Eine Kritik des Verfassungsentwurfs von der Euromemorandumgruppe

Mehr Demokratie und weniger Maastricht benötigt

von attac Deutschland

Die Euromemorandum Gruppe ist ein Zusammenschluss europäischer Wirtschaftswissenschaftler, die jedes Jahr ein Memorandum zur Wirtschaftspolitik der EU herausgeben. Viele der deutschen Mitglieder sind auch im wissenschaftlichen Beirat von attac-Deutschland. Wir dokumentieren das Dritte Kapitel des diesjährigen Euromemos "Vollbeschäftigung, Wohlfahrt und ein starker öffentlicher Sektor - Demokratische Herausforderungen in einer erweiterten Union", das sich mit der Verfassung auseinandersetzt. Das vollständige Euro-Memorandum kann über die Internetseite der Gruppe http://www.memoeurope.unibremen.de heruntergeladen werden.

Die EU berät - und verhandelt erneut - den Verfassungsentwurf, den der Europäische Konvent erarbeitet hat. (...) Obwohl wir anerkennen, dass der Entwurf einige progressive Elemente aufweist, ist es unsere Ansicht, dass er sehr unzureichend ist, erstens in Bezug auf den demokratischen Charakter der Institutionen und der Entscheidungsprozesse, und zweitens im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitiken, in dem er das Design der Verträge von Maastricht und Amsterdam reproduziert, das wir wiederholt kritisiert haben. Diese Verfassung ist kein Schritt vorwärts in Richtung eines sozialen Europas.

Im Hinblick auf den demokratischen Charakter der Union sehen wir in dem aktuellen Entwurf etwas Fortschritt, aber auch einige große Mängel. Wir begrüßen den Vorschlag, dass die Grundrechtscharta Bestandteil der Verfassung sein wird. Wir begrüßen auch die Tatsache, dass der Entwurf die Anzahl der Ratsverfahren, bei denen Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit stattfinden, erhöht wurde, sowie die Zahl der Verfahren, die eine Mitentscheidung des Europäischen Parlaments benötigen, verdoppelt wurden. Durch die Abschaffung der Unterscheidung zwischen obligatorischen und nicht-obligatorischen Ausgaben im EU Haushalt erreicht das Europäische Parlament eine endgültige Mitentscheidungskompetenz über den gesamten Haushaltsbereich. Dies sind fortschrittliche Bestimmungen. Auf der anderen Seite bleibt der grundsätzliche Demokratiemangel bestehen, dass dem Europäischen Parlament noch immer zwei Zuständigkeiten fehlen, die für ein jedes demokratische Parlament grundlegend sind: Es hat kein Recht, eine EU Gesetzgebung einzuleiten, und es hat kein Recht, den Präsidenten der europäischen Exekutivmacht, der Europäischen Kommission, auszusuchen. Obgleich es formell den Kommissionspräsidenten wählt, ist dies in Wirklichkeit nichts weiter als eine Formalität, da es der Europäische Rat ist, der den jeweiligen Kandidaten vorschlägt und das Parlament diesen Vorschlag lediglich nur akzeptieren oder ablehnen kann. Aus unserer Sicht sollte der Entwurf nicht versuchen, jedwede "Politisierung" der Europäischen Kommission zu vermeiden; der Kommissionspräsident sollte von der politischen Mehrheit im Europäischen Parlament kommen, welche sich in den Ergebnissen der verschiedenen europäischen Wahlen ausdrückt. Solch Politisierung ist der Kern des demokratischen Prozesses. Die Abwertung der Wahl des Kommissionspräsidenten auf der Ebene des Europäischen Parlaments zu einer Bestätigung eines anderweitig ausgesuchten Kandidaten läuft auf andauernde Kritik oder zumindest Misstrauen gegenüber allen europäischen demokratischen Strukturen und Vorgängen hinaus - und sie ist ein Tatbestand, den die EU zu recht in anderen Teilen der Welt kritisiert.

Wir sind auch über den ansteigenden Grad der Militarisierung besorgt, den der Entwurf ins Auge fasst. Er unterstützt die Einrichtung eines Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten und verpflichtet die Mitgliedstaaten "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Diese Vorkehrungen (Artikel I-40, Artikel III-210 bis III-214 zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik) tendieren dazu, die Union in Richtung einer erhöhten Abhängigkeit von militärischen Mitteln zur Konfliktlösung oder zum Schutz und zur Durchsetzung der angeblichen "strategischen Interessen" der Union zu treiben. Wir denken, dass dies eine politisch gefährliche Entwicklung wäre. Abgesehen davon wird die Orientierung auf eine Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu höheren Rüstungsausgaben in Europa führen, und - wie die Erfahrung zeigt - wird ein erheblicher Teil einer solchen Erhöhung durch tiefe Einschnitte der Sozialausgaben und öffentlichen Investitionen der Mitgliedstaaten finanziert werden.

Als Netzwerk europäischer Ökonomen liegt unser Hauptaugenmerk auf Bestimmungen den Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken der Union. Trotz einiger ermutigender Bestimmungen hinsichtlich der Ziele der Union finden wir, dass dem Entwurf der nötige Fortschritt in Richtung eines sozialen Europas fehlt. Es ist nicht ausreichend - wie in Artikel I-2 - die traditionellen bürgerlich-demokratischen Werte der Französischen Revolution anzurufen (Respekt der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit). Die Prinzipien des Sozialstaates - Solidarität und soziale Verantwortung - und die jüngeren Werte der ökologischen Integrität unseres Planeten sollten ebenfalls in den Grundwerten und Zielen einer modernen Union enthalten sein. Dies ist nicht der Fall.

Wir begrüßen die Tatsache, dass "nachhaltige Entwicklung" und "ein hohes Niveau an Umweltschutz und Qualitätsverbesserung der Umwelt" als Ziele der Europäischen Union beibehalten wurden, die auf "ausgewogenem Wachstum basieren" (anstatt einfach "nicht-inflationärem Wachstum", wie in dem derzeitigen Vertrag). Wir begrüßen auch die Ziele "Gleichheit zwischen Frauen und Männern" und "Vollbeschäftigung und sozialer Fortschritt", wobei "Vollbeschäftigung" im Hinblick auf Arbeitsqualität näher spezifiziert werden sollte.

Trotz dieser positiven Bestandteile verbleibt dennoch ein starkes und schädliches Ungleichgewicht zwischen den Grundsätzen des Binnenmarktes und des freien Wettbewerbs einerseits und dem Bedürfnis nach demokratischen Politiken, die dem öffentlichen Interesse einschließlich der Bereitstellung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen dienen, andererseits: Während die ersteren die übergreifende Regel der europäischen Integration darstellen, spielen die letzteren - obgleich anerkannt - eine eindeutig minderwertige und untergeordnete Rolle. Wir halten dieses Ungleichgewicht für nicht gerechtfertigt und inakzeptabel. Daher empfehlen wir, dass die Ziele "effiziente und qualitativ hochwertige Sozialleistungen, öffentliche Dienstleistungen und Leistungen von allgemeinem Interesse" im Artikel I-3 aufgeführt werden sollten, wie von der Arbeitsgruppe "Soziales Europa" des Konvents gefordert. Wir betrachten zudem den Ersatz der derzeitigen Formulierung "ein hohes Maß an sozialem Schutz" (Artikel 2) durch die neue Formulierung "soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz" (Entwurf, Artikel I-3) als einen nicht hinnehmbaren Rückschritt, der dringend korrigiert werden muss.

Artikel I-14 betrifft die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitiken (durch die traditionellen Kanäle der Grundzüge der Wirtschaftspolitik (GWP) und der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS)) und öffnet die Tür für eine Koordinierung der Sozialpolitiken. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie wird nicht erwähnt. Hier hat der Konvent die Möglichkeit vertan, ausdrücklich einen kohärenten Entwurf für die Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken zu etablieren - der diesen gleichen Stellenwert gibt und einen Ausgleich zwischen sich widersprechenden Zielen schafft, statt den Grundzügen der Wirtschaftspolitik den Vorrang zu geben. (...) Beschäftigungspolitik zielt auf ein "hohes Beschäftigungsniveau" anstelle von Vollbeschäftigung ab; die GWP behalten ihren Vorrang vor der EBS. Die sehr restriktiven Vorgaben für die EZB und der Vorrang, der der Preisstabilität, den Defizitregeln und den Konvergenzkriterien der EWU usw. eingeräumt wird - alles bleibt unverändert. Die Position des Europäischen Parlaments in Fragen der sozial-ökonomischen Regierungsführung ("governance") ist so schwach wie zuvor: Es hat lediglich das Recht auf "Information" in Bezug auf die GWP und auf "Beratung" im beschäftigungs- und sozialpolitischen Koordinierungsprozess.

Auf Grundlage dieser kritischen Bewertung und der Empfehlungen unserer vorangegangenen Memoranden schlagen wir vor, das Ziel eines europäischen Gesellschaftsmodells in die derzeitigen Verhandlungen des Entwurfs einzubeziehen und folgende Veränderungen vorzunehmen, um einen Fortschritt in Richtung dieses Ziels zu ermöglichen.

Sozial- und wirtschaftspolitische Ziele:
Der Schutz der öffentlichen Güter und die Bereitstellung von qualitativ hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen und Dienstleistungen von allgemeinem (soziokulturellen sowie ökonomischem) Interesse sollten in den Zielen der Union enthalten sein (Artikel I-3); das öffentliche Interesse und demokratische Entscheidungsprozesse sollten als Leitlinien für die Bereitstellung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse Vorrang haben vor den Prinzipien des Binnenmarktes und der Wettbewerbsregeln (Artikel II-6);

  • Die Spezifizierung des Binnenmarktes in Artikel I-3 sollte geändert werden zu "ein Binnenmarkt mit einem hohen Grad an wirtschaftlicher Effizienz, einem angemessenen Wettbewerbsniveau, einem hohen Maß an sozialen Standards und Umwelt- sowie Verbraucherschutz";
  • "Vollbeschäftigung und hohe Qualität der Arbeit" sollte ein Ziel der Union sein (Artikel I-3) und im Teil III der Verfassung ausgeführt werden und den Begriff "hohes Beschäftigungsniveau" ersetzen (z.B. in den Artikeln III-99, III-103);
  • Das Ziel "hohes Maß an sozialem Schutz " sollte als Ziel wieder eingesetzt werden (Artikel I-3);
  • Die Ziele einer "sozialen Marktwirtschaft", "sozialer Fortschritt" und "ausgewogenes Wachstum" im Teil I sollten im Teil III ausgeführt werden und "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" ersetzen (Artikel III-69, III-70, III-77);
  • Die Verfassung sollte das Ziel der hohen sozialen Standards beinhalten und es sollte ausdrücklich erklärt werden, dass keine Maßnahme der europäischen Behörden die aktuellen sozialen Rechte in den Mitgliedstaaten einschränken kann.

Aus: Newsletter der eu-ag von attac, Dezember 2003

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