„Von der Angst befreit haben mich die Begegnungen mit Hunderten von Palästinenser*innen“

Machsom Watch wird 20 Jahre alt

von Johannes Zang

„Meine Kinder glauben, dass ich keine gute Patriotin bin“, erzählt Ronny Perlman. Sie und ihre Söhne wählen dieselbe Partei. Keinerlei Verständnis haben die Offiziere jedoch für den Menschenrechtseinsatz der Mutter. „Leider kann ich meine Erfahrungen nicht einmal meinen Söhnen vermitteln. Da ist eine Mauer zwischen uns.“ All das schmerzt die 76-jährige israelische Jüdin. „Dabei tue ich meinen Dienst bei Machsom Watch aus Patriotismus, aus Liebe zu meinem Volk und Glauben“, versichert sie. „Wir Frauen tragen zum guten Ruf Israels bei. Wir sind es, die unserer Gesellschaft, die am Abgrund steht, zurufen: Geht bitte nicht weiter!“

Vor 20 Jahren, im zweiten Volksaufstand (Intifada) der Palästinenser gegen die Besatzungsmacht Israel gründeten drei Jüdinnen Machsom Watch (M. hebr. Kontrollpunkt), darunter auch Ronny Perlmans Vornamensvetterin Hammerman. Sie waren überzeugt, jemand müsse beobachten und dokumentieren, was an den israelischen Armee-Kontrollpunkten geschehe und notfalls einschreiten. Damals gab es zeitweise über 700 Hindernisse, bemannte und unbemannte, an der Grenze zu Israel und zwischen zwei palästinensischen Dörfern im West-Jordanland, das etwa halb so groß wie Oberösterreich ist. Ronny Hammermans Urteil: „Die Kontrollpunkte selber sind eine Menschenrechtsverletzung.“ Ihre damalige Kritik richtete sich vor allem an interne Kontrollpunkte wie etwa den zwischen der palästinensischen Stadt Nablus und seiner Vorstadt Huwwara. Solche Hindernisse, genau wie auch manche Mauerabschnitte, trennen Palästinenser*innen von Landsleuten.

In den ersten zwei Jahren gewann die Organisation etwa 500 Frauen dazu. Immer zu zweit beobachten sie das Prozedere an bemannten Kontrollpunkten, verfolgen Anhörungen vor dem Militärgericht oder halten sich vor israelischen Gebäuden in den besetzten Gebieten auf, in denen über Passierscheine – Reisegenehmigungen – entschieden wird. Dort können sie Palästinenser*innen bei ihren Anträgen helfen, und sei es nur als Dolmetscherinnen. An ihren Jacken oder Blusen ist das Logo der Organisation angebracht, das Beobachtungsauge. Daneben steht auf Hebräisch, Arabisch und Englisch: „Frauen gegen die Besatzung und für Menschenrechte“.

Manche Frauen arbeiten zuhause und schreiben Emails an die „israelische Zivilverwaltung“ oder „Bezirkskoordinationsstelle DCO“. Ihr Anliegen: Dass diese Stellen den Sicherheitsstatus eines Palästinensers auf der „schwarzen Liste“ überprüfen und ihn im Idealfall von der Liste streichen. Erst dann kann mit Erfolg rechnen, wer einen Passierschein-Antrag stellt. Allein zwischen 1. März und 5. April 2020 „flossen 410 Emails hin und her“, heißt es im Frühlings-Newsletter 2020 der Organisation.

Für Aktivistin Tal Haran haben „99 Prozent der Kontrollpunkte nichts mit Sicherheit zu tun“. Aus Gesprächen mit Palästinenser*innen weiß die Frau aus Tel Aviv nur zu gut: „So viele Palästinenser*innen leben eine halbe Stunde von hier und haben das Mittelmeer noch nicht gesehen.“

„Du siehst einen potentiellen Terroristen und ich sehe einen müden Mann“
Zurück zu Ronny Perlman: Über 15 Jahre stand die fließend Hebräisch, Tschechisch, Englisch, Deutsch und etwas Arabisch sprechende Jüdin Sonntag für Sonntag zwischen drei und vier Uhr morgens auf. Um fünf Uhr begann ihr Dienst am bemannten und massiv gesicherten Kontrollpunkt Qalandyia zwischen Jerusalem und Ramallah. Anfangs hatte sie „Angst vor dem Fremden, dem Palästinenser“. Ihre Angst fiel allmählich ab. „Von der Angst befreit haben mich die Begegnungen mit Hunderten von Palästinenser*innen am Kontrollpunkt.“

Vieles haben ihre Augen am Nadelöhr Qalandyia gesehen: Soldaten ignorieren die Wartenden. Palästinensische Frauen gehen nachts über Felder, an den Kontrollpunkten vorbei, um ihre Arbeitsstelle in Jerusalem rechtzeitig zu erreichen. Und immer wieder sah sie 18-, 19-jährige Soldatinnen und Soldaten „aus einfachen Schichten, von ganz unten; man trichtert ihnen ein, dass Palästinense*innenr kontrolliert werden müssen“. Für sie kommt das einer „Gehirnwäsche“ gleich. Immer wieder suchen sie und ihre Kolleginnen das Gespräch mit den Soldaten.  „Manchmal sage ich Sätze wie: Du siehst einen potentiellen Terroristen und ich sehe einen müden Mann.“ Ihre Erfahrungen in Qalandyia lassen sie schlussfolgern: „Damit quält man die Bevölkerung.“ Israels Politik in den besetzten Gebieten nennt sie „Apartheid.“

Frau Perlman ist mittlerweile nach Tel Aviv gezogen und hat deshalb nun einen neuen Einsatzort: eines der landwirtschaftlichen Tore an der Mauer, durch die palästinensische Bauern und Bäuerinnen mit Passierschein zu bestimmten Zeiten ihre Äcker oder Plantagen westlich der Barriere erreichen können.

Die mittlerweile nur noch 150-200 Frauen – manche sind verstorben, andere aus Altersgründen ausgeschieden, einige vielleicht auch aus Frustration – sind fast alle jenseits der 60. Finanzielle Unterstützung erhalten sie vor allem aus dem Ausland, unter anderem vom „Weltgebetstag der Frauen / Deutsches Komitee e.V.“. Projektreferentin Carola Mühleisen erklärt die Motivation: „Der Weltgebetstag steht an der Seite von Frauen, die sich gegen Gewalt, Ausgrenzung und Benachteiligung engagieren.“ Bereits zweimal wurden sie in Deutschland ausgezeichnet, mit dem Aachener Friedenspreis und der Hermann Maas-Medaille, letztere wegen des Engagements „für Versöhnung und Verständigung zwischen zwei Nationen und Religionen.“

Abriss von Häusern im Schatten von Corona
Coronabedingt haben die Frauen ihr Engagement ausgeweitet. Über Webinare informieren sie interessierte Landsleute und Friedensaktivist*innen weltweit: über ihren Dienst an Kontrollpunkten und in israelischen Militärgerichten und zuletzt über die „Krise im Jordantal und in den Bergen südlich von Hebron“. „Krise“ bezeichnet die deutliche Zunahme an Haus-, Hütten- und Zeltabrissen, die Zerstörung einer Wasserleitung und „EU-gesponserter Strukturen“ durch Israels Armee in jüngster Zeit. „Dies ist die größte Abriss-Welle im besetzten Jordantal seit Langem.“ So hieß es schon Tage vor dem Webinar in einer Emailbotschaft der Frauen in flehentlichem Ton an Journalist*innen und Diplomat*innen in Israel: „Es ist äußerst dringend, dass die, für die menschliches Leben einen hohen Stellenwert hat, eingreifen, um dieses Verbrechen gegen die ärmsten Bewohner*innen dieses Gebietes zu verhindern, die ohnehin unter harschen Bedingungen leben.“ Druck der Staatengemeinschaft sei die „einzig verbliebene Hoffnung für diese palästinensischen Orte im Jordantal“.

Daphna Banai hat schon Hunderte Abrisse miterlebt, berichtet sie im Webinar und zeigt Fotos. „Es bricht mir jedes Mal das Herz.“ Oft hat sie in den Augen der plötzlich Obdachlosen „Leid, Qualen und Zorn“ gesehen. Beim Gedanken an eine bestimmte Familie sagt sie: „Die ist gebrochen, ihr Wille zu kämpfen ist gebrochen.“ Innere Kämpfe bereitet ihr der Gedanke: „Mein Volk zerstört ihre Welt.“ Mit ihrer Ohnmacht bleibt sie alleine, auch ihre Kinder möchten nichts von ihrem Engagement hören, ähnlich wie bei Kollegin Perlman. Die übrigens hofft insgeheim auf ein Wunder. „Denken Sie an Nelson Mandela oder den Fall der Berliner Mauer. Das war doch die totale Überraschung. Es muss sich hier bald das Blatt wenden.“

Info
https://machsomwatch.org/en (siehe dort u.a. die jüngsten Webinare)
Buch: Yehudit Kirstein Keshet: Checkpoint Watch. Zeugnisse israelischer Frauen aus dem besetzten Palästina, Nautilus, 2007

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Rubrik

Friedensbewegung international
Johannes Zang (Jg. 1964) hat insgesamt fast 10 Jahre in Israel und den Besetzten Gebieten gelebt. Er arbeitet als Pilgerführer im Heiligen Land, freier Referent und Journalist und lebt bei Aschaffenburg. Aktuelles Buch: Begegnungen mit Christen im Heiligen Land, Echter, Würzburg.