Buchbesprechung: Revolutionstagebuch 1919 von Victor Klemperer

„Man möchte immer weinen und lachen in einem“

von Renate Wanie

Auch das Jahr 2018 hält wieder Jahrestage bereit, z.B. die Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Da kommt die Veröffentlichung der Büchergilde mit dem „Revolutionstagebuch 1919“ von Victor Klemperer gerade recht. Klemperer notiert in präziser Sprache seine Beobachtungen in München nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem Zeitraum, in dem ein entscheidender Wendepunkt deutscher Geschichte geschieht: Eine Revolution, aus der die erste deutsche parlamentarische Demokratie hervorging, die Weimarer Republik, das Frauenwahlrecht und auch der 8-Stundentag. Zugleich kündigte sich aber bereits das Unheil der 30er-Jahre an, worauf Wolfram Wette in seinem historischen Essay am Ende des Buches hinweist.

Der 34-jährige Victor Klemperer, habilitierter Romanist und Germanist - bereits bekannt und geschätzt durch die Veröffentlichung seiner zwei Tagebücher 1933-1945 (1) -, kehrt nach Ende des Krieges im November 1918 aus der von deutschen Truppen besetzten litauischen Stadt Wilna nach München zurück. Mitte Dezember meldet er sich formal korrekt vom Wehrdienst ab, was ihm den Einstieg ins zivile Leben, z.B. mit Lohn und Lebensmittelkarten, erleichterte. Im Revolutionstagebuch vermerkt er: „Nun konnte ich für ein paar Wochen und auf die alte Art und im alten Kreise und doch besser als zuvor leben (…) und die Revolution sollte mich nicht stören. Ich wollte arbeiten, nichts als arbeiten.“ (S. 21) Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst plante er die Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit als Privatdozent für moderne französische Literatur an der Ludwig-Maximilian-Universität.
Doch schon bald merkte er im Alltag, dass die Revolution sich nicht ausschalten ließ. „Am Morgen erzählte mir der Friseur, wie viele Gewehre er, das Stück für zehn Mark, von Soldaten gekauft habe, die auf eigene Faust abrüsteten, und wie er die Waffen bequem um den doppelten Preis loswerde.“ (S. 22) Sich auf das private und zivile Leben zu konzentrieren war das eigentliche Vorhaben von Klemperer und seiner Frau Eva. Doch in dieser Zeit des Umbruchs drängte sich die die Politik immer wieder in sein Leben. Er notiert, „Dort, wo früher die Heeresberichte hingen, klebte jetzt eine Bekanntmachung, die mit dem unnachsichtlichen Gebrauch gegen jeden Ordnungsstörer von rechts oder links drohte.“ Klemperer beschreibt die traubenförmigen Gruppen „mitten auf dem Fahrdamm“ und auf den Plätzen, „in der Mitte wurde diskutiert, vom Rand her reckten sich die Köpfe dem Zentrum zu.“ (S. 29) und führt uns so durch die Wirren dieser bewegten Münchener Tage.

Rätebewegung, Versammlungen und Demonstrationen
Klemperer sucht immer wieder stürmische Versammlungen an der Universität auf und sah sich ebenso öffentliche Demonstrationen an: „Der Marsch der (Arbeiter)Bataillone war gut, soweit es nicht Soldaten waren, die marschierten. (...) Bei den Nachmittagsdemonstrationen war ich überzeugter als je, dass es nicht ernst werden würde. Welch ein Volksfest. Vormittags waren ein paar Tausend defiliert, jetzt zog eine große Masse durch die Ludwigsstraße mit einer Unzahl flatternder roter Fahnen, Bewaffnete und Unbewaffnete. Männer und Frauen, Mädchen und Jungen, und alle so lustig plaudernd und aus Leibeskräften mitschreiend, wenn die Ordner ein Hoch auf die Räterepublik ausbrachten, und noch seliger brüllend, wenn es ein „Nieder!“ war. „Nieder mit den Hohenzollernsozialisten!“. Sie warfen die Arme hoch, und ganz Verwegene schwenkten die Gewehre über den Köpfen. Und dann wurde gesungen und dann wieder geplaudert – nein, es war würde nicht ernst werden, es war bloß ein Spiel“ (S. 147), so Klemperers Sicht auf das Geschehnis, das ihn sogar zum Vergleich mit einem „politischen Fasching“ verleiten ließ.
Und er verfolgt auch gewaltsame Auseinandersetzungen in der Stadt und nimmt mit  Erstaunen die heftige, ja heroische Gegenwehr von AnhängerInnen der Räterepublik gegenüber den überlegenen Regierungstruppen wahr. Aus nächster Nähe beobachtet er die führenden Mitglieder der Rätebewegung wie Kurt Eisner, seit 1915 Pazifist und Ministerpräsident bis zu seiner Ermordung im Februar 1919, Erich Mühsam, Mitglied des Zentralrates der „Räterepublik Baiern“ und Max Levien, Mitbegründer der KPD in München, und porträtiert sie.
Fotos der politischen Protagonisten sowie die Demonstrationen in München sind in der Mitte des Buches abgebildet. Vereinzelt aufgenommen sind ebenso Auszüge aus Klemperers journalistischen Zeitberichten in den Leipziger Neuen Nachrichten, eine konservative und konterrevolutionär eingestellte Zeitung.
Klemperer begleitet einen Freund, der mit Eisner sympathisierte, zu politischen Veranstaltungen in übervollen Sälen. So auch an einem literarischen Abend des „Politischer Rat geistiger Arbeiter“ zum Thema „Revolution und Nächstenliebe“, in dem über den Bürger gesprochen wurde, der sein Portemonnaie öffnen müsse und freiwillig auf die Vorteile des Besitzes, der Bildung, des Lebens in Schönheit verzichten. In Klemperers Kommentar scheint der Literat durch: „Es war doch nur eine schöne oratorische Übung …, es war Literatur (…) Und keine politische Arbeit.“ Etwas später vergleicht er die Münchener Räterepublik mit anderen Revolutionen, wo die Führer z.B. aus Fabriken und Redaktionsschreibstuben auftauchten, „in München sind sie vielfach aus der Bohème gekommen.“ Bestätigt sieht er seine Gedanken bei dem Ausruf von Eisner bei einer großen Versammlung, den Münchnern ginge es nicht primär um Politik, sondern um Unterhaltung: „Ich bin ein Phantast, ein Schwärmer, ein Dichter!“
Ebenfalls mit scharfem Blick versteht es Klemperer, die Theatralik der Situation einprägsam zu vermitteln und schildert das Einrücken der Truppen bei der Zerschlagung der Räterepublik in der bayerischen Hauptstadt: „Ein ganzes Fliegergeschwader kreuzt über München, das Feuer lenkend, selber beschossen, Leuchtkugeln abwerfend; (…) immerfort krachend Minen und Granaten, daß die Häuser beben, ein Sturzregen aus Maschinengewehren (…) Infanteriefeuer knattert daneben.“ Und am Boden: „Und dabei marschieren, reiten immer neue Truppen mit Minenwerfern, Geschützen, Fouragewagen, Feldküchen durch die Ludwigstraße, bisweilen mit Musik.“ Und er beobachtet wieder die Trauben von ZuschauerInnen: „Und an allen Ecken, wo man gedeckt ist und doch Ausblick hat, drängt sich das Publikum, häufig das Opernglas in der Hand.“

Antisemitismus
1903 vom Judentum zum Protestantismus übergetreten, um unter Druck seiner Familie Reserveoffizier werden zu können, verfolgte Klemperer antisemitische Tendenzen besonders aufmerksam. Ihm bleibt nicht verborgen, dass sich z.B. bei Studierenden und Freikorpssoldaten antisemitische Einstellungen gegenüber den Revolutionären zeigten. Tatsächlich waren viele der führenden Akteure jüdischer Herkunft. Die Gegenrevolution machte sie zum Sündenbock für alles in jener Zeit. In seinem historischen Essay spricht Wolfram Wette von der wichtigen Erkenntnis: „Deutschvölkische und Nationalisten, die 1918/19 die Gegenrevolution verkörperten, schmiedeten bereits zu dieserZeit das Feindbild des ‚jüdischen Bolschewismus‘, das 1941 als propagandistische Begleitmusik zum Krieg der Deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion eingesetzt wurde.“ (S. 213) In München gibt der Eisner-Mörder Graf Arco auf Valley zur Rechtfertigung seiner Mordtat an, dass Eisner Jude sei und kein Deutscher, nicht Deutsch fühle und deshalb ein Landesverräter sei. Persönlich habe er nicht unter dem latenten Antisemitismus gelitten, aber „bedrückt und isoliert“ fühlte sich Klemperer schon. Passagen seiner Tagebücher aus der NS-Zeit 1942 sind eingefügt, in denen er sich an den zunehmenden Antisemitismus von 1919 erinnert.  
Aus diesem äußerst spannenden Revolutionstagebuch eines humanistischen, eher konservativen und selbstkritischen Chronisten deutscher Geschichte gäbe es noch viel mehr zu besprechen, hier kann nur neugierig gemacht werden. Der Historiker Christopher Clark (2) spricht in seiner Einführung von einer „unentbehrlichen Lektüre“. Wer mehr über die deutsche wirklich revolutionäre Zeit am Beginn der Weimarer Republik erfahren möchte, geschrieben in sprachlich brillanten und präzisen Schilderungen, möge diese Veröffentlichung unbedingt erwerben. Es lohnt sich.

Anmerkungen
1 Bekannt und geschätzt ist er bereits durch die Veröffentlichung seiner zweibändigen Tagebücher: Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. Aufbau Verlag,  1995, 4. Auflage
2 Clark, Christopher: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Deutsche Verlagsanstalt, München 2013, 2014 in 10. Auflage

Klemperer, Victor (2015): Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Aufbau Verlag, Lizenzausgabe für die Büchergilde, ISBN 978-3351035983, 11,99 €

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