Lockerungsübung für den Dialog

von Mehmet Sahin
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Kurdische wie türkische Gruppierungen haben sich oftmals starre, festgelegte Bilder von der eigenen und der anderen Seite gemacht. Dabei kommt die andere Seite meist schlechter davon, während die eigenen Untugenden mit verständnisvollem Wohlwollen als geringfügige Entgleisungen eher milde beurteilt werden. Um sich gegenseitig besser zu verstehen, ist es daher nützlich, in die Rolle des anderen zu schlüpfen und die Situation mit seinen Augen neu zu bewerten. Das Angebot zu solchem Tun schockiert in aller Regel die andere Seite. Doch ist ein solcher Sichtwechsel wirklich unzumutbar? Oder bietet er nicht geradezu eine Chance, die je eigene Begrenztheit der Sichtweise aufzubrechen?

Der türkische Journalist Ahmet Altan hat einen solchen Versuch gewagt, und bekam sogleich den Unwillen der im "Rollenspiel" verunsicherten Seite zu spüren. Er hatte den im folgenden abgedruckten Artikel mit der Überschrift "Atakürt" am 17.4. 1995 in der Tageszeitung Milliyet veröffentlicht. In ihm versucht er zu beschreiben, was sich ereignet hätte, wenn der "Vater der Türken" (Atatürk) ein "Vater der Kurden" (Atakürt) gewesen wäre, und das Schicksal des ganzen Landes nach dem Muster der türkischen Regierungspolitik bestimmt hätte. Im türkisch-nationalistisch gestimmten Ankara waren politische Lockerungsübungen jedoch nicht angesagt. Ahmet Altan wurde noch am gleichen Tage gefeuert und sein "Fall" an die "Hüter der Demokratie" weitergeleitet.

Der Artikel hat folgenden Wortlaut:

Wäre Mustafa Kemal ein osmanischer Pascha gewesen, der in Mossul anstatt in Tessaloniki geboren wäre, und hätte er nach dem von Türken und Kurden gemeinsam geführten Freiheitskrieg als treibende Kraft der Republik den Namen "Republik Kurdei" gegeben, hätte er dann noch durch Parlamentsbeschluß den Beinamen "Atakürt - Vater der Kurden" angenommen ...

Wenn - weil die Bürger der Republik Kurdei "Kurden" genannt worden wären - wir alle als Kurden bezeichnet würden, wenn am Taksim, in Kadiköy, am Kizilay und am Kordon (Platz und Stadtteil in Istanbul, Verkehrsknotenpunkt in Ankara, Meeruferstraße in Izmir, d.Red.) Spruchbänder hängen würden mit der Aufschrift "Glücklich, wer sagen kann, ich bin Kurde ..."

Wenn behauptet würde, daß jeder Kurde sei, da es in der "Kurdei" keine Türken gäbe, und diejenigen, die sich selbst für Türken hielten, eigentlich "Meer-Kurden" seien ...

Wenn wir lesen würden, daß Kurden eine "siebentausendjährige Geschichte" haben, daß die Kurden die eigentlichen Herren Anatoliens seien, daß die eigentlichen Vorväter der Mongolen, Hunnen, Etrusker Kurden waren, wenn wir im Unterricht von den Heldentaten der kurdischen Paschas in der osmanischen Zeit hören würden ...

Wenn Namen wie Teoman, Cengiz, Atilla, Osman verboten wären und wir gezwungen würden, Namen wie Berfin, Beruj, Tiruj, Newruz anzunehmen ...

Wenn die Ausstrahlung von türkischen Fernsehprogrammen verboten wäre und nur Sendungen in Kurdisch produziert würden ...

Wenn wir gezwungen wären, unsere Romane, Geschichten, Gedichte in Kurdisch zu schreiben, nur kurdische Lieder hörten und kurdische Zeitungen herausbrächten ...

Wenn in unseren Schulen nur in kurdischer Sprache gelehrt und das Lernen und Lehren in Türkisch verboten wäre ...

Wenn wir ohne viele Fragen in die Gefängnisse geworfen würden, weil wir sagten: "Wir sind Türken, wir haben eine Geschichte, eine Sprache ..."

Wenn wir in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Edirne ständig von der Polizei überwacht würden, wenn "Spezialeinheiten" uns verdächtigten, die "Republik Kurdei" zerschlagen zu wollen, "Separatisten" zu sein und uns deshalb ständig wie "Straftäter" behandelten, wenn wir beleidigt würden, einfach deshalb, weil wir Türken sind ...

Wenn nach dem 12.-September-Putsch alle Gefängnisse in den westlichen Regionen überfüllt wären, unglaubliche Foltermethoden angewendet würden, Zellen errichtet würden, die bis zum Dach im Schlamm versinken, unsere inneren Organe durch Wasserhochdruck beschädigt würden, wilde Hunde auf uns gehetzt würden, die unsere Beine zerfetzten ...

Wenn unsere Häuser überfallen, unsere Wohnungen niedergebrannt würden, weil wir angeblich die "türkischen Terroristen" unterstützt haben, wenn wir, ehe wir auch nur ein paar Sachen packen können, aus unseren Häusern gejagt würden, nach Diyarbakir, nach Hakkari vertrieben würden und gezwungen wären, dort in Zelten zu leben ...

Würden wir Türken das mitmachen? Würden wir es für einen Ausruck von Gerechtigkeit halten, wenn man uns sagte: "Als Bürger der Republik Kurdei ist doch jeder von Ihnen Kurde, warum klammern Sie sich da außerdem noch an das Türkisch-sein, Sie können sogar Ministerpräsident werden, wenn Sie wollen?"

Oder würden wir auf unserer türkischen Identität bestehen, auf unserer Sprache, unserer Kultur, und darauf, als "gleichberechtigte" Bürger dieses Landes anerkannt zu werden?

In diesem Land gibt es türkische und kurdische Staatsbürger und die Geschichte ist entlang der "türkischen" Linie verlaufen. Wir verlangen heute von den Kurden, zu akzeptieren, was wir als "Türken" nicht akzeptieren würden, und diese unangemessene Forderung hat schließlich zu einer Explosion geführt, hat das Land zuerst in den Terror geführt und schließlich in einen Bürgerkrieg.

Menschen, die glauben, daß dieses blutige Chaos mit "Demokratie" und mit der Anerkennung der "Identität" der kurdischen Bürger zu beheben ist, hören, wenn sie diese Gedanken zur Sprache bringen, immer die gleiche Frage von den Sympathisanten unserer Staatsführung: "Was soll das sein, eine demokratische Lösung, eine kurdische Identität?

Demokratie bedeutet zu akzeptieren, daß das, was wir wollten, wenn wir als Türken in einer "Republik Kurdei" lebten, daß diese Forderungen heute von den Kurden zur Sprache gebracht werden.

Vergießen wir dermaßen viel Blut nur deshalb, um Menschen nicht zu geben, was wir für uns selber fordern würden, nämlich zu akzeptieren, daß sie die gleichen Rechte haben wie wir? Lohnt es sich dafür, das Land in eine Sackgasse zu treiben?

Zu sagen, "Das ist es nicht wert", das eben bedeutet, Demokratie zu wollen.

 

Soweit der Wortlaut des Artikels. Den "Atakürt" hat es, der Geschichte sei Dank, nicht gegeben. Welche Vorwürfe müßten sich die Kurden sonst heute machen lassen! Ihr, liebe Dialog-PartnerInnen, dürft jetzt wieder aus der Euch fremden Rolle aussteigen, aber Ihr dürft diese Rolle nicht vergessen, wenn das Verhältnis zwischen Türken und Kurden im Sinne guten und freundschaftlichen Zusammenlebens in gegenseitiger Achtung gestaltet werden soll.

Mehmet Sahin, selbst kurdischer Herkunft, engagiert sich im "Dialogkreis" wie mit Hilfsaktionen und türkisch-kurdischen Friedensinitiativen für eine politische Lösung des Krieges in der Türkei

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