Menschenrechte in Algerien

von Driss El Yazami
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Für die Wahrheit, gegen die Straflosigkeit
Es ist legitim, sich darüber Gedanken zu machen, wo die Verantwortung für die Verbrechen in Algerien liegt. Die bewaffneten Gruppen beanspruchen für sich, im Namen des Islam zu töten. Doch hinter einer Fassade der Demokratisierung tötet auch der Staat, im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus ... Und die Gesetze, die eine Bestrafung verhindern, werden immer mehr.

Die Szene fand vor einigen Wochen in einem Gerichtssaal irgendwo in Algerien statt: ein Geschäftsmann, der seit über vier Jahren Schutzgelder an eine bewaffnete Gruppe entrichtet hat, wird wegen Unterstützung des "Terrorismus" zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Hauptbeschuldiger ist einer, der ausgestiegen ist, ein früherer Terrorist, der selbst Waffen getragen hat, höchstwahrscheinlich selbst getötet hat, und der heute mit den Sicherheitskräften zusammenarbeitet. Möglich ist das durch ein seit 1995 geltendes Gesetz, das "die Barmherzigkeit" genannt wird. Er kam als freier Mann in den Zuschauerraum und ging als solcher wieder, zu neuen "dreckigen Missionen". "Der Scharfrichter" geht mit einem Lächeln, als das Opfer in seine Zelle zurückgebracht wird. Der Fall des ruhigen, etwa fünfzigjährigen Händlers, dem man eine Pistole an die Schläfe gesetzt hatte, um Geld zu erpressen, ist bezeichnend für das, was in Algerien geschieht. Einem Land, in dem keine Logik erkennbar ist, in dem alle Werte durcheinandergeworfen werden.

Auf den ersten Blick ist dieser Fall weniger dramatisch als das, was die Bevölkerung von Ben Thela, Ra‹ss, Sidi Hamed, Relizane..., den mißhandelten Städten und Dörfern, erleben mußten. Aber für einen Algerier, der sich aktiv für die Menschenrechte einsetzt und der uns diese Informationen weitergegeben hat, ist diese Rechtsprechung genauso schlimm: "Dieser Richterspruch betrifft in der Tat die Tiefen der Person des verurteilten Händlers, denn er enthüllt die Züge einer Macht, die verurteilt anstatt zu beschützen. Er macht einen Helfer für die Justiz aus dem, an dessen Händen Blut klebt, und Schuldige aus seinen unschuldigen Opfern."

In der Tat konzentriert sich in diesem Vorfall symbolisch das, was Algerien seit bald sieben Jahren durchlebt, mit seinen Fälschungen, falschen Beweisen und seinen Wahrheiten, die unterschlagen werden oder die die Öffentlichkeit, insbesondere die französische, nicht sehen will. Am Beginn dieser Krise steht im Januar 1992 die Annulierung des zweiten Durchgangs der Wahlen einer gesetzgebenden Versammlung, der ersten demokratischen Wahl, die in dem Land seit der Unabhängigkeit stattfand. In einer Art verdecktem Staatsstreich wurde unter dem Vorwand, die Demokratie zu retten, dem Volk die Souveränität genommen.

Die massive Unterstützung der Kandidaten der Islamischen Heilsfront durch die am meisten benachteiligten Bevölkerungsschichten drückt demnach weniger die Zustimmung zu einem Projekt der "Volksverdummung" aus, als eine tiefe Ablehnung gegen die Politik und die Menschen, die das Land seit seiner Unabhängigkeit geleitet haben, ein Streben nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Diese Ablehnung trat auch während der Geschehnisse im Oktober 1988 zu Tage, als die algerische Jugend auf die Straßen ging und die politische Öffnung und das Ende des Einparteiensystems erzwang.

Die Schuldigen: die bewaffnetenstaatlichen Gruppen
Wie sieht die Bilanz dieses, wie man uns sagt, Kampfes gegen "die Feinde der Demokratie" seit Januar 1992 aus? Algerische und ausländische Journalisten sowie internationale Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte sehen sich in ihrer Untersuchungsarbeit zahlreichen, systematischen Schwierigkeiten und Fallen ausgesetzt. Trotz der Undurchsichtigkeit, die diesen beispiellosen Krieg umgibt, kennen wir doch eine Reihe von Fakten. Nach mehr als sechs Jahren Krieg wissen wir, daß sich bewaffnete Gruppen, die vorgeben, im Namen des Islam zu handeln, schlimmer Gewaltverbrechen und massiver Verletzungen der grundlegendsten Menschenrechte schuldig gemacht haben: Attentate, Massenmorde, Vergewaltigungen, Zerstörungen ... Darüber herrscht Übereinstimmung, auch wenn wir wissen, daß ihnen einige dieser Aktionen zu Unrecht zugeschrieben werden.

So wissen wir sicher, daß einige der Leute, die von Journalisten, AusländerInnen oder Intellektuellen für Attentäter gehalten und vor die algerischen Gerichte gebracht wurden, dank der Beweise, die die Anwälte konstruieren konnten, freigesprochen wurden. Das erklärt vielleicht auch, warum seit 1992 nicht ein unabhängiger Beobachter einem der zu Hunderten in Algerien stattfindenden Prozesse beiwohnen konnte. Auch wissen wir, daß sich die Sicherheitskräfte, und das ist eine der zumindest in Frankreich am meisten bestrittenen Tatsachen, ebenso schlimmer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben. Entführungen, systematischer Einsatz von Folter auch Minderjähriger, Vergewaltigung, außergerichtliche Hinrichtungen, das Verschwinden von Tausenden von Menschen... sind zu Alltäglichkeiten in Algerien geworden, und der Staat ist dafür verantwortlich.

Es ist klar, daß die Behörden innerhalb einiger Jahre eine Reihe von drastischen Gesetzen eingeführt haben, die die Freiheiten einschränken und die Menschenrechtsverletzungen erleichtern. Im Dezember 1991 trat eine Änderung des Gesetzes von 1989 über Versammlungen und Demonstrationen in Kraft, die seither eine vorherige Genehmigung durch den Präfäkten erfordern. Am 9. Februar 1992 wurde der Notstand verhängt. Dieser ist noch immer in Kraft und ermächtigt den Innenminister und die Präfekten, jeden in Sicherheitszentren in Verwahrung zu nehmen, dessen Aktivitäten sich als gefährlich für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen und Durchsuchungen Tag und Nacht durchzuführen ... Am 30. September 1992 werden durch das Dekret gegen Terrorismus und Unterwanderung drei spezielle Gerichte eingesetzt, die von anonymen Beamten gebildet werden. Diese verurteilen mehr als 10.000 Menschen und verhängen zwischen Februar 1993 und Juni 1994 1.127 Todesurteile.

Im Juni 1994 wird den Direktoren der Zeitungen ein Erlaß mehrerer Ministerien zugestellt, in dem ihnen mitgeteilt wird, daß eine "Zelle der Kommunikation zur Sicherheit" eingerichtet wurde, die allein berechtigt ist, Informationen in dieser Frage zu verbreiten. Außerdem werden ihnen genaue Direktiven für die Darstellung, die besondere Betonung und die Vermeidung bestimmter Themen übermittelt.

1997 - ein schreckliches Jahr
Am 25.2.95 werden die wichtigsten Ausnahmebestimmungen zum Anti-Terror-Dekret vom September 92 durch Anordnung ins Strafgesetz und die Strafprozeßordnung aufgenommen. Ebenso Bestimmungen, die die Rechte Minderjähriger ab 16 Jahren betreffen, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen, die Tag und Nacht stattfinden können, und eine Verlängerung des Polizeigewahrsams auf 12 Tage. Man könnte die Liste dieser Gesetze fortführen, die die Freiheit beschneiden bzw. die Verkettung der Gewalt verstärken, wie das Gesetz über die kommunalen Wachen (93) oder die Gruppen zur legitimen Verteidigung (Jan. `97). Allein das Jahr 1997 beschreibt diese Tragödie: in diesem Jahr litt die Zivilbevölkerung am meisten unter Gewalt, obwohl die Behörden letzte Hand legten an das, was sie "die Vollendung des institutionellen Gebäudes" nannten. Gemeint war damit die Einsetzung gewählter Gemeindeverwaltungen, eines Parlamentes mit beschnittenen Rechten und eines Senats hinter verschlossenen Türen. In allen diesen Versammlungen hat die RND (Rassemblement national démocratique / Nationaldemokratische Sammlungsbewegung - steht Präsident Zeroual nahe - fn), die weniger als vier Monate vor den Wahlen gegründet worden war, eine Mehrheit.

Aufgrund der Forderung einer internationalen Untersuchungskommission für die Verantwortlichen für die Massaker und Menschenrechtsverletzungen im vergangenen Sommer werden Leute aus Frankreich für einige Tage eingeladen. Die Besuche finden unter strenger Überwachung durch bewaffnete Eskorten statt, während Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, die für die Einhaltung der Menschenrechte eintreten und sich seit Jahren mit den Fällen befassen, die Einreise verweigert wird. Wieder zurück in Frankreich erklären uns diese neuen Freunde der Generäle, daß sie wüßten, wer an dem Töten beteiligt ist, während der Berichterstatter für die UNO, Herr N`Diaye, der die außergerichtlichen Hinrichtungen untersuchen soll, seit 1993 auf eine Erlaubnis zur Einreise nach Algerien wartet. Obwohl Algerien alle internationalen Verträge, die die Menschenrechte garantieren, unterzeichnet hat, weigert sich die Regierung, mit den Einrichtungen der UNO zusammenzuarbeiten, die im Hinblick auf diese Verträge gebildet wurden. Doch was die Besucher auch sagen mögen, die so leicht Einreisebewilligungen erhalten, der Kampf für die Wahrheit und dagegen, daß die Verantwortlichen für die Massaker und Menschenrechtsverletzungen ohne Strafe bleiben, ist nicht abgeschlossen, er beginnt erst.

Literatur: Livre blanc zur la répression en Algérie (1991-94), Plan-les-Ouates (Schweiz) 1995

Aus: Non-violence Actualit, Montargis, Frankreich, April 1998; Übersetzung: Helmut Landes.

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stellv. Generalsekretär der französischen Menschenrechtsliga (Ligue des Droits de l"Homme) und Mitglied der Untersuchungsmission der Internat. Vereinigung der Menschenrechtsligen