich in die Rolle von Massenmördern gerückt. Aber wer hat denn die 40.000 Menschen ganz überwiegend umgebracht? Müsste nicht Ankara in Selbstkritik dazu deutlich Worte sagen, dass es die türkische Seite war, die nach dem Putsch der Generäle 1980 nur noch Gewalt gegen jegliche Opposition kannte? Wäre daran anschließend nicht eine deutliche Kritik der Gewalt in diesem Konflikt erforderlich - Gewalt, die auch den Kampf der Guerilla mythisch erhöhte? Gelingt es überhaupt, Gewalt als Grundmuster des Konfliktaustrages zu überwinden? Bestehen nicht auf beiden Seiten Bedenken, sich vorbehaltlos auf eine nicht militärisch abgesicherte Lösung einzulassen?

Bei der jüngsten Verlautbarung aus den Kandilbergen, dem Refugium der PKK im kurdischen Irak, man benötige ein Gesetz zur Absicherung des Abzugs der Guerilla aus der Türkei, und der prompten Ablehnung aus Ankara, schlich sich bei mir das Gefühl ein, auf beiden Seiten seien die Hürden für Aussöhnung noch sehr hoch.

Selbstverständlich habe ich die von der türkischen Armee 1999 ermordeten 500 Guerilleros bei dem damaligen Rückzug in den Irak nicht vergessen. Keiner vertraut dem anderen.

Dies bringt mich auf den hohen Wert der Vertrauensbildung. Die PKK hat, ohne Bedingungen zu stellen, gefangene türkische Soldaten freigelassen und übergeben. Ein friedenspolitisch kluger Akt angesichts der in der Türkei herrschenden Repression gegenüber allen politischen kurdischen Aktivitäten. Ankara hat bisher nur sehr zögerlich geantwortet. Es hätte doch auf die eigenen Gesetze zurückgreifen können, um viele der politischen Gefangenen zu entlassen.

Vertrauensbildung wird eine zentrale Aufgabe für zukünftige Aussöhnung sein. Ankara könnte bereits jetzt seine militärischen Angriffe auf die Kandilberge einstellen, könnte Erleichterungen für die Unterbringung und Kommunikation des Gesprächspartners Öcalan gewähren, könnte den Pariser Mord an den kurdischen Frauen ernsthaft verfolgen und dabei auch möglicherweise die Geheimdienst-Beteiligung verurteilen, so sie sich bestätigt.

Wäre es nicht auch wichtig, die türkische Haltung gegenüber den syrischen Kurden zu ändern, statt deren Autonomiewünsche zu bekämpfen? Die türkische Regierung arbeitet eng mit bewaffneten islamistischen Kräften zusammen und erlaubt diesen, über türkisches Gebiet nach Syrien einzudringen und kurdische Ortschaften in Syrien anzugreifen. Angeblich soll sie diesen Gruppen beträchtliche finanzielle Unterstützung gewähren. Es erscheint so, als ob eine grundsätzliche Haltung der Aussöhnung mit der kurdischen Bevölkerung noch nicht alle Teile der türkischen Politik erreicht hat, oder ist diese Bereitschaft in Ankara noch gar nicht vorhanden?

Vielleicht kann die Einsetzung der Gruppe von Weisen, der leider nur wenige Frauen angehören, zur Vertrauensbildung beitragen, wenn sie nicht nur zur Legitimierung von Vergangenheit und Gewaltherrschaft tätig wird. Immerhin handelt es sich um einen interessanten Ansatz, die Politik Ankaras in möglichst allen Teilen der Türkei bekannt und verständlich zu machen. Muss doch die Regierungspartei AKP damit rechnen, dass ihre Bereitschaft, mit den "kurdischen Terroristen" zu verhandeln, keineswegs überall bei ihren AnhängerInnen auf Verständnis stößt.

Bleibt die Frage, ob Erdogans Wunsch, auf kurdischen Demonstrationen auch türkische Fahnen zu sehen, erfüllt werden sollte? Das wäre vielleicht nicht schlecht, würde es doch zeigen, dass die kurdische Seite ihre nationalistischen, separatistischen Tendenzen überwunden hat und, wie Öcalan zum Ausdruck bringt, sich für eine Demokratisierung der Türkei mit allen ihren Bürgern und Bürgerinnen einsetzen will. Doch nicht zuletzt muss Ankara begreifen, dass die friedliche Beendigung des türkisch-kurdischen Konflikts kein Gnadenakt ist, sondern eine Aufarbeitung von Schuld und Sühne mit der Bereitschaft zu vergeben und zukünftige Konflikte mit zivilen Mittel zu bearbeiten, statt auf einander zu schießen.

Gegenwärtig ist alles offen. Die Chance zu einer friedlichen Lösung bleibt eine empfindliche Pflanze, wie wir aus bitteren Erfahrungen der Vergangenheit wissen. Sie gilt es, von allen Seiten zu umsorgen und zu fördern. Doch die Bundesregierung steht weiter fest an der Seite Ankaras im Sinne von Terrorismusbekämpfung, statt Friedenspolitik zu unterstützen. Sie und viele EU-Länder haben bisher - der türkischen Politik folgend - die kurdische Bewegung als terroristisch klassifiziert und polizeilich und juristisch verfolgt. Dies fördert nicht eine friedliche Lösung.

Beginnt am 8. Mai der Rückzug der Guerilla nach kurdisch Irak, dann wird der jahrzehntelange Kampf auf türkischem Boden beendet sein, nicht aber das politische Ringen um die Gleichberechtigung der kurdischen Bevölkerung der Türkei. Ein riesiger Fortschritt, da nun an die Stelle militärischer Gewalt das Prinzip der zivilen Konfliktbearbeitung treten soll. Mit dieser Entwicklung wird es endgültig absurd, die kurdische PKK-Guerilla als terroristisch zu brandmarken. Der beginnende Friedensprozess wird dadurch behindert. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat ein erstes friedenspolitisches Signal gesetzt, indem sie in einer Erklärung die PKK nicht mehr als Terroristen, sondern als Aktivisten bezeichnete. Das hat viel Aufsehen erregt, obwohl es noch nicht bedeutet, dass die PKK bereits von der `Terroristen-Liste` der EU gestrichen wäre.

Die Bundesregierung, die sich stets als friedensorientiert darstellt, muss nun beweisen, dass sie Türken und Kurden in ihrem aktuellen Bemühen um eine politische Lösung unterstützt, indem sie sich dafür einsetzt,

dass die PKK von der `Terroristen-Liste` der EU gestrichen wird;

dass jegliche Verfolgung von PKK-nahen Organisationen in der Bundesrepublik, ihre Verurteilung aus politischen Gründen und Abschiebungen in die Türkei beendet werden;

dass bereits erfolgte Verurteilungen aus politischen Gründen in Deutschland aufgehoben werden.

Alle Parteien des Bundestages sind aufgefordert, in diesem Sinne sich mit Anträgen und Stellungnahmen zu Wort zu melden, damit der so bedeutungsvolle Versuch in der Türkei, endlich ein friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zu erreichen, tatsächlich gelingt.

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Krisen und Kriege