Menschenrechte und Menschenrechtsbildung

von Gert SommerJost Stellmacher

Am 10. Dezember 1948 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) ohne Gegenstimmen verabschiedet. Sie enthält 30 Artikel mit über 100 einzelnen Rechten. Diese thematisieren zum einen bürgerliche und politische Rechte (z.B. Folterverbot, Asylrecht, Diskriminierungsverbot, Meinungs- und Informationsfreiheit) und zum anderen wirtschaftliche, kulturelle und soziale Menschenrechte (z.B. Recht auf Arbeit, Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung, Recht auf Bildung). Wiederholt wurde von den Vereinten Nationen betont, dass die wirtschaftlichen und die bürgerlichen Rechte gleiche Bedeutung haben (sog. Unteilbarkeit). Die Menschenrechte sollen zudem für alle Menschen in allen Ländern gelten, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Nationalität oder Ethnie (sog. Universalität). Mit der AEMR sind für die nationale und internationale Politik wichtige Ziele formuliert worden: In der Präambel werden die Menschenrechte als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ bezeichnet.

Menschenrechtsbildung wurde in der AEMR als Menschenrecht definiert. Artikel 26 der AEMR besagt, dass die Ausbildung die „Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben“ soll. In dem von uns kürzlich veröffentlichten Buch „Menschenrechte und Menschenrechtsbildung“ haben wir anhand umfangreicher empirischer Studien aufgezeigt, dass die Menschenrechtsbildung in Deutschland große Defizite aufweist (vgl. Sommer & Stellmacher, 2009). Dies spiegelt sich vor allem im geringen und selektiven Wissen über Menschenrechte wider. Eine Ursache dieser Defizite ist u.a. die problematische Darstellung von Menschenrechten in Schulbüchern und in Massenmedien. Die zentralen Ergebnisse des Buches haben wir zu acht Thesen und Herausforderungen für zukünftige Menschenrechtsbildung zusammengefasst.

(1) Die ganze Breite von Menschenrechten lehren
Ein wichtiges Ergebnis eigener repräsentativer Studien in Deutschland ist, dass die Verwirklichung von Menschenrechten von der großen Mehrheit (mehr als drei Vierteln) als extrem wichtig erachtet wird (vgl. Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler, E., 2005). Das Paradoxe ist aber, dass kaum bekannt ist, was Menschenrechte tatsächlich sind. Im Durchschnitt können nur drei von über 100 Rechten der Allgemeinen Erklärung spontan genannt werden. Die kognitive Repräsentation von Menschenrechten bei der deutschen Bevölkerung scheint im Wesentlichen aus den folgenden Rechten zu bestehen:

  • Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit
  • Recht auf Leben
  • Menschenwürde sowie Gleichheit vor dem Gesetz
  • Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
  • Verbot der Diskriminierung
  • Verbot von Folter und grausamer Behandlung

Dieses Ergebnis zeigt eine Halbierung von Menschenrechten: Wenn Menschenrechte betont werden, dann sind dies bürgerliche und politische Rechte. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte werden weitgehend negiert.

Ohne konkretes Wissen über Menschenrechte bleibt aber die Aussage vieler, dass die Verwirklichung von Menschenrechten extrem wichtig sei, weitgehend eine Leerformel. Daher fordern wir im Sinne der Vereinten Nationen und der UNESCO, dass bei der Menschenrechtsbildung die gesamte Breite der Menschenrechte berücksichtigt werden muss.

(2) Menschenrechtsbildung in Schulen konsequent implementieren
Verschiedene Schulbuchanalysen zeigen auf, dass die eingesetzten Bücher für eine systematische Menschenrechtsbildung wenig geeignet sind (z.B. Druba, 2006). Nur selten werden Menschenrechte in Schulbüchern als wichtiges, eigenständiges Thema behandelt; etwa 30% der relevanten Schulbücher (Ethik, Gemeinschaftskunde, Geschichte, Religionslehre) behandeln Menschenrechte gar nicht. Obwohl die Kultusministerkonferenz der Länder wiederholt die Wichtigkeit der Implementierung von Menschenrechtsbildung an Schulen betont hat, ist deren Umsetzung bislang nicht zufriedenstellend. Dabei ist die Schule besonders wichtig für Menschenrechtsbildung (vgl. Forum Menschenrechte, 2006). Sie könnte den Heranwachsenden u.a. bei der Entwicklung ihres Wertesystems wichtige Orientierung geben. Bezüglich einer demokratischen Grundhaltung hat insbesondere die UNESCO zu Recht auf die Interdependenz von Menschenrechten, Demokratie und Frieden verwiesen.

(3) Dem Missbrauch von Menschenrechten vorbeugen
Wenn das Wissen über Menschenrechte nur schwach ausgeprägt ist, gleichzeitig aber die Verwirklichung von Menschenrechten als sehr wichtig erachtet wird, dann birgt dies die Gefahr von Missbrauch. Menschenrechte können als moralische Kategorie zur Intensivierung von Feindbildern und zur Diskreditierung politischer Gegner herangezogen werden. Dabei kann dies bis zur Legitimierung von Kriegen führen, wie z.B. im Jugoslawien-Kosovo-Krieg (1999) oder im dritten Golfkrieg (seit 2003). Mit dem Argument „Schutz von Menschenrechten“ wurden in diesen Fällen durch die Militärinterventionen selbst Menschenrechte in erheblichem Ausmaß verletzt (vgl. Becker & Brücher, 2002; Becker und Wulf, 2008). Einem solchen Missbrauch kann u.a. dadurch vorgebeugt werden, dass differenziertes Wissen über Menschenrechte und deren Auslegung vorhanden ist. Insbesondere sollten in diesem Zusammenhang auch die Grundsätze der Universalität und der Unteilbarkeit von Menschenrechten betont werden: Alle Menschen haben einen Anspruch auf Verwirklichung der Menschenrechte und alle Menschenrechte sind wichtig. Beim vorgeblichen Schutz von Menschenrechten ist also zu prüfen, in welchem Ausmaß dadurch andere Menschenrechte und die Menschenrechte anderer verletzt werden.

(4) Kritischen Umgang mit Menschenrechten lehren
Zum 40., 50. und 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärungen haben wir die Darstellung von Menschenrechten und Menschenrechtsverletzungen in deutschen Medien (Tages- und Wochenzeitungen sowie Fernsehnachrichten) untersucht. Die Ergebnisse dieser Medienanalysen zeigen zum einen die oben erwähnte Halbierung von Menschenrechten. Zum anderen neigen die Darstellungen dazu, westliche Staaten und deren Repräsentanten als Hüter der Menschenrechte zu präsentieren. Demnach werden Menschenrechtsverletzungen in erster Linie nicht-westlichen Regierungen zugeschrieben. Der Vorwurf, ein anderes Land oder System verletze Menschenrechte, impliziert die unangemessene Überzeugung, man selbst habe die Menschenrechte (hinreichend) verwirklicht. Alle Länder aber verletzen Menschenrechte in erheblichem Ausmaß. Daher plädieren wir für einen kritischen Umgang mit Menschenrechten und Menschenrechtsverletzungen besonders im eigenen Land.

Menschenrechtsverletzungen durch die deutsche Regierung oder durch deutsche Unternehmen müssen erkannt, benannt und bekämpft werden: z.B. Einschränkung der persönlichen Freiheiten besonders nach den Anschlägen vom 11.9.2001, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in deutschen Unternehmen im In- und Ausland, Rüstungsexporte insbesondere in Bürgerkriegsregionen, mangelnde gesellschaftliche Integration sozial schwacher Personen und eine menschenrechtsverletzende Flüchtlingspolitik. Dazu gehört auch eine Reflektion dessen, was das vorherrschende neoliberale Wirtschaftssystem im eigenen, aber auch in anderen Ländern bewirkt. Eine besondere Rolle bei der kritischen Reflektion im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land kommt Nicht-Regierungsorganisationen, Medien, und inzwischen auch dem Internet zu.

(5) Menschenrechtsbildung als Vermittlung von Wissen, positiven Einstellungen und Handlungskompetenzen
In verschiedenen Erklärungen von UNO und UNESCO wurden wiederholt drei zentrale Elemente der Menschenrechtsbildung betont: Die Vermittlung von Wissen über Menschenrechte, die Förderung einer positiven Einstellung zu ihnen und Förderung von Handlungskompetenzen zum Einsatz für Menschenrechte.

Wie oben aufgezeigt, ist Menschenrechtsbildung bislang wenig gelungen. In eigenen Evaluationsstudien von Menschenrechtsseminaren an der Philipps-Universität Marburg haben wir aber gezeigt, dass auch zeitlich sehr begrenzte Menschenrechtsbildung viel bewirken kann. Durch wenige Seminarsitzungen konnte nicht nur eine erhebliche Wissenssteigerung über Menschenrechte erreicht werden, es wurden auch die positive Bewertung und die Einsatzbereitschaft gesteigert. Das erstaunlichste Ergebnis war jedoch, dass auch die Fremdenfeindlichkeit der im Menschenrechtsseminar unterrichteten Studierenden gesenkt werden konnte (vgl. Stellmacher & Sommer, 2008). Menschenrechtsbildung scheint somit in der Lage zu sein, eine wichtige werte- und moralbezogene Sozialisation zu übernehmen.

(6) Bildungsmaßnahmen systematisch entwickeln und evaluieren
In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden viele konkrete Vorschläge zur Durchführung von Menschenrechtsbildungsmaßnahmen entwickelt (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, 2005; Benedek, 2009). Ein großes Defizit besteht allerdings darin, dass systematische Evaluationen der Maßnahmen weitestgehend fehlen. Die Darstellung unserer eigenen Evaluationsmaßnahmen hat gezeigt, dass solche fundierten Begleitstudien wichtige Erkenntnisse über die Wirkmechanismen der Maßnahmen erbringen können.

(7) Psychologische Aspekte stärken
Eigene Studien haben die Relevanz psychologischer Forschung für die Menschenrechtsbildung belegt. Es konnte z.B. gezeigt werden, dass wir alle dazu verführt werden können, in bestimmten Situationen Menschenrechtsverletzungen stärker zu tolerieren als in anderen. Zudem lehnen bestimmte Personen aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur, z.B. autoritäre Persönlichkeiten oder Personen mit ausgeprägtem Nationalstolz, Menschenrechte eher ab. Auf diesem Gebiet kann die psychologische Forschung noch wichtige Ergebnisse für die Menschenrechtsbildung erarbeiten.

(8) Menschenrechte als Prävention gewaltförmiger Konfliktaustragungen
Menschenrechte können als positive Definition von Frieden herangezogen werden. Menschenrechte haben die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse zum Ziel. Bereits Franklin D. Roosevelt betonte 1941 die Verwirklichung der folgenden vier Freiheiten als Grundlage für eine friedfertige Welt: Rede- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not - d.h. wirtschaftliche Sicherheit - sowie Freiheit von Furcht - d.h. Sicherheit vor militärischen Angriffen. Daher ist eine Politik, die die Verwirklichung von Menschenrechten anstrebt und zunehmend realisiert, eine friedenssichernde und konfliktpräventive Politik. Mit der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist historisch ein höchst bedeutsames Dokument entwickelt worden, das ein internationales Umdenken im Sinne der Menschenrechte auf lange Sicht gewährleisten kann. Mit ihr sind viele positive Entwicklungen angestoßen worden, auch wenn wir vom Ideal der vollkommenen Verwirklichung von Menschenrechten noch weit entfernt sind. Gerade deshalb muss aber nachhaltig gefordert werden, dass Menschenrechte eine grundlegende Leitlinie für politischen Denken und Handeln sein müssen – auch im eigenen Land.

 

Literatur
Becker, J. M. & Brücher, G. (2002). Der Jugoslawienkrieg – Eine Zwischenbilanz. Münster: Lit-Verlag.

Becker, J. M. & Wulf, H. (Hrsg.) (2008). Zerstörter Irak – Zukunft des Irak. Der Krieg, die Vereinten Nationen und die Probleme des Neubeginns. Münster: Lit-Verlag.

Benedek, W. (Hrsg.) (2009). Handbuch zur Menschenrechtsbildung, Menschenrechte verstehen. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag.

Forum Menschenrechte (Hrsg.) (2006). Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen. Berlin.

Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2005). Kompass – Handbuch zu Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Berlin: DIMR

Druba, V. (2006a). Menschenrechte in Schulbüchern. Frankfurt: Peter Lang.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler, E. (2005). Menschenrechte in Deutschland: Wissen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft. In S. Frech & M. Haspel (Hrsg.). Menschenrechte (S. 211-230). Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag.

Sommer, G. & Stellmacher, J. (2009). Menschenrechte und Menschenrechtsbildung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Stellmacher, J. & Sommer, G. (2008). Human rights education. Social Psychology, 39, 70-80

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Schwerpunkt
Gert Sommer ist pensionierter Professor für Klinische Psychologie; Ehrenvorsitzender des Forum Friedenspsychologie und Vorstandsmitglied bei Wissenschaft & Frieden und. Zahlreiche Publikationen zu Friedenspsychologie, insbesondere Feindbilder und Menschenrechte. Soeben erschien sein Buch (zusammen mit Jost Stellmacher) zu „Menschenrechte und Menschenrechtsbildung“.
Jost Stellmacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg und im Vorstand des Forum Friedenspsychologie. Wichtige Forschungsthemen sind Menschenrechte, Fremdenfeindlichkeit sowie jugendliche Gewalt.